Open Access
CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2023; 83(07): 843-849
DOI: 10.1055/a-2041-2831
GebFra Science
Original Article

Psychische Aspekte bei unerfülltem Kinderwunsch – Ergebnisse einer Akteur-Partner-Interdependenz-Analyse

Artikel in mehreren Sprachen: English | deutsch
1   Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
,
Patrick Pätsch
1   Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
,
Sabine Rösner
2   Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Universitätsfrauenklinik Heidelberg, Heidelberg, Germany (Ringgold ID: RIN27178)
,
Ariane Germeyer
2   Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Universitätsfrauenklinik Heidelberg, Heidelberg, Germany (Ringgold ID: RIN27178)
,
Manja Krause
3   Fertility Center Berlin, Berlin, Germany
,
Heribert Kentenich
3   Fertility Center Berlin, Berlin, Germany
,
Ikbale Siercks
4   Fiore, St. Gallen, Switzerland
,
4   Fiore, St. Gallen, Switzerland
,
Verena Ehrbar
5   Gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik, Universitätsspital Basel, Basel, Switzerland (Ringgold ID: RIN30262)
,
Sibil Tschudin
5   Gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik, Universitätsspital Basel, Basel, Switzerland (Ringgold ID: RIN30262)
,
Bettina Böttcher
6   Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Austria (Ringgold ID: RIN27280)
,
Bettina Toth
6   Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Austria (Ringgold ID: RIN27280)
,
1   Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
› Institutsangaben
TRIAL REGISTRATION: Registration number (trial ID): DRKS00014260, Trial registry:, Type of Study: Title of the study: „Psychological protective and risk factors in infertile women and men before assisted reproductive treatment – a multicentre study in Germany, Austria and Switzerland“ / Studientitel: „Protektive und Risikofaktoren bei unerfülltem Kinderwunsch – eine Multicenterstudie in Deutschland, Österreich und der Schweiz“
 

Zusammenfassung

Einleitung Unerfüllter Kinderwunsch und die anschließende medizinische Therapie führt bei einem Teil der Patient*innen zu starken emotionalen Belastungen, die vom Paar gemeinsam bewältigt werden müssen: „Infertility is a shared stressor“. Aus der Forschungsliteratur ist bekannt, dass die subjektiv wahrgenommene Selbstwirksamkeit die adaptive Bewältigung einer Erkrankung unterstützt. Als Fragestellung in dieser Studie wurde angenommen, dass hohe Selbstwirksamkeitswerte mit niedrigen psychischen Risikoscores (wie Ängstlichkeit oder Depressivität) sowohl bei der eigenen Person als auch beim Partner bzw. der Partnerin einhergehen. Eine gezielte Förderung der hilfreichen Selbstwirksamkeitserwartung könnte somit auch bei unerfülltem Kinderwunsch eine neue Beratungsstrategie darstellen, durch die psychisch vulnerable Patient*innen Behandlungsablauf und Behandlungsmisserfolge medizinisch assistierter Reproduktion besser bewältigen können und damit weniger als Risikopatient*innen bezüglich psychosozialer Faktoren gelten müssen.

Methoden 721 Frauen und Männer, die an 5 Kinderwunschzentren in Deutschland (Heidelberg, Berlin), Österreich (Innsbruck) und der Schweiz (St. Gallen, Basel) vorstellig wurden, haben den SCREENIVF-R-Fragebogen zur Identifizierung von psychischen Risikofaktoren für verstärkte emotionale Probleme und die SWUK-Skala zur Messung der Selbstwirksamkeit ausgefüllt. Mithilfe von gepaarten t-Tests und des Akteur-Partner-Interdependenz-Modells wurden die Daten von 320 Paaren paarbezogen ausgewertet.

Ergebnisse Auf Paarebene wiesen Frauen im Vergleich zu Männern in 4 von 5 Risikofaktoren (Depressivität, Ängstlichkeit, Mangel an Akzeptanz, Hilflosigkeit) höhere Risikowerte auf. In allen Risikobereichen konnten protektive Effekte der Selbstwirksamkeit auf den jeweiligen eigenen Risikofaktor identifiziert werden (Akteureffekt). Die Selbstwirksamkeitswerte des Mannes zeigten einen negativen Zusammenhang mit den Depressivitäts- und Hilflosigkeitswerten der Frau (Partnereffekt Mann → Frau). Die Selbstwirksamkeitswerte der Frau korrelierten positiv mit der Akzeptanz und sozialen Unterstützung bei Männern (Partnereffekt Frau → Mann).

