Geburtshilfe Frauenheilkd 2023; 83(05): 547-568
DOI: 10.1055/a-2044-0203
GebFra Science
Guideline/Leitlinie

Prävention und Therapie der Frühgeburt. Leitlinie der DGGG, OEGGG und SGGG (S2k-Level, AWMF-Registernummer 015/025, September 2022) – Teil 1 mit Empfehlungen zur Epidemiologie, Ätiologie, Prädiktion, primären und sekundären Prävention der Frühgeburt

Artikel in mehreren Sprachen: English | deutsch
Richard Berger
1   Frauenklinik, Marienhaus Klinikum Neuwied, Neuwied, Germany
,
Harald Abele
2   Frauenklinik, Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen, Germany
,
Franz Bahlmann
3   Frauenklinik, Bürgerhospital Frankfurt, Frankfurt am Main, Germany
,
Klaus Doubek
4   Frauenarztpraxis, Wiesbaden, Germany
,
Ursula Felderhoff-Müser
5   Klinik für Kinderheilkunde I/Perinatalzentrum, Universitätsklinikum Essen, Universität Duisburg-Essen, Essen, Germany
,
Herbert Fluhr
6   Frauenklinik, Universitätsklinikum Graz, Graz, Austria
,
Yves Garnier
7   Frauenklinik, Klinikum Osnabrück, Osnabrück, Germany
,
Susanne Grylka-Baeschlin
8   Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit, Zürich, Switzerland
,
Aurelia Hayward
9   Deutscher Hebammenverband, Karlsruhe, Germany
,
Hanns Helmer
10   Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Medizinische Universität Wien, Wien, Austria
,
Egbert Herting
11   Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Lübeck, Germany
,
Markus Hoopmann
2   Frauenklinik, Universitätsklinikum Tübingen, Tübingen, Germany
,
Irene Hösli
12   Frauenklinik, Universitätsspital Basel, Basel, Switzerland
,
Udo Hoyme
13   Frauenklinik, Ilm-Kreis-Kliniken, Arnstadt, Germany
,
Mirjam Kunze
14   Frauenklinik, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg, Germany
,
Ruben-J. Kuon
15   Frauenklinik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Germany
,
Ioannis Kyvernitakis
16   Frauenklinik, Asklepios Kliniken Hamburg, Hamburg, Germany
,
Wolf Lütje
17   Frauenklinik, Evangelisches Amalie Sieveking-Krankenhaus Hamburg, Hamburg, Germany
,
Silke Mader
18   European Foundation for the Care of Newborn Infants, München, Germany
,
Holger Maul
16   Frauenklinik, Asklepios Kliniken Hamburg, Hamburg, Germany
,
Werner Mendling
19   Frauenklinik, Helios Universitätsklinikum Wuppertal, Wuppertal, Germany
,
Barbara Mitschdörfer
20   Bundesverband das frühgeborene Kind, Frankfurt am Main, Germany
,
Monika Nothacker
21   Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, Berlin, Germany
,
Dirk Olbertz
22   Klinik für Neonatologie, Klinikum Südstadt Rostock, Rostock, Germany
,
Andrea Ramsell
9   Deutscher Hebammenverband, Karlsruhe, Germany
,
Werner Rath
23   Emeritus, Universitätsklinikum Aachen, Aachen, Germany
,
Claudia Roll
24   Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln, Universität Witten/Herdecke, Datteln, Germany
,
Dietmar Schlembach
25   Klinik für Geburtsmedizin, Klinikum Neukölln/Berlin Vivantes Netzwerk für Gesundheit, Berlin, Germany
,
Ekkehard Schleußner
26   Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany
,
Florian Schütz
27   Frauenklinik, Diakonissen-Stiftungs-Krankenhaus Speyer, Speyer, Germany
,
Vanadin Seifert-Klauss
28   Frauenklinik, Universitätsklinikum rechts der Isar München, München, Germany
,
Johannes Stubert
29   Frauenklinik, Universitätsklinikum Rostock, Rostock, Germany
,
Daniel Surbek
30   Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital Bern, Universität Bern, Bern, Switzerland
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Ziel Überarbeitete Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG) und der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG). Ziel der Leitlinie ist es, die Prädiktion, die Prävention und das Management der Frühgeburt anhand der aktuellen Literatur, der Erfahrung der Mitglieder der Leitlinienkommission einschließlich der Sicht der Selbsthilfe evidenzbasiert zu verbessern.

Methoden Anhand der internationalen Literatur entwickelten die Mitglieder der beteiligten Fachgesellschaften und Organisationen zahlreiche Empfehlungen und Statements. Diese wurden in einem formalen Prozess (strukturierte Konsensuskonferenzen mit neutraler Moderation, schriftliche Delphi-Abstimmung) verabschiedet.

Empfehlungen Der Teil 1 dieser Kurzversion der Leitlinie zeigt Statements und Empfehlungen zur Epidemiologie, Ätiologie, der Prädiktion sowie der primären und sekundären Prävention der Frühgeburt.


I  Leitlinieninformationen

Leitlinienprogramm

Informationen hierzu finden Sie am Ende der Leitlinie.


Zitierweise

Prevention and Therapy of Preterm Birth. Guideline of the DGGG, OEGGG and SGGG (S2k-Level, AWMF Registry Number 015/025, September 2022) – Part 1 with Recommendations on the Epidemiology, Etiology, Prediction, Primary and Secondary Prevention of Preterm Birth. Geburtsh Frauenheilk 2023; 83: 547–568


Leitliniendokumente

Die vollständige Langfassung, eine Kurzfassung und eine DIA-Version dieser Leitlinie sowie eine Aufstellung der Interessenkonflikte aller Autoren und ein Leitlinienreport zum methodischen Vorgehen inkl. des Interessenkonfliktmanagements befinden sich auf der Homepage der AWMF: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-025.html


Leitliniengruppe

Siehe [Tab. 1] und [2].

