Z Sex Forsch 2023; 36(01): 48-49
DOI: 10.1055/a-2015-5043
Bericht

Jahrestagung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft: Trans* 2022 –interdisziplinäre Perspektiven auf trans*

Alexander Röbisch-Naß
Institut für Psychologische Therapie Leipzig e. V.
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Der in Zusammenarbeit mit der Medizinischen und Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig initiierte Kongress am 18. Juni 2022 startete mit Ausführungen von Gem.-Päd. Mari Günther (Bundesverband Trans* (BVT*)) zu den Eckpunkten einer entpsychopathologisierten und partizipativen medizinischen Versorgung. In der Therapie sei es wichtig, die geschlechtliche Selbstaussage der Klient*innen ernst zu nehmen, aber auch deren Zweifel zuzulassen. Diskriminierungsreiche Kontexte der Klient*innen seien als symptomverursachend zu berücksichtigen. Man solle sich von klaren Identitätskonzepten sowie cis-, hetero- und trans*-normativen Vorstellungen verabschieden und stattdessen Erfahrungen aus der eigenen Erziehung sowie Ausbildungsinhalte auf ihre Zeitmäßigkeit hinterfragen. In Leitlinien enthaltene Fristen stellten nicht-evidenzbasierte Versorgungshürden dar. Für partizipatives Arbeiten sei auf eine mit den Klient*innen geteilte Verantwortung zu achten und auch Interessenverbände wie der BVT* seien zur Qualitätssicherung weitreichend in partizipative Forschung und die Erarbeitung von Leitlinien einzubeziehen.

Dr. med. Imke Schamarek (Universitätsmedizin Leipzig) stellte die relevanten Schritte, Darreichungsformen und Risiken einer Hormonbehandlung vor. Dabei ging sie auch auf die mögliche Entwicklung von Depressionen und Hirntumoren ein, die in der Literatur mit der Gabe von Androcur besprochen wird, und erläuterte die Studienlage zum Risiko für Schlaganfälle, thromboembolische Ereignisse sowie Myokardinfarkte. Abschließend präsentierte Schamarek eine aktuell laufende Studie zur Identifikation von Effekten der Geschlechtshormone als mögliche Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede.

Der Vortrag von Prof. Roland Pfäffle (Universitätsmedizin Leipzig) komplettierte die endokrinologische Perspektive um die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen. Bereits ab einem Alter von vier Jahren sei die Geschlechtsidentität stabil. Somit wäre eine frühe Pubertätsblockade mit folgender Hormonbehandlung bedeutend, um dem Kind mehr Zeit einzuräumen, ohne dass irreversible und stark traumatisierende pubertäre Veränderungen einträten, bei trans* weiblichen Personen ergebe sich eine Reduktion der späteren Körpergröße und die Notwendigkeit teurer chirurgischer Maßnahmen im Erwachsenenalter könne vollständig vermieden werden. Daher plädierte er für eine pubertätshemmende Medikation bei stabiler Geschlechtsidentität bereits ab Tanner-Stadium 2 (11–15 Jahre), den Beginn der Hormontherapie mit 16 Jahren und operative Maßnahmen ab 18 Jahren. Entsprechend sei laut Pfäffle therapeutische Zurückhaltung keine Option.

Den zweiten Tagungsblock eröffnete PD Dr. rer. nat. habil. Kurt Seikowski (Universitätsklinikum Leipzig) mit dem Arbeitsstand der S3-Leitlinie zur Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter. Der Grund dafür, dass in Deutschland bislang noch recht selten frühzeitig und damit rechtzeitig pubertätsaufschiebend behandelt werde, könne auch am Mangel von Richtlinien liegen. Dies solle sich nun ändern. Seit fünf Jahren wird an der evidenz- und konsensbasierten Leitlinie gearbeitet, deren Fertigstellung für Ende 2023 erwartet wird. Auch die Kommission der Leitlinie stieß bei ihrer Arbeit auf viele Vorteile eines zeitigen und altersgerechten Behandlungsbeginns bei trans* Kindern. Es sei noch einige Arbeit zu leisten, um die in Deutschland noch häufig auftretende Psychopathologisierung der Kinder und Eltern zu überwinden.