Schlussfolgerung Da die Bewältigung des unerfüllten Kinderwunsches in der Regel durch das Paar geleistet wird, sollten in zukünftigen Studien nicht mehr nur Frauen und Männer getrennt in die Analysen einbezogen werden, sondern das Paar als Analyseeinheit im Fokus stehen. Zudem sollte in der psychosozialen Kinderwunschberatung das Paarsetting Goldstandard sein.


Einleitung

Circa 9% aller Männer und Frauen im reproduktiven Alter sind vom unerfüllten Kinderwunsch betroffen [1]. Männer und Frauen unterliegen meist einer hohen psychischen Belastung bei Infertilität und ihrer medizinischen Behandlung, wodurch sich bei einem Teil der Patienten und Patientinnen emotionale Störungen manifestieren können [2] [3] [4] [5]. Es zeigte sich bislang, dass Frauen im Vergleich zu Männern Infertilität als belastender erleben (bzw. angeben) und höhere Level an Depressivität und infertilitätsbezogenen Stress aufweisen [3] [6] [7].

Durch die Entwicklung von assistierten reproduktiven Therapien (ART) ist es möglich geworden, Paare mit Infertilität bei der Erfüllung des Kinderwunsches zu unterstützen. Die im Jahr 2018 an das ESHRE-Konsortium gemeldeten Schwangerschaftsraten von In-vitro-Fertilisation (IVF), intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) und Frozen-Embryo-Transfer (FER) lagen pro Aspiration bei 25,5%, 22,5% und 28,8% [8]. Eine erfolglose Behandlung führt bei Frauen oft zu einem Anstieg negativer Emotionen, die auch nach aufeinanderfolgenden erfolglosen Zyklen der Kinderwunschbehandlung anhalten können [2]. Auch (wiederholte) Fehlgeburten während ART werden oft als stark emotional belastend erlebt [9].

Die ESHRE-Leitlinien empfehlen, den SCREENIVF-Fragebogen zu nutzen, um Patientinnen und Patienten vor einer IVF-Behandlung als Risikopatienten bezüglich emotionaler Probleme zu identifizieren und somit an eine spezialisierte psychosoziale Betreuung (Kinderwunschberatung oder Psychotherapie) verweisen zu können [6].

Selbstwirksamkeit entspricht der Wahrnehmung, dass man in der Lage ist, kognitive, affektive und motivationale Selbstregulierungsprozesse zu nutzen, und steht als psychologische Ressource im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Krankheitsbewältigung [10]. In neueren Studien konnten bei Paaren mit Infertilität psychologisch protektive Effekte von Resilienz auf unfruchtbarkeitsbedingtem Stress und das psychologische Wohlbefinden auch innerhalb der Paare festgestellt werden [11] [12].

Ungewollt kinderlose Patientinnen und Patienten, die sich für eine Kinderwunschbehandlung entscheiden, können auch von einer hohen subjektiv wahrgenommenen Selbstwirksamkeit bezogen auf die Bewältigung der Behandlungsanforderungen und die Kommunikation mit dem Partner oder der Partnerin profitieren und müssten somit weniger als Risikopatienten oder -patientinnen hinsichtlich psychosozialer Risikofaktoren gelten [13] [14].

Ziel dieser Studie war die Testung von Unterschieden zwischen Mann und Frau bezüglich einerseits des protektiven Faktors der Selbstwirksamkeitserwartung und andererseits der emotionalen Belastung (Ängstlichkeit, Depressivität, mangelnde soziale Unterstützung und negative Kognitionen in Form von mangelnder Akzeptanz und Hilflosigkeit) bei unerfülltem Kinderwunsch. Zusätzlich wurde der Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeit bei Mann und Frau mit ungewollter Kinderlosigkeit sowohl innerhalb der Person als auch zwischen den Partnern ermittelt in Bezug auf die jeweiligen psychosozialen Risiken. Als Hypothese wurde angenommen, dass hohe Selbstwirksamkeitswerte mit niedrigen Risikoscores sowohl bei der eigenen Person als auch beim Partner bzw. der Partnerin einhergehen.