Tab. 1 Federführender und/oder koordinierender Leitlinienautor.

Autor

AWMF-Fachgesellschaft

Prof. Dr. Richard Berger

DGGG

Tab. 2 Beteiligte Leitlinienautoren/-innen.

Autor/-in

Mandatsträger/-in

DGGG-Arbeitsgemeinschaft (AG)/AWMF/Nicht-AWMF-Fachgesellschaft/Organisation/Verein

Prof. Dr. Harald Abele

AGG Sektion Frühgeburt

Prof. Dr. Franz Bahlmann

DEGUM

Prof. Dr. Richard Berger

DGGG

Dr. Klaus Doubek

BVF

Prof. Dr. Ursula Felderhoff-Müser

GNPI

Prof. Dr. Herbert Fluhr

AGIM

PD Dr. Dr. Yves Garnier

AGG Sektion Frühgeburt

Prof. Dr. Susanne Grylka-Baeschlin

DGHWi

Aurelia Hayward

DHV

Prof. Dr. Hanns Helmer

OEGGG

Prof. Dr. Egbert Herting

DGKJ

Prof. Dr. Markus Hoopmann

ARGUS

Prof. Dr. Irene Hösli

SGGG

Prof. Dr. Dr. h. c. Udo Hoyme

AGII

Prof. Dr. Ruben-J. Kuon

DGGG

Dr. Wolf Lütje

DGPFG

Silke Mader

EFCNI

Prof. Dr. Holger Maul

DGPM

Prof. Dr. Werner Mendling

AGII

Barbara Mitschdörfer

Bundesverband „Das frühgeborene Kind“

PD Dr. Dirk Olbertz

GNPI

Andrea Ramsell

DHV

Prof. Dr. Werner Rath

DGPGM

Prof. Dr. Claudia Roll

DGPM

PD Dr. Dietmar Schlembach

AGG Sektion Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen und fetale Wachstumsrestriktion

Prof. Dr. Ekkehard Schleußner

DGPFG

Prof. Dr. Florian Schütz

AGIM

Prof. Dr. Vanadin Seifert-Klauss

DGGEF

Prof. Dr. Daniel Surbek

SGGG

Die folgenden Fachgesellschaften/Arbeitsgemeinschaften/Organisationen/Vereine haben Interesse an der Mitwirkung bei der Erstellung des Leitlinientextes und der Teilnahme an der Konsensuskonferenz bekundet und Vertreter dafür benannt ([Tab. 2]).

Zusätzlich wirkten als Autoren an der Revision der Leitlinie Frau PD Dr. Mirjam Kunze, Prof. Dr. Jannis Kyvernitakis und Prof. Dr. Johannes Stubert mit. Eine Beteiligung an der Abstimmung der Empfehlungen und Statements fand nicht statt.



II  Leitlinienverwendung

Fragestellung und Ziele

Ziel der Leitlinie ist eine optimierte Betreuung von Patientinnen mit drohender Frühgeburt im ambulanten wie im stationären Versorgungssektor, um eine Senkung der Frühgeburtenrate zu erreichen. Bei nicht mehr aufzuhaltender Frühgeburt wird eine Reduktion der perinatalen bzw. neonatalen Morbidität und Mortalität angestrebt. Hierdurch soll auch die psychomotorische und kognitive Entwicklung frühgeborener Kinder verbessert werden.


Versorgungsbereich

Ambulanter und/oder stationärer Versorgungsbereich.


Anwenderzielgruppe/Adressaten

Die Empfehlungen der Leitlinie richten sich an Gynäkologinnen/Gynäkologen in der Niederlassung, Gynäkologinnen/Gynäkologen mit Klinikanstellung, Kinderärztinnen/Kinderärzten mit Klinikanstellung, Hebammen in der Niederlassung und Hebammen mit Klinikanstellung. Weitere Adressaten sind Interessenvertretungen der betroffenen Frauen und Kinder, Pflegekräfte (Geburtshilfe/Wochenbett, Kinderintensivstation), medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften und Berufsverbände, Qualitätssicherungseinrichtungen (z. B. IQTIG), gesundheitspolitische Einrichtungen und Entscheidungsträger auf Bundes- und Landesebene, Kostenträger.


Verabschiedung und Gültigkeitsdauer

Die Gültigkeit dieser Leitlinie wurde durch die Vorstände/Verantwortlichen der beteiligten medizinischen Fachgesellschaften, Arbeitsgemeinschaften, Organisationen und Vereine sowie durch den Vorstand der DGGG, SGGG, OEGGG sowie der DGGG/OEGGG/SGGG-Leitlinienkommission im September 2022 bestätigt und damit in ihrem gesamten Inhalt genehmigt. Diese Leitlinie besitzt eine Gültigkeitsdauer vom 01.10.2022 bis 30.09.2025. Diese Dauer ist aufgrund der inhaltlichen Zusammenhänge geschätzt. Bei dringendem Bedarf kann eine Leitlinie früher aktualisiert werden, bei weiterhin aktuellem Wissensstand kann ebenso die Dauer verlängert werden.



III  Methodik

Grundlagen

Die Methodik zur Erstellung dieser Leitlinie wird durch die Vergabe der Stufenklassifikation vorgegeben. Das AWMF-Regelwerk (Version 2.0) gibt entsprechende Regelungen vor. Es wird zwischen der niedrigsten Stufe (S1), der mittleren Stufe (S2) und der höchsten Stufe (S3) unterschieden. Die niedrigste Klasse definiert sich durch eine Zusammenstellung von Handlungsempfehlungen, erstellt durch eine nicht repräsentative Expertengruppe. Im Jahr 2004 wurde die Stufe S2 in die systematische evidenzrecherchebasierte (S2e) oder strukturelle konsensbasierte Unterstufe (S2k) gegliedert. In der höchsten Stufe S3 vereinigen sich beide Verfahren. Diese Leitlinie entspricht der Stufe: S2k.