Der Vortrag von Dipl.-Soz. Alexander Röbisch-Naß (Gutachter nach Transsexuellengesetz (TSG)) setzte sich mit den aktuellen Wandlungsprozessen in der rechtlichen Transition auseinander. Nach einem kurzen historischen Abriss zeigte er die gegenwärtige Situation auf und verwies auf vermeidbare „Pathologisierungsfallen“. Mit seiner Erfahrung aus 18 Jahren Beratung und über 300 Begutachtungen stellte er alternative Vorgehensweisen vor. So sollten Fragen zu sexuellen Präferenzen gänzlich entfallen, sofern diese auf dysphorisches Erleben abzielen, stattdessen könnten diesbezügliche Alltagserlebnisse geschildert werden. Er regte an, die psychologischen Fragebögen nachträglich von den Antragsteller*innen zu Hause ausfüllen zu lassen. Auf diese Weise habe man sich zuerst persönlich kennenlernen können und es werde das Gefühl einer Prüfungssituation umgangen. Zudem sollten neben den eigenen Aufzeichnungen aus der Begutachtung auch Antworten der Antragsteller*innen auf bestimmte Explorationsfragen einbezogen werden, um Transkriptionsfehler zu vermeiden, wie sie ihm häufig berichtet wurden.

Tammo Wende, M. A. (RosaLinde Leipzig e. V.), stellte die Herausforderungen und Chancen der Trans*-Beratung vor. Er präsentierte den Verein, dessen Zielgruppen und die Arbeitsweise. 2021 sei bereits der größte Beratungsanteil auf trans* und nicht-binäre Personen entfallen. Die Schwerpunkte der Beratungen seien Gesundheit und Medizinisches, Psychosoziales, Coming-out, Rechtliches und die Familie. Im ländlichen Raum kämen Fragen bezüglich des Zugangs zur Gesundheitsversorgung sowie der Anschlusssuche an die Community und Selbsthilfegruppen hinzu. Die Berater*innen fungierten als Vermittler*innen zwischen Herkunftsfamilien, Behandler*innen und der Community. Zugleich seien sie mit einer steten Unterversorgung im medizinischen und therapeutischen Bereich sowie der rechtlich instabilen Situation rund um das TSG konfrontiert. Es könne keine Therapie, Traumafachberatung, Krisenintervention oder klassische Sozialberatung angeboten werden, aber die Klient*innen schätzten die Gesprächsfreiheit ohne Diagnosen.

Den Auftakt des Blocks zur gelingenden Sexualität ohne operative Genitalangleichung machte Jonas A. Hamm, M. A. (Deutsche Aidshilfe), mit der Vorstellung seiner partizipativen Interviewstudie mit sechs trans* Menschen, die keine Genitalangleichung anstreben und mit ihrer Sexualität zufrieden sind. Ziel war es, die unausgesprochenen Grundannahmen zu widerlegen, dass (1) trans* Personen grundlegend ihr Geschlecht ablehnen, (2) das körperliche Geschlecht gleichbedeutend mit den Genitalien sei, (3) Männer grundsätzlich penetrieren und Frauen aufnehmen und (4) es trans* Personen wichtig sei, diesen Regeln zu folgen. Es zeigte sich, dass die Definition von Sexualität eher breit und ganzheitlich angelegt war, Sexualität oft unkonventionell gelebt wurde (polyamoröse und andere nicht-monogame Beziehungsformen, Sexpartys, BDSM), die angewandten Sexualpraktiken vielfältig waren, die sexuelle Rolle häufig losgelöst von der geschlechtlichen Rolle betrachtet sowie eine eigene Sprache für Körperteile und sexuelle Handlungen entwickelt wurde.

Sofia Koskeridou (Institut für Epithetik) widmete ihren Vortrag der Bedeutung von Penis-Hoden-Epithesen mit Urinier- und Sexualfunktion. Zum Klient*innenkreis von Koskeridou zählen trans* Menschen, die keine geschlechtsangleichenden Operationen wünschen, trans* Kinder, intergeschlechtliche Menschen, Personen nach misslungenen oder funktionell unbefriedigenden Operationsergebnissen und Personen mit medizinischen Problemen an ihrem cisgeschlechtlich männlichem Genital. Sehr anschaulich visualisierte Koskeridou die verschiedenartigsten körperlichen Ausgangsbedingungen ihrer Klient*innen mit Bildmaterial. Dies machte sehr rasch die Individualität einer jeden angefertigten Epithese deutlich. Auf Wirken von Koskeridou sind die Epithesen als medizinische Hilfsmittel anerkannt und werden seit 2018 von den Krankenkassen finanziert. Nach vermehrten Anfragen von trans* Frauen arbeitet Koskeridou nun auch an der Entwicklung von Brust- und Vaginal-Epithesen mit entsprechender Authentizität und Urinierfunktion.