Material und Methoden

Setting und Fragebogen

Es handelt sich um eine multizentrische, nicht interventionelle, quantitative Querschnittsstudie. Die Fragebogen (SCREENIVF-R und SWUK, sowie ein soziodemografischer Fragebogen) wurden an 5 Kinderwunschzentren in Deutschland (Heidelberg und Berlin), Österreich (Innsbruck) und der Schweiz (St. Gallen und Basel) verteilt. Alle an einer Kinderwunschbehandlung teilnehmenden 321 Paare und 79 Einzelpersonen wurden durch persönlichen Kontakt im jeweiligen Kinderwunschzentrum rekrutiert. Der Erhebungszeitraum war von Mai 2018 bis Juli 2019. Das Ethikvotum der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Heidelberg mit dem Zeichen S-123/2018 liegt seit dem 12.03.2018 vor. Mit der Registrierungsnummer DRKS00014260 ist die Studie im Deutschen Register klinischer Studien (DRKS) registriert.

SCREENIVF-R

Der SCREENIVF wird verwendet, um Patienten mit erhöhtem Risiko für Depression und Ängstlichkeit vor Beginn einer IVF-Behandlung zu identifizieren [15]. Zuvor wurden Angst, Depression, negative Kognitionen in Form von Hilflosigkeit und geringer Akzeptanz von Fruchtbarkeitsproblemen sowie fehlende soziale Unterstützung als Risikofaktoren für zunehmende emotionale Probleme festgestellt [16]. Basierend auf diesen 5 Risikofaktoren wurde im Jahr 2010 der SCREENIVF mit einer Sensitivität von 69% und einer Spezifität von 77% entwickelt [15].

Der Fragebogen SCREENIVF-R besteht aus insgesamt 34 Items, mit 5 Items für State-Ängstlichkeit, 5 Items für Trait-Ängstlichkeit, die auf einer kurzen Version des Spielberger State and Trait-Anxiety Inventory (STAI) basieren [17], 7 Items für Depression, als verkürzte Version des Beck Depression Inventory, in dieser Studie in der überarbeiteten Version II (BDI-II) [18], 5 Items für soziale Unterstützung, abgeleitet aus dem „Inventory of Social Involvement“ (ISI) [19] und 12 Items für negative Kognitionen bezogen auf Hilflosigkeit und Akzeptanz bei Fertilitätsproblemen, entnommen aus dem Illness-Cognition-Fragebogen für IVF-Patienten [16]. Die Skalierung erfolgte jeweils mithilfe einer 4-stufigen Likert-Skala (1–4), und die Punktzahl für jeden Risikofaktor wurde durch Summierung der Antworten für jedes Item berechnet. Demnach lagen die Gesamtpunktzahlen für Ängstlichkeit zwischen 10 und 40 (höhere Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko), für soziale Unterstützung zwischen 5 und 20 (niedrigere Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko), für Hilflosigkeit (höhere Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko) und für Akzeptanz (niedrigere Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko) zwischen 6 und 24. Die Skalierung der Depressivitäts-Skala reichte von 0 bis 3. Somit lagen die Gesamtpunktzahlen für Depressivität zwischen 0 und 21 (höhere Werte entsprechen einem erhöhtem Risiko).


SWUK

Zur Messung der Selbstwirksamkeit im Zusammenhang mit Unfruchtbarkeit und ihrer medizinischen Behandlung haben Cousineau et al. die Infertility Self Efficacy Scale (ISE) – auf Deutsch: Selbstwirksamkeit bei unerfülltem Kinderwunsch (SWUK) – entwickelt und validiert [13]. Das Selbstauskunftsinstrument kann sowohl von Frauen als auch von Männern, die von Infertilität betroffen sind, verwendet werden, und es sind 2 sprachlich an diese beiden Geschlechter angepasste Versionen verfügbar.

Die Skala besteht aus insgesamt 16 Items, welche die Wahrnehmung und Überzeugung der Teilnehmenden mit Unfruchtbarkeit hinsichtlich ihrer Fähigkeit, kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Fähigkeiten einzusetzen, erfassen. Die Skalierung erfolgte auf einer Likert-Skala, die von „überhaupt nicht zuversichtlich“ (1) bis „sehr zuversichtlich“ (9) reicht. Zur Auswertung wurden die einzelnen Items addiert, deren Gesamtpunktzahl zwischen 16 und 144 variieren kann.


Soziodemografische Daten

Die soziodemografischen Daten umfassten das Alter, den Bildungsabschluss, den ausgeübten Beruf, die Zeitstruktur des Berufes, den Familienstand, vorhandene Kind(er), die Dauer der Partnerschaft, des Kinderwunsches und der Kinderwunschbehandlung sowie die subjektive Ursache des unerfüllten Kinderwunsches. Zusätzlich wurden die Stärke des und die Belastung durch den unerfüllten Kinderwunsch(es) jeweils auf einer kontinuierlichen Skala mit einer Länge von 5 cm ermittelt.



Datenanalyse

Für die deskriptive Analyse der soziodemografischen Parameter und für die Paarvergleiche wurden nur die 320 heterosexuellen Paare berücksichtigt. Teilnehmende, die nicht mindestens 80% der Items beantworteten, wurden von der jeweiligen Analyse ausgeschlossen. Je nach Skalenniveau der Variablen wurde der ungepaarte t-Test bzw. der Mann-Whitney-U-Test oder der χ2-Test verwendet, um soziografische Parameter zu analysieren. Der t-Test für gepaarte Stichproben bzw. der Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test wurden genutzt, um einen Paarvergleich der Risikofaktoren des SCREENIVFs und der Selbstwirksamkeitswerte des SWUKs durchzuführen. Mithilfe des Akteur-Partner-Interdependenz-Modells (APIM) wurden die Paare als Analyseeinheit betrachtet, was ein besseres Verständnis der zwischenmenschlichen Faktoren im Zusammenhang mit der psychischen Belastung bei unerfülltem Kinderwunsch ermöglicht. Das APIM ([Abb. 1]) berücksichtigt bei seiner Analyse 2 zentrale Effekte: den Akteureffekt (a1 und a2) und den Partnereffekt (p1 und p2).

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Abb. 1 Akteur-Partner-Interdependenz-Modell. a1 und a2 = Akteureffekte, p1 = Partnereffekt (Frau → Mann), p2 = Partnereffekt (Mann → Frau).

Dabei wird der Einfluss der eigenen unabhängigen Variable auf die eigene abhängige Variable als Akteureffekt und der Einfluss auf die abhängige Variable des Partners als Partnereffekt bezeichnet. In unseren APIM-Analysen wurden die Selbstwirksamkeitswerte als unabhängige Variablen und die psychologischen Risikofaktoren (Ängstlichkeit, Depression, Mangel an sozialer Unterstützung und Akzeptanz, Hilflosigkeit) als abhängige Variablen betrachtet und getrennt für Frauen und Männer berechnet.

Für alle Analysen, außer die des APIMs, wurde das Softwareprogramm IBM SPSS Statistics Version 27 genutzt. Zur Berechnung des APIM-Modells wurde das Web-Programm APIM_SEM für unterscheidbare Dyaden verwendet: Stas L, Kenny DA, Mayer A, Loeys T (in press). Giving Dyadic Data Analysis Away: A User-Friendly App for Actor-Partner Interdependence Models. Personal Relationships. Available from: https://apimsem.ugent.be/shiny/apim_sem/ . P < 0,05 wurde als statistisch signifikant angesehen.



Ergebnisse

Soziodemografische Daten

Insgesamt wurden in der Kinderwunschambulanz der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg 614 Fragebogen verteilt, von denen 217 Personen an der Studie teilnahmen (Responserate = 35,3%). Die Responserate liegt nur aus Heidelberg vor. In der gesamten Studie wurden 721 Patienten und Patientinnen eingeschlossen, wobei es sich hier um 391 Frauen (54,2%) und 330 Männer (45,8%) handelte. Unter den 721 Teilnehmenden befanden sich 321 Paare, darunter 320 heterosexuelle Paare, und 79 Einzelpersonen. Von den 320 Paaren stammten 63,2% aus Deutschland (D), 17,2% aus Österreich (A) und 19,7% aus der Schweiz (CH). Die soziodemografischen Daten der untersuchten heterosexuellen Paare sind in [Tab. 1] aufgeführt. Von den Teilnehmenden waren 60,4% verheiratet und 38,1% mit ihrem Partner oder Partnerin lebend. Die mittlere Dauer der Partnerschaft lag bei den Teilnehmenden durchschnittlich bei 7,81 ± 4,5 Jahren. Es gaben insgesamt 64,9% der Frauen und 91,2% der Männer an, ganztags zu arbeiten.

Tab. 1 Überblick der soziodemografischen Daten der analysierten Paare.

Frauen

Männer

MW ± SD

n

MW ± SD

n

p-Wert

Die Daten werden als Mittelwert ± Standardabweichung oder n (%) angegeben. Statistische Analyse durch unabhängigen t-Test oder χ2-Test, sofern zutreffend. NS = nicht signifikant

Alter

33,04 ± 4,39

318

35,93 ± 5,86

316

< 0,001

Kinderlosigkeit

82,8%

264/319

77,9%

247/317

NS

hoher Schulabschluss (≥ Abitur/Fachhochschule)

75,0%

237/316

72,8%

230/316

NS

Dauer Kinderwunsch (in Jahren)

2,66 ± 2,19

314

2,66 ± 2,18

310

NS

Dauer Kinderwunschbehandlung (in Jahren)

0,82 ± 1,37

267

0,88 ± 1,62

267

NS

Stärke Kinderwunsch

4,22 ± 0,79

318

4,04 ± 0,84

318

= 0,005

Belastung Kinderwunsch

3,31 ± 1,19

316

2,57 ± 1,33

317

< 0,001


Risikofaktoren und Selbstwirksamkeit – Unterschiede zwischen Frauen und Männern

Die Gesamtwerte für die Selbstwirksamkeit und die jeweiligen Risikofaktoren sind in [Tab. 2] aufgeführt. Mittels gepaarten t-Tests, bzw. Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Tests, wurde der Unterschied der Mittelwerte bzw. Mediane zwischen Männern und Frauen innerhalb der Paare in den verschiedenen Risikobereichen untersucht. Von den fünf Risikofaktoren wiesen vier eine signifikante Diskrepanz mit knapp mittlerer Effektstärke auf (Depressivität, Ängstlichkeit, Akzeptanz und Hilflosigkeit).

Tab. 2 Unterschiede zwischen Frauen und Männern in den Selbstwirksamkeitswerten und Risikobereichen (innerhalb eines Paares).

Anzahl der Paare

Frauen

Männer

p-Wert

Effektstärke

Md ± IQAa MW ± SDb

Md ± IQAa MW ± SDb

Die Daten werden je nach Skalenniveau als Median (Md) ± Interquartilsabstand (IQA) oder Mittelwert (MW) ± Standardabweichung (SD) angegeben. Statistische Analyse durch a = Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test mit Korrelationskoeffizient r (r) als Effektstärke oder b = t-Test für abhängige Stichproben mit Cohen’s d (d) als Effektstärke

Selbstwirksamkeit

307

100 ± 30a

115 ± 24a

< 0,001a

r = 0,6

Depressivität

302

2 ± 4a

0 ± 2a

< 0,001a

r = 0,41

Ängstlichkeit

313

20,6 ± 5,33b

17,83 ± 4,83b

< 0,001b

d = 0,45

Akzeptanz

302

12 ± 7a

15,5 ± 6a

< 0,001a

r = 0,46

Hilflosigkeit

306

11 ± 5a

9 ± 6a

< 0,001a

r = 0,47

soziale Unterstützung

305

19 ± 4a

19 ± 4a

0,878a

r = 0,01

Männer (Md = 115) zeigten eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung verglichen zu Frauen (Md = 100) (z = 10,44, p < 0,001, r = 0,6). Die Dauer des Kinderwunsches korrelierte gering positiv mit Ängstlichkeit (ρ = 0,154, p < 0,01) und Hilflosigkeit (ρ = 0,173, p < 0,01) bei Frauen. Bei Männern korrelierten Hilflosigkeit und Kinderwunschdauer positiv miteinander (ρ = 0,204, p < 0,01). Bei Frauen und bei Männern zeigten sich schwache positive Korrelationen der Dauer der Kinderwunschbehandlung mit den Werten der Ängstlichkeit und Hilflosigkeit und negative mit den Selbstwirksamkeitswerten. Zusätzlich stellte sich bei Frauen eine schwach positive Korrelation zwischen der Dauer der Kinderwunschbehandlung und Depressivität heraus. Aufgrund der geringen absoluten Höhe dieser statistisch signifikanten Zusammenhänge (Range r = 0,11–0,23) wurden diese Korrelationen eher als Artefakte aufgrund der Stichprobengröße und weniger als klinisch relevant eingeschätzt, weshalb auf eine eingehendere Analyse verzichtet wurde.


Analyse der Paare: APIM-Ergebnisse

In allen 5 Risikobereichen konnten sowohl für Frauen als auch für Männer signifikant protektive Effekte (p < 0,001, mittlere bis große Effektstärke) der Selbstwirksamkeit auf den jeweiligen eigenen Risikofaktor gefunden werden (Akteureffekt Mann und Frau) ([Tab. 3]).

Tab. 3 Akteur- und Partnereffekte von Selbstwirksamkeit auf Risikofaktoren.

Selbstwirksamkeit

Depressivität

Ängstlichkeit

Akzeptanz

Hilflosigkeit

soziale Unterstützung

Signifikante Werte sind fett markiert.

a1 = standardisierter Akteureffekt (Mann), a2 = standardisierter Akteureffekt (Frau)

p1 = standardisierter Partnereffekt (Frau → Mann), p2 = standardisierter Partnereffekt (Mann → Frau)

r = partielle Korrelation als Effektstärke

* p < 0.05, ** p < 0.01, *** p < 0.001

Akteureffekte

a1 (r)

−0,51*** (−0,463)

−0,59*** (−0,554)

0,47*** (0,443)

−0,52*** (−0,470)

0,33*** (0,285)

a2 (r)

−0,49*** (−0,467)

−0,61*** (−0,574)

0,57*** (0,537)

−0,52*** (−0,507)

0,23*** (0,206)

Partnereffekte

p1 (r)

−0,1 (−0,118)

0,03 (0,031)

0,12*(0,113)

−0,07 (−0,083)

0,14* (0,140)

p2 (r)

0,15** (−0,164)

−0,08 (−0,125)

0,02 (0,036)

0,13** (−0,141)

0,01 (0,005)

Die Selbstwirksamkeitswerte des Mannes zeigten eine signifikante negative Korrelation von −0,15 (p < 0,01, kleine Effektstärke) mit den Depressivitätswerten der Frau (Partnereffekt Mann → Frau) ([Tab. 3]). Hinsichtlich der Hilflosigkeit wurde eine signifikante negative Korrelation von −0,13 (p < 0,01, kleine Effektstärke) zwischen den Selbstwirksamkeitswerten des Mannes und den Hilflosigkeitswerten der Frau festgestellt (Partnereffekt Mann → Frau) ([Tab. 3]).

Die Selbstwirksamkeitswerte der Frau waren positiv signifikant mit der Akzeptanz beim Mann (Partnereffekt Frau → Mann) mit einem Effekt von 0,12 (p < 0,05, geringe Effektstärke) und mit der sozialen Unterstützung beim Mann (Partnereffekt Frau → Mann) mit einem Effekt von 0,14 (p < 0,05, geringe Effektstärke) korreliert ([Tab. 3]). Alle Partnereffekte waren ingesamt deutlich niedriger als die Akteureffekte.



Diskussion

Es hat sich bestätigt, dass der unerfüllte Kinderwunsch mit einer hohen psychischen Belastung sowohl bei Frauen als auch bei Männern einhergeht. Frauen zeigten verglichen zu Männern ein höheres Risiko, an Depressivität, Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und mangelnder Akzeptanz des unerfüllten Kinderwunsches zu leiden. Selbstwirksamkeit hatte einen protektiven Einfluss auf die eigenen Risikofaktoren und (in geringerem Ausmaß) auf die Risikofaktoren des Partners bzw. der Partnerin. Sowohl das psychologische Wohlbefinden der Frau als auch des Mannes waren jeweils von der Selbstwirksamkeitserwartung des Partners bzw. der Partnerin beeinflusst.

Nach der ESHRE-Leitlinie war zu erwarten, dass Frauen eher an Depressivität, Angstzuständen, Stress und/oder psychiatrischen Komorbiditäten leiden (bzw. diese angeben) als Männer [6]. Dies bestätigt sich durch die Daten unserer Studie, in der Frauen – im Paarvergleich – ein höheres Risiko aufwiesen, unter Depressivität, Ängstlichkeit, fehlender Akzeptanz des unerfüllten Kinderwunsches und Hilflosigkeit zu leiden als Männer. Diese Ergebnisse bestätigen die bei Frauen häufig feststellbare hohe psychische Belastung bei unerfülltem Kinderwunsch. Ein Erklärungsansatz für die höhere psychische Belastung von Frauen im Vergleich zu Männern besteht in traditionellen Rollenbildern, in denen die Mutterschaft stärker mit dem weiblichen Rollenbilder korreliert als die Vaterschaft mit Männlichkeit [20]. In elterlichen Rollen wird von Frauen eher erwartet, die primäre Betreuungsperson im häuslichen Bereich zu sein, indes Männern eher die Versorgerrolle durch Erwerbstätigkeit zugewiesen wird. Noch immer verinnerlichen junge Frauen und Männer diese gesellschaftlichen Erwartungen und entwickeln Überzeugungen bezüglich der sozialen Rollen, die sie annehmen sollten [21]. Frauen zeigten ebenfalls im Paarvergleich zu ihren Männern ein geringeres Maß an Selbstwirksamkeit. Es ist möglich, dass Männer bezüglich der Angabe ihrer Selbstwirksamkeit und auch der der psychologischen Risikofaktoren versuchten, der sozialen Erwünschtheit zu entsprechen und sich selbst tendenziell überschätzen: Männer sehen sich selbst oft als „Fels in der Brandung“ und folgen somit eher der gesellschaftlich erwarteten Rolle [22].

Nach den Ergebnissen dieser Studie ist die Selbstwirksamkeitserwartung der Frau bzw. des Mannes mit der eigenen und der psychischen Belastung des Partners bzw. der Partnerin verbunden. Es konnte festgestellt werden, dass hohe Selbstwirksamkeitswerte der Frau mit hohen Werten des Mannes in den Bereichen Akzeptanz und soziale Unterstützung einhergehen (Partnereffekt Frau → Mann). Wurden beim Mann hohe Selbstwirksamkeitswerte identifiziert, so konnte man bei der Frau niedrige Werte von Depression und Hilflosigkeit beobachten (Partnereffekt Mann → Frau). Eine mögliche Interpretation dieser (insgesamt allerdings schwachen) Partnereffekte besteht darin, dass der Mann durch seine Partnerin kognitiv und auf der interpersonellen Ebene gestärkt wird, wohingegen die Frau sich durch ihren Partner emotional und intrapsychisch unterstützt wahrnimmt.

Auch die ESHRE-Leitlinie geht davon aus, dass die emotionalen Reaktionen beider Mitglieder des Paares auf den unerfüllten Kinderwunsch mit der Reaktion des Partners zusammenhängen [6]. Es wird beschrieben, dass bei Paaren neben den emotionalen Reaktionen auch die depressiven Symptome jedes Partners mit dem eigenen und dem infertilitätsspezifischen Leid des Partners verbunden sind.

Diese Studie ist eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeitserwartung und infertilitätsverbundenen Stress sowie psychologischem Risikoprofil untersucht. Es konnten in unseren Ergebnissen des Akteur-Partner-Interdependenz-Modells Akteureffekte mit großen Effektstärken bei Männern und Frauen bezüglich der Selbstwirksamkeit auf die Risikobereiche Depressivität, Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und mangelnde Akzeptanz ermittelt werden. Auch in dem Bereich der mangelnden sozialen Unterstützung wurden moderate Effektstärken bei den Akteureffekten der beiden Geschlechter nachgewiesen. Dies unterstreicht, dass ein hoher Grad an Selbstwirksamkeit mit einem geringeren psychologischen Risikoprofil einhergeht. In anderen Studien wurde der positive Einfluss des protektiven Faktors Resilienz auf das psychologische Risikoprofil bei infertilen Patienten und Patienten dargestellt [11] [23]: Bei Zhang et al. im Jahr 2021 zeigte sich der protektive Effekt von Resilienz der Ehemänner auf ihren eigenen infertilitätsbedingten Stress und ihr posttraumatisches Wachstum sowie das ihrer Frauen, sowie bei Bhamani et al. im Jahr 2020 der positive Zusammenhang von Resilienz und der Lebensqualität bei pakistanischen Paaren.

Eine große Stärke der Studie ist, dass im Vergleich zu anderen Studien das Paar und nicht nur die Frau und der Mann separat betrachtet wurde. Aufgrund der großen Teilnehmerzahl von 721 Teilnehmenden (davon 320 Paare) kann auf eine Repräsentativität der Patienten und Patientinnen bei Kinderwunschbehandlung geschlossen werden. Trotz der großen Teilnehmerzahl lag die Responserate insgesamt aus Heidelberg nur bei 35,5%, was auf bereits bestehende psychologische Probleme und/oder Sprachprobleme zurückzuführen sein könnte. Zudem ist es möglich, dass eher stark belastete Patienten und Patientinnen den Fragebogen ausfüllten als weniger belastete Patienten und Patientinnen und somit die Stichprobe für die Grundgesamtheit nicht repräsentativ ist (Selektionsbias). Zusätzlich besaßen 74,9% der Frauen und 73,2% der Männer einen überdurchschnittlichen Schulabschluss (Selektionsbias). Es konnten wegen der gering vertretenen Anzahl der lesbischen Paare (n = 1) nur die heterosexuellen Paare in die Analysen der Paare eingeschlossen werden, wodurch keine Repräsentativität bezüglich der homosexuellen Paare vorliegt (und auch bezüglich anderer sexueller Identitäten). Es muss zusätzlich erwähnt werden, dass die Effektgrößen der Partnereffekte sowohl bei Frauen als auch bei Männern klein waren. Es wurden nur Patienten und Patientinnen mit unerfülltem Kinderwunsch der 5 Kinderwunschkliniken mit in die Studie aufgenommen. Dementsprechend kann keine Aussage über die Paare mit unerfülltem Kinderwunsch gemacht werden, die sich nicht (mehr) in einer medizinischen Behandlung befinden. Somit können die Ergebnisse dieser Studie nicht auf die gesamte Patientenpopulation ungewollt Kinderloser verallgemeinert werden.


Schlussfolgerung

Aus den vorliegenden Daten unserer Studie folgt eine eindeutige Empfehlung für eine paar-orientierte Beratungsstrategie bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch. Zusätzlich sollte auch in zukünftigen Studien das Paar als Einheit im Vordergrund der Analysen stehen.

Gerade in einer Situation, die mit großer Hilflosigkeit bei beiden Partnern einhergeht – insbesondere in der Wartezeit auf den Schwangerschaftstest – kann die Wahrnehmung und Förderung der hilfreichen Selbstwirksamkeitserwartung dem Paar vermutlich Halt und Orientierung geben (Erstellung von „Fahrplänen“) [24]. Dies stellt ein neues Beratungskonzept dar, wodurch die Patienten und Patientinnen sowie ihre Partner und Partnerinnen besser mit dem Behandlungsablauf und eventuellen Behandlungsmisserfolgen (keine Schwangerschaft bzw. Fehlgeburt) zurechtkommen könnten.

Zur Identifizierung der Patienten und Patientinnen mit Risikofaktoren für emotionale Probleme sollten spezifische Screening-Instrumente genutzt werden. Dies ermöglicht den Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch die Information über eine direkte Weiterleitung an psychosoziale Beratungsstellen. Die beiden Fragebogen (SCREENIVF-R und SWUK) könnten in weiteren prospektiven Studien genutzt werden, um in Zukunft den Verlauf der psychischen Belastung bei Frauen und Männern während ihrer Fruchtbarkeitsbehandlung zu erfassen.



Conflict of Interest

The authors declare that they have no conflict of interest.

Danksagung

Wir sind den Frauen und Männern sowie allen 5 beteiligten Kinderwunschzentren sehr dankbar für die Bereitschaft, an dieser Studie teilzunehmen bzw. diese zu unterstützen.


Correspondence

Prof. Dr. Tewes Wischmann
Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Heidelberg
Bergheimer Str. 20
69115 Heidelberg
Germany   

Publikationsverlauf

Eingereicht: 28. September 2022

Angenommen nach Revision: 09. Januar 2023

Artikel online veröffentlicht:
14. April 2023

© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

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Fig. 1 Fig. Actor–partner interdependence model. a1 and a2 = actor effect, p1 = partner effect (woman → man), p2 = partner effect (man → woman).
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Abb. 1 Akteur-Partner-Interdependenz-Modell. a1 und a2 = Akteureffekte, p1 = Partnereffekt (Frau → Mann), p2 = Partnereffekt (Mann → Frau).