Empfehlungsgraduierung

Die Evidenzgraduierung nach systematischer Recherche, Selektion, Bewertung und Synthese der Evidenzgrundlage und eine daraus resultierende Empfehlungsgraduierung einer Leitlinie auf S2k-Niveau ist nicht vorgesehen. Es werden die einzelnen Statements und Empfehlungen nur sprachlich – nicht symbolisch – unterschieden ([Tab. 3]).

Tab. 3 Graduierung von Empfehlungen (deutschsprachig).

Beschreibung der Verbindlichkeit

Ausdruck

starke Empfehlung mit hoher Verbindlichkeit

soll/soll nicht

einfache Empfehlung mit mittlerer Verbindlichkeit

sollte/sollte nicht

offene Empfehlung mit geringer Verbindlichkeit

kann/kann nicht


Statements

Sollten fachliche Aussagen nicht als Handlungsempfehlungen, sondern als einfache Darlegung Bestandteil dieser Leitlinie sein, werden diese als „Statements“ bezeichnet. Bei diesen Statements ist die Angabe von Evidenzgraden nicht möglich.


Konsensusfindung und Konsensusstärke

Im Rahmen einer strukturierten Konsenskonferenz nach dem NIH-Typ (S2k/S3-Niveau) stimmen die berechtigten Teilnehmer der Sitzung die ausformulierten Statements und Empfehlungen ab. Der Ablauf war wie folgt: Vorstellung der Empfehlung, inhaltliche Nachfragen, Vorbringen von Änderungsvorschlägen, Abstimmung aller Änderungsvorschläge. Bei Nichterreichen eines Konsensus (> 75% der Stimmen), Diskussion und erneute Abstimmung. Abschließend wird abhängig von der Anzahl der Teilnehmer die Stärke des Konsensus ermittelt ([Tab. 4]).

Tab. 4 Einteilung zur Zustimmung der Konsensusbildung.

Symbolik

Konsensusstärke

prozentuale Übereinstimmung

+++

starker Konsens

Zustimmung von > 95% der Teilnehmer

++

Konsens

Zustimmung von > 75 – 95% der Teilnehmer

+

mehrheitliche Zustimmung

Zustimmung von > 50 – 75% der Teilnehmer

kein Konsens

Zustimmung von < 50% der Teilnehmer


Expertenkonsens

Wie der Name bereits ausdrückt, sind hier Konsensusentscheidungen speziell für Empfehlungen/Statements ohne vorige systemische Literaturrecherche (S2k) oder aufgrund von fehlenden Evidenzen (S2e/S3) gemeint. Der zu benutzende Expertenkonsens (EK) ist gleichbedeutend mit den Begrifflichkeiten aus anderen Leitlinien wie „Good Clinical Practice“ (GCP) oder „klinischer Konsensuspunkt“ (KKP). Die Empfehlungsstärke graduiert sich gleichermaßen wie bereits im Kapitel Empfehlungsgraduierung beschrieben ohne die Benutzung der aufgezeigten Symbolik, sondern rein semantisch („soll“/„soll nicht“ bzw. „sollte“/„sollte nicht“ oder „kann“/„kann nicht“).


Sondervotum SGGG

Zu 1 Definition und Epidemiologie

In Bezug auf die Betreuung an der Grenze der Lebensfähigkeit wird auf die gemeinsam mit den Neonatologen erarbeitete Empfehlung der Schweiz verwiesen. Begründung: Die Empfehlungen in der Schweiz divergieren in mehreren Aspekten von den Empfehlungen in Deutschland. Sie sind aktuell in Überarbeitung [1].


Zu 3.2.3 Indikation zur Zervixlängenmessung

In Einzelfällen kann eine Untersuchung auch bei asymptomatischen Frauen durchgeführt werden. Dies ist im Abschnitt weiter unten „Asymptomatische Patientinnen“ wie folgt formuliert: „Die vaginalsonografische Messung der Zervixlänge kann bei asymptomatischen Schwangeren ohne Risikofaktoren für eine spontane Frühgeburt erfolgen.“ Begründung: Betonung dieses Umstandes ist für die Schweiz wichtig, da hier vielerorts die vaginalsonografische Messung im Rahmen des Zweittrimester-Screenings praktiziert wird.

Empfehlung 4.E12: Eine prophylaktische Zerklage kann angeboten werden bei Frauen mit vorausgegangener Frühgeburt < 34 SSW oder mehreren vorausgegangenen Spätaborten. Es gibt keine Evidenz zur Empfehlung einer Zerklage bei vorausgegangener Frühgeburt nach 34 SSW.

Tab. 5 Risikofaktoren für eine Frühgeburt (Daten aus [3], [9], [10], [11], [12], [13], [14], [15]).

Risikofaktor

OR

95%-KI

SARS-CoV-2: Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus Type 2

Z. n. spontaner Frühgeburt

3,6

3,2 – 4,0

Z. n. medizinisch indizierter Frühgeburt

1,6

1,3 – 2,1

Z. n. Konisation

1,7

1,24 – 2,35

Schwangerschaftsintervall < 12 Monate nach vorangegangener Frühgeburt

4,2

3,0 – 6,0

Schwangere < 18 Jahre

1,7

1,02 – 3,08

ungünstige sozioökonomische Lebensbedingungen

1,75

1,65 – 1,86

Mutter alleinstehend

1,61

1,26 – 2,07

bakterielle Vaginose

1,4

1,1 – 1,8

asymptomatische Bakteriurie

1,5

1,2 – 1,9

vaginale Blutung in der Frühschwangerschaft

2,0

1,7 – 2,3

vaginale Blutung in der Spätschwangerschaft

5,9

5,1 – 6,9

Zwillingsschwangerschaft

ca. 6

Rauchen

1,7

1,3 – 2,2

Parodontitis

2,0

1,2 – 3,2

Anämie

1,5

1,1 – 2,2

subklinische Hypothyreose

1,29

1,01 – 1,64

SARS-CoV-2

1,2 (D) [16]

1,47 (China) [17]

1,6 (Schweden) [18]

2,17 (England) [19]

1,82 (Metaanalyse) [20]

1,38 – 2,39




IV  Leitlinie

1  Definition

Konsensbasiertes Statement 1.S1

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Frühgeburt ist definiert als Entbindung vor 37 + 0 SSW. Sie trägt wesentlich zur perinatalen Morbidität und Mortalität bei.

Die Frühgeburt ist definiert als eine Geburt vor abgeschlossenen 37 SSW. Die Grenze der Lebensfähigkeit wird länder- und kulturabhängig unterschiedlich konsentiert. Für Deutschland verweisen wir auf die Leitlinie „Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit 024-019“. Die Frühgeburt trägt wesentlich zur perinatalen Morbidität und Mortalität bei. Jährlich sterben weltweit 965 000 frühgeborene Kinder in der Neonatalperiode und weitere 125 000 in den ersten 5 Lebensjahren infolge einer Frühgeburt. Die Frühgeburt ist einer der Hauptrisikofaktor für Disability-adjusted Life Years (verlorene Jahre aufgrund von Krankheit, Behinderung oder frühem Tod) [2].

Konsensbasiertes Statement 1.S2

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Frühgeburtenrate in Deutschland betrug 2020 8,0%. Sie liegt in Europa zwischen 5,4 und 12,0%.

Die Frühgeburtenrate < 37 SSW in Deutschland liegt seit 2008 stabil um 8%. Im Jahr 2020 betrug sie 8,0% [3]. In Österreich lag sie 2020 bei 7,2% [4] und in der Schweiz 2020 bei 6,4% [5]. Die höchste Frühgeburtenrate hat Zypern mit 12,0%. Die geringste Frühgeburtenrate weist Litauen mit 5,4% auf [6].


2  Ätiologie

Konsensbasiertes Statement 2.S3

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [7]

Etwa zwei Drittel aller Frühgeburten sind die Folge vorzeitiger Wehentätigkeit mit oder ohne frühen vorzeitigen Blasensprung (spontane Frühgeburten).

Konsensbasiertes Statement 2.S4

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [7]

Die Ätiologie der spontanen Frühgeburt ist multifaktoriell. Verschiedene pathophysiologische Signalwege aktivieren einen gemeinsamen Wirkmechanismus („Common Pathway“), der sich klinisch in vorzeitiger Wehentätigkeit und Eröffnung des Muttermundes äußert.

Konsensbasiertes Statement 2.S5

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [7]

Eine Frühgeburt kann mit einer bakteriell oder viral induzierten Inflammation, dezidualen Blutung, vaskulären Erkrankungen, dezidualen Seneszenz, gestörten materno-fetalen Immuntoleranz, einem „funktionellen Progesteronentzug“ oder einer Überdehnung des Myometriums assoziiert sein.


3  Prädiktion

3.1  Risikofaktoren

Konsensbasierte Empfehlung 3.E1

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Perikonzeptionell, spätestens jedoch zu Beginn der Schwangerenvorsorge sollen potenzielle Risikofaktoren erfasst werden. Beeinflussbare Risikofaktoren sollen dabei besonders berücksichtigt werden. Die Untersuchungsintervalle sollen dem individuellen Risiko für eine Frühgeburt angepasst werden, um Präventionsstrategien zu ermöglichen.

Konsensbasierte Empfehlung 3.E2

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Bei Patientinnen mit einem erhöhten Risikoprofil kann Aufklärungsmaterial, z. B. die Patientenleitlinie „Frühgeburt: Was Sie als werdende Eltern wissen sollten“, als Beratungsgrundlage verwendet werden.

Bei einem erhöhten Risikoprofil kann die Patientenleitlinie „Frühgeburt: Was Sie als werdende Eltern wissen sollten“ als Beratungsgrundlage sehr hilfreich sein [8].

3.1.1  SARS-CoV-2-Infektion

Konsensbasiertes Statement 3.S6

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [16]

Die Infektion mit SARS-CoV-2 führt in Abhängigkeit vom Schweregrad zu einer unterschiedlichen Erhöhung des Risikos für eine Frühgeburt.

Konsensbasiertes Statement 3.S7

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [21]

Die Impfung gegen SARS-CoV-2 führt nicht zu einer Erhöhung des Risikos einer Frühgeburt.

Konsensbasiertes Statement 3.S8

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Impfung gegen SARS-CoV-2 schützt vor schweren symptomatischen Verläufen und verhindert vermutlich so eine Steigerung des Frühgeburtsrisikos durch SARS-CoV-2.



3.2  Zervixlänge

3.2.1  Messtechnik

Konsensbasierte Empfehlung 3.E3

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Beim Einsatz der Vaginalsonografie zur Messung der Zervixlänge für die Prädiktion der Frühgeburt soll die Messtechnik exakt beachtet werden.

Eine Vorgehensweise zur möglichst standardisierten Messtechnik wurde durch Kagan und Sonek ausführlich dargelegt [22].


3.2.2  Die normale und die verkürzte Cervix uteri

Konsensbasiertes Statement 3.S9

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [23]

Bei Einlingsschwangerschaften liegt die mediane vaginalsonografisch gemessene Zervixlänge vor 22 SSW bei > 40 mm, zwischen 22 und 32 SSW bei 40 mm und nach 32 SSW bei etwa 35 mm.

Konsensbasiertes Statement 3.S10

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [24]

Eine vaginalsonografisch gemessene Zervixlänge von ≤ 25 mm gilt unterhalb von 34 + 0 SSW als verkürzt.


3.2.3  Indikationen zur Zervixlängenmessung

Konsensbasierte Empfehlung 3.E4

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Ein generelles Screening auf eine verkürzte Zervixlänge mittels Vaginalsonografie sollte bei asymptomatischen Schwangeren ohne Risikofaktoren für eine spontane Frühgeburt nicht erfolgen.

Einer einzelnen großen Kohortenstudie zufolge geht ein universelles Screening bei Einlingsschwangeren ohne vorherige Frühgeburt mit einer zwar geringen, jedoch signifikanten Senkung der Frühgeburtenraten < 37, < 34 und < 32 SSW einher (Frühgeburt < 37 SSW: 6,7 vs. 6,0%; adjustierte Odds Ratio [AOR] 0,82 [95%-KI 0,76 – 0,88]), < 34 SSW (1,9 vs. 1,7%; AOR 0,74 [95%-KI 0,64 – 0,85]), und < 32 SSW (1,1 vs. 1,0%; AOR 0,74 [95%-KI 0,62 – 0,90]) [25]. Ob diese Studie am Ergebnis des Cochrane Reviews aus dem Jahr 2013 etwas ändert, wonach ein routinemäßiges Screening der Zervixlänge bei allen (asymptomatischen und sogar symptomatischen) Schwangeren nicht empfohlen wird, weil die Kenntnis des Zervixbefundes zu einer nicht signifikanten Reduktion der Frühgeburtenrate < 37 SSW führt [26], bleibt abzuwarten, ist aber sehr unwahrscheinlich. Fest steht nämlich, dass Daten, die einen Einfluss der Zervixlängenmessung auf den in der Perinatologie entscheidenden Parameter der perinatalen Mortalität belegen könnten, nicht vorhanden sind. Der Cochrane-Review aus 2013 konnte, sofern Daten überhaupt verfügbar waren, jedenfalls keine Unterschiede hinsichtlich der Parameter perinatale Mortalität, Frühgeburt unterhalb von 34 oder 28 SSW, Geburtsgewicht < 2500 g, maternale Hospitalisation, Tokolyse, Applikation antenataler Steroide finden [26].

Konsensbasierte Empfehlung 3.E5

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Eine vaginalsonografische Messung der Zervixlänge sollte bei symptomatischen Schwangeren (spontane regelmäßige vorzeitige Wehen) und/oder bei Schwangeren mit Risikofaktoren für eine spontane Frühgeburt in das therapeutische Konzept einbezogen werden.

Konsensbasiertes Statement 3.S11

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [27], [28], [29], [30], [31]

Der Nutzen serieller vaginalsonografischer Messungen der Zervixlänge ist weder für asymptomatische noch für symptomatische Schwangere durch prospektiv randomisierte Studien belegt.

Asymptomatische Patientinnen

Konsensbasierte Empfehlung 3.E6

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

* Im Gegensatz zu Empfehlung 3.E4 bezieht sich diese Aussage auf die vaginalsonografische Messung außerhalb eines Screeningprogrammes.

Die vaginalsonografische Messung der Zervixlänge kann bei asymptomatischen Schwangeren ohne Risikofaktoren für eine spontane Frühgeburt erwogen werden.*

Konsensbasierte Empfehlung 3.E7

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [32], [33]

Bei asymptomatischen Frauen mit Einlingsschwangerschaften und spontaner Frühgeburt oder Spätabort in der Anamnese sollte eine vaginalsonografische Zervixlängenmessung ab 16 SSW erfolgen.

Konsensbasierte Empfehlung 3.E8

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [34], [35], [36], [37]

Bei asymptomatischen Frauen mit Zwillingsschwangerschaft sollte eine vaginalsonografische Zervixlängenmessung ab 16 SSW erfolgen.


Symptomatische Patientinnen

Konsensbasierte Empfehlung 3.E9

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [38], [39], [40], [41]

Bei symptomatischen Frauen (Kontraktionen, palpatorisch beginnende Verkürzung oder beginnende Eröffnung des Muttermunds) soll eine vaginalsonografische Zervixlängenmessung erfolgen.




3.3  Biomarker

Konsensbasiertes Statement 3.S12

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [42]

Die bisher verfügbaren Biomarker sind nicht geeignet, das Frühgeburtsrisiko bei asymptomatischen Schwangeren und nicht verkürzter vaginalsonografisch gemessener Zervixlänge vorherzusagen.

Konsensbasierte Empfehlung 3.E10

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [43], [44]

Bei asymptomatischen Schwangeren mit Risikofaktoren für eine spontane Frühgeburt sollte kein Einsatz von Biomarkern zur Einschätzung des Frühgeburtsrisiko erfolgen.

Bei asymptomatischen Schwangeren ohne Risikofaktoren für eine spontane Frühgeburt soll kein Einsatz von Biomarkern zur Einschätzung des Frühgeburtsrisiko erfolgen.

Konsensbasiertes Statement 3.S13

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

* negativer Vorhersagewert

Literatur: [45], [46], [47], [48], [49], [50]

Bei symptomatischen Schwangeren kann – neben der vaginalsonografischen Zervixlängenmessung – der negative prädiktive Wert* der Biomarker aus dem zervikovaginalen Sekret bei einer Zervixlänge zwischen 15 und 30 mm dazu beitragen, das Frühgeburtsrisiko für die nächsten 7 Tage einzuschätzen.



4  Primäre Prävention

4.1  Progesteron

Konsensbasierte Empfehlung 4.E11

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [51], [52], [53], [54], [55]

Bei Frauen mit Einlingsschwangerschaft kann nach vorangegangener spontaner Frühgeburt eine Gabe von Progesteron beginnend ab 16 + 0 SSW bis 36 + 0 SSW erwogen werden.

Dosierung: 17-OHPC (17 α-hydroxyprogesterone caproate) wird i. m. in einer wöchentlichen Dosierung von 250 mg appliziert [51]. Progesteron wird in den Studien teils oral (200 – 400 mg täglich), teils vaginal (90 mg Gel, 100 – 200 mg Kapsel täglich) angewendet [52], [53], [56], [57], [58].


4.2  Zerklage/totaler Muttermundsverschluss

Konsensbasierte Empfehlung 4.E12

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Bei Frauen mit Einlingsschwangerschaft nach vorangegangener spontaner Frühgeburt bzw. Spätabort(en) kann die Anlage einer primären (prophylaktischen) Zerklage erwogen werden. Der Eingriff sollte ab dem frühen 2. Trimenon vorgenommen werden.

Der Nutzen einer sekundären Zerklage bei Frauen mit Z. n. Frühgeburt und Verkürzung der Zervixlänge auf ≤ 25 mm vor 24 + 0 SSW steht mittlerweile außer Frage. In der Beratung von Patientinnen mit Z. n. Frühgeburt wird man jedoch auch häufig mit der Frage konfrontiert, inwieweit eine frühe Zerklageanlage vor Auftreten einer Zervixverkürzung wirksam sein könnte. Weder für die Prävalenz der Frühgeburt noch für die perinatale Mortalität konnte bei diesem Vorgehen gegenüber einer sekundären Zerklage ein Nachteil beobachtet werden [59]. Durch ein abwartendes Verhalten kann allerdings die Zahl der operativen Eingriffe um 58% reduziert werden.

Konsensbasiertes Statement 4.S14

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Bei Frauen mit Einlingsschwangerschaft nach vorangegangener spontaner Frühgeburt bzw. Spätabort(en) gibt es Hinweise, dass die Anlage eines totalen Muttermundverschlusses (TMMV) die Rate an Frühgeburten reduzieren kann. Der Eingriff sollte im frühen 2. Trimenon vorgenommen werden.

In einer 1996 publizierten Arbeit wurden die Ergebnisse von 11 deutschen Kliniken zum TMMV erörtert [60]. Diese retrospektiven Untersuchungen zeigen bei Frauen mit Z. n. Frühgeburt eine signifikante Verlängerung der Schwangerschaftsdauer nach Anlage eines TMMV. Bis heute stehen keine randomisierten, prospektiven Studien zur Verfügung, die den Nutzen eines TMMV bei Verkürzung der Zervixlänge auf unter 15 mm absichern. Die Operationstechnik zum TMMV unterscheidet sich in den internationalen Zentren erheblich, sodass eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse erschwert ist.

Konsensbasiertes Statement 4.S15

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Bei Frauen mit Einlingsschwangerschaft, die in einer vorangegangenen Schwangerschaft trotz Anlage einer primären oder sekundären vaginalen Zerklage einen Spätabort oder eine Frühgeburt < 28 SSW erlitten haben, ist die primäre abdominale Zerklage eine Option, um das Frühgeburtsrisiko zu reduzieren. Die Anlage der Zerklage soll vor der Schwangerschaft und in einem Zentrum mit einschlägiger Erfahrung erfolgen.

Eine prospektiv randomisierte Studie verglich bei Frauen, die in einer vorangegangenen Schwangerschaft trotz Anlage einer vaginalen Zerklage einen Spätabort oder eine extreme Frühgeburt erlitten hatten, den Effekt einer abdominalen (n = 39) mit der einer hohen (n = 39) oder einer tiefen vaginalen Zerklage (n = 33). Die abdominale Zerklage wurde per Laparotomie durchgeführt. Die Frühgeburtenrate < 32 SSW war nach abdominaler Zerklage signifikant niedriger als nach tiefer vaginaler (8% [3/39] vs. 38% [15/39]; RR 0,23, 95%-KI 0,07 – 0,76). Die Number Needed to Treat für die Vermeidung einer Frühgeburt lag bei 3,9 (95%-KI 2,2 – 13,3). Es bestand kein Unterschied in der Frühgeburtenrate zwischen hoher und tiefer vaginaler Zerklage (38% [15/39] vs. 33% [11/33]; RR 1,15 (95%-KI 0,62 – 2,16) [61], [62].

Ein in 2022 publizierter systematischer Review und Metaanalyse mit 43 Studien zeigte, dass durch eine abdominale Zerklage per Laparoskopie ein Zugewinn von im Mittel 14,86 SSW und per Laparotomie von 12,79 SSW beobachtet werden konnte [63].

In einer Serie von 69 Patientinnen berichteten Ades et al. von 4 Komplikationen bei abdominaler Zerklage per Laparotomie (4/18). In 3 Fällen lag eine Blutung mit einem Volumenverlust von 250 – 300 ml vor, in 1 Fall eine Wundinfektion. Bei abdominaler Zerklage per Laparoskopie beobachteten sie nur eine Komplikation (1/51). Hierbei handelte es sich um eine Blasenverletzung, die intraoperativ versorgt wurde. In der Laparoskopiegruppe war keine Konversion auf eine Laparotomie notwendig [64].


4.3  Bakterielle Vaginose

Konsensbasiertes Statement 4.S16

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Eine von Laktobazillen dominierte vaginale Mikrobiota mit normalen pH-Werten übt eine protektive Wirkung auf den Schwangerschaftsverlauf hinsichtlich Frühgeburt oder Spätabort aus.

Konsensbasierte Empfehlung 4.E13

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Schwangere mit symptomatischer bakterieller Vaginose sollten aufgrund ihrer Beschwerden antibiotisch behandelt werden.

Konsensbasiertes Statement 4.S17

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Diagnostik (einschließlich von Surrogatparametern wie dem vaginalen pH-Wert) auf eine asymptomatische und symptomatische bakterielle Vaginose und deren Behandlung senkt die Rate an Frühgeburten nicht generell.

Konsensbasiertes Statement 4.S18

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Es gibt Hinweise, dass die Diagnostik und Behandlung einer asymptomatischen und symptomatischen bakteriellen Vaginose vor 23 + 0 SSW die Rate an Frühgeburten < 37 + 0 SSW senkt.

Zahlreiche Metaanalysen von Fallkontroll- und Kohortenstudien belegen, dass eine Assoziation zwischen Infektionen des Genitaltrakts und dem Auftreten von Frühgeburten besteht [65], [66]. Die Frage allerdings, ob die Therapie einer Infektion – vor allem einer subklinischen – die Frühgeburtenrate senkt [65], [67], ist nicht eindeutig zu belegen. Bis heute gibt es nur eine einzige Studie [68], bei der mithilfe einer Gramfärbung zu Beginn des 2. Trimenons auf bakterielle Vaginose gescreent und der Befund dann randomisiert entweder mitgeteilt oder nicht mitgeteilt und danach entsprechend therapiert wurde (bei Befundmitteilung mit Clindamycin). Im „Mitteilungsarm“ der Studie lag die Frühgeburtenrate < 37 SSW bei 3,0% vs. 5,3% im „Nichtmitteilungsarm“ und war damit signifikant unterschiedlich. Die Studie ist bislang die einzige, die in den Cochrane-Review zu einem höchst relevanten Thema eingeschlossen werden konnte und somit dessen Ergebnis bestimmt. Hier heißt es in der Überarbeitung von 2015 [69]: „There is evidence from one trial that infection screening and treatment programs for pregnant women before 20 weeksʼ gestation reduce preterm birth and preterm low birthweight.“

Vor Kurzem wurde der PREMEVA-Trial publiziert [70]. Über 84 000 Schwangere wurden vor Abschluss von 14 SSW auf bakterielle Vaginose gescreent. Bei 5360 Schwangeren wurde eine bakterielle Vaginose nachgewiesen, definiert als Nugent Score 7 – 10. Schwangere mit bakterieller Vaginose ohne besonderes Frühgeburtsrisiko wurden dann 2 : 1 in 3 Gruppen randomisiert: Einzelzyklus (n = 943) oder Dreifachzyklus (n = 968) 300 mg Clindamycin 2 × täglich über 4 Tage oder Placebo (n = 958). Frauen mit hohem Frühgeburtsrisiko wurden separat 1 : 1 randomisiert: Einzelzyklus (n = 122) oder Dreifachzyklus (n = 114) 300 mg Clindamycin 2 × täglich. Als primäres Outcome war Spätabort zwischen 16 und 21 SSW oder frühe Frühgeburt zwischen 22 und 32 SSW definiert.

Bei den 2869 Schwangeren ohne besonderes Risiko kam es bei 22 (1,2%) in der Clindamycingruppe bzw. 10 (1,0%) in der Placebogruppe zu einem Spätabort oder zu einer frühen Frühgeburt (RR 1,10, 95%-KI 0,53 – 2,32; p = 0,82). Bei den 236 Schwangeren mit hohem Frühgeburtsrisiko trat bei 5 (4,4%) in der Gruppe, die 3 Zyklen Clindamycin erhalten hatten, und bei 8 (6,0%) in der Gruppe, die 1 Zyklus erhalten hatten, ein Spätabort oder eine frühe Frühgeburt auf (RR 0,67, 95%-KI 0,23 – 2,00; p = 0,47). Nebenwirkungen wurden bei den Schwangeren ohne besonderes Risiko in den Clindamycingruppen signifikant häufiger beobachtet als in der Placebogruppe (58 [3,0%] von 1904 vs. 12 [1,3%] von 956; p = 0,0035). Die häufigsten Nebenwirkungen waren Diarrhö und Bauchschmerzen.

Die Autoren schlussfolgern aus ihren Ergebnissen, dass ein Screening auf bakterielle Vaginose und ggf. Therapie mit Clindamycin bei Patientinnen mit niedrigem Risiko für Frühgeburt das Primary Outcome nicht senkt.

Bei der im November 2016 im Freistaat Thüringen von der Landesregierung und dem Berufsverband der Frauenärzte begonnenen und auf pH-Screening > 14 SSW basierenden Frühgeburtenvermeidungsaktion war eine kontinuierliche Reduktion der frühen Frühgeburten (≤ 32 + 0 SSW) von 1,46% auf 1,10% im Jahr 2020 zu beobachten gewesen [71]. Ein derart deutlicher Rückgang war in keinem vergleichbaren anderen Bundesland zu verzeichnen, war aber vergleichbar mit den Daten aus Thüringen aus dem Jahr 2000 [72] sowie bundesweit 2011 [73]. Was im Einzelnen zu diesen Ergebnissen geführt hat, ist aus dem strategischen Screening-Ansatz nicht abzuleiten.

Konsensbasierte Empfehlung 4.E14

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Wirksamkeit einer Bestimmung des Mikrobioms (z. B. zur Bewertung des Frühgeburtsrisikos oder dessen Beeinflussung) ist nicht belegt. Diese Diagnostik sollte daher nur in kontrollierten Studien erfolgen.


4.4  Präventionsprogramme

Konsensbasiertes Statement 4.S19

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [74]

Die Wirksamkeit multimodaler Präventionsprogramme und Risiko-Scoring-Systeme ist nicht ausreichend belegt.


4.5  Nikotinentzug

Konsensbasiertes Statement 4.S20

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [75], [76]

Nikotinentzug reduziert die Frühgeburtsrate.


4.6  Asymptomatische Bakteriurie

Konsensbasiertes Statement 4.S21

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Eine asymptomatische Bakteriurie ist ein signifikanter Risikofaktor für Frühgeburt. Aufgrund der unzureichenden Datenlage wird derzeit kein generelles Screening ausschließlich zur Senkung der Frühgeburtenrate empfohlen.

Konsensbasierte Empfehlung 4.E15

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [77]

Aufgrund der unzureichenden Datenlage kann die Antibiotikatherapie bei asymptomatischer Bakteriurie zur Senkung der Frühgeburtenrate nicht empfohlen werden.


4.7  Supplementierung mit Omega-3 mehrfach ungesättigten Fettsäuren

Konsensbasiertes Statement 4.S22

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Studienlage zur Reduktion der Frühgeburtenrate durch Supplementierung mit Omega-3 mehrfach ungesättigten Fettsäuren (Omega-3-PUFA) ist widersprüchlich.

Die jüngste Metaanalyse 2021 (31 RCT, n = 21 458) ergab beim Vergleich der Supplementation mit Omega-3-PUFA vs. Placebo/keine Supplementation eine 11%ige Reduktion der Frühgeburtenrate < 37 SSW (RR 0,89; 95%-KI 0,82 – 0,96) und von 27% < 34 SSW (RR 0,73; 95%-KI 0,58 – 0,92). Allerdings zeigte die Sensitivitätsanalyse keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen, sodass die Autoren zu dem Schluss kamen, dass die Gabe von Omega-3-PUFA die Frühgeburtenrate nicht senkt [78].



5  Sekundäre Prävention

5.1  Progesteron

Konsensbasierte Empfehlung 5.E18

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Frauen mit Einlingsschwangerschaft, deren sonografisch gemessene Zervixlänge vor 24 + 0 SSW ≤ 25 mm beträgt, sollen täglich Progesteron intravaginal bis 36 + 6 SSW erhalten (200 mg Kapsel/tgl. oder 90 mg Gel/tgl.).

Eine Metaanalyse individueller Patientendaten (Individual Patient Data Meta-analysis, IPDMA) aus dem Jahr 2018, welche die Daten des OPPTIMUM-Trials einschließt [52], zeigte bei Schwangeren mit einer asymptomatischen Zervixverkürzung (≤ 25 mm) vor 24 + 0 SSW eine signifikante Reduktion der Frühgeburtenrate und ein verbessertes neonatales Outcome durch vaginales Progesteron [79]. Auch die letzte Metaanalyse individueller Patientendaten zu diesem Thema bestätigt diesen Effekt [80].


5.2  Zerklage

Konsensbasierte Empfehlung 5.E19

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [81]

Bei Frauen mit Einlingsschwangerschaft nach vorangegangener spontaner Frühgeburt bzw. Spätabort, deren vaginalsonografische Zervixlänge vor 24 + 0 SSW ≤ 25 mm beträgt, sollte eine Zerklage gelegt werden.

Konsensbasierte Empfehlung 5.E20

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Falls bei Frauen mit Einlingsschwangerschaft ohne vorangegangene spontane Frühgeburt bzw. Spätabort vaginalsonografisch eine Zervixlänge vor 24 + 0 SSW ≤ 10 mm gemessen wird, kann die Anlage einer Zerklage erwogen werden.

Es gibt Hinweise aus einer retrospektiven Multicenterstudie, dass bei Frauen ohne vorangegangene Frühgeburt, die in der aktuellen Schwangerschaft eine Zervixlänge von weniger als 10 mm vor 24 SSW aufweisen, durch eine Zerklage die Schwangerschaftsdauer verlängert wird [82].


5.3  Zervixpessar

Konsensbasierte Empfehlung 5.E17

Expertenkonsens

Konsensusstärke ++

Bei Frauen mit Einlingsschwangerschaft, deren vaginalsonografisch gemessene Zervixlänge vor 24 + 0 SSW < 25 mm beträgt, kann die Anlage eines Zervixpessars erfolgen.

Eine Metaanalyse von Perez-Lopez et al. 2019 evaluierte 3 RCT (n = 1612) mit definiertem Zielkriterium (Frühgeburtenrate < 34 + 0 SSW). Eingeschlossen wurden Schwangere (Einlingsschwangerschaften) mit sonografischer Zervixverkürzung ≤ 25 mm zwischen 18 + 0 und 22 + 6 SSW mit Pessareinlage versus abwartendem Management. Unter Berücksichtigung aller 3 RCT führte die Pessareinlage zu keiner signifikanten Senkung der Frühgeburtenrate < 34 + 0 SSW (11,6 vs. 18,4%), wohl aber < 37 + 0 SSW (20,8 vs. 47,6%, RR 0,46; 95%-KI 0,28 – 0,77) [83]. Dies konnte in einer weiteren Metaanalyse 2019 nicht bestätigt werden (Frühgeburtenrate < 34 SSW: OR 0,68, 95%-KI 0,2 – 2,29; Frühgeburtenrate < 37 SSW: OR 0,36, 95%-KI 0,09 – 1,48) [84].

Die Heterogenität der Studienergebnisse ist sehr verwunderlich. Sie wird aber zum Teil sicherlich dadurch erklärt, dass nicht immer Pessare verwendet wurden, deren Form und Konsistenz in der Lage waren, den zervikouterinen Winkel nach sakral verlagern und somit präventiv wirken zu können [85]. Auch wirft ein Antibiotikaeinsatz bei bis zu 33% aller Patientinnen in manchen Studien erhebliche Fragen zum geburtshilflichen Management auf [86].

Das Zervixpessar