Dr. med. Thomas M. Goerlich (Universitätsmedizin Leipzig) stellte den mit Bild- und Tonaufnahmen illustrierten Bericht von Stefan S. zum Thema Sexualität ohne operative Penisnachbildung, jedoch unter Nutzung anatomischer Epithesen mit Urinier- und Sexualfunktion vor. Goerlich beschreibt, wie sich unter Hormontherapie die Klitoris vergrößert und somit für viele als kleiner Penis gut in ihr Körperselbstbild integrierbar sei. Ein klitoraler Orgasmus werde als männliche Ejakulation empfunden, die Masturbationshäufigkeit steige signifikant. Epithesen und Dildos stellten kein Sexspielzeug dar, sondern würden als Körperteil interpretiert. Als Arzt forderte er, dass alle Beratenden den Behandlungssuchenden ehrlich und realistisch die jeweils individuellen Möglichkeiten und vor allem die Grenzen einer körpermodifizierenden Therapie aufzeigen, um gemeinsam einen Vorgehensplan zu erstellen. Die Mastektomie werde meist angestrebt, nicht selten ein Belassen der Vagina gewünscht. Stefan S. lehnte in seinen Ausführungen eine Phalloplastik ab, da die Ergebnisse für ihn optisch, haptisch sowie funktionell nicht zufriedenstellend seien und sein sexuelles Erleben beschränken würden.

Mit seinem Vortrag zur Stimmangleichung eröffnete Dr. med. Lennart H. Pieper (Universitätsmedizin Leipzig) den letzten Tagungsblock. Unsere Stimme transportiere unser geschlechtliches Selbst. Er zeigte die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Kehlkopf, Stimmeinsatz und Tonhöhen auf. Gerade die Sprechstimmenfrequenz stelle – neben der Sprechmelodie, der Wortwahl und dem Stimmeinsatz – den zentralen Faktor zur unmittelbaren Geschlechtsidentifizierung dar. Damit sei die Stimme eine wichtige Komponente für ein gelingendes Passing. Die erste Möglichkeit zur Stimmtransition sei die Stimmangleichung durch Hormonbehandlung. Dies gelinge bei trans* Frauen nur präpubertär, bei trans* Männern zeige sich der Kehlkopf lebenslang testosteronsensitiv. Die zweite Möglichkeit bestehe in der Stimmübungsbehandlung. Diese diene der Erhöhung der Sprechstimmlage, der Bildung einer femininen Randkantenstimme sowie der Resonanzwandlung und allgemeinen Klangveränderung. Die dritte Option bilde die Phonochirurgie. Pieper stellte hierbei das Stimmlippen-Webbing der Cricothyroid Approximation gegenüber.

Den letzten Vortrag hörte das Auditorium von Dipl.-Psych. Joachim Guzy (Psychologischer Psychotherapeut). Vor dem Hintergrund stetig steigender Fallzahlen und abnehmendem Alter von trans* Personen stellte sich Guzy die Frage, ob diese Entwicklung auf einer verbesserten Selbstwahrnehmung fuße oder ob Alienation für dieses Phänomen verantwortlich sei. Alienation bezeichnet dabei die Entfremdung vom Selbst, den Mitmenschen oder auch Situationen. Im Kontext der Behandlung sei die Unverzerrtheit der Selbstwahrnehmung wichtig, da die Therapeut*innen auf die Selbstdiagnose ihrer Klient*innen angewiesen seien. Guzy führte in Zusammenarbeit mit der Universität Oldenburg eine Studie mit 58 eigenen Klient*innen durch. Sie ergab keinerlei Hinweise für Alienation. Die Beschreibungen der Selbstwahrnehmung könnten daher als weitgehend wahr angesehen werden.

Zum Abschluss der Tagung wurden Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm „Und ruhig fließt der Rhein“ von Volker Klotzsch und Oliver Matthes gezeigt. Ursprünglich sei dieser Film als Einzelportrait einer Transition angelegt gewesen, jedoch brach bei der Protagonistin ihr Kindheitstrauma des sexuellen Missbrauchs auf, als sich ankündigte, dass ihr Vater im Sterben lag. Durch die Community ermutigt, entschieden sich Klotzsch und Matthes, ihren Film mit dem neu aufgetretenen inneren Reflexionsprozess weiterzuführen.

Gespannt sein dürfen wir auch auf die nächste Tagung der Gesellschaft für Sexualwissenschaft, die sich der sexuellen Gesundheit widmet und am 9.9.2023 stattfinden wird.



Publication History

Article published online:
14 March 2023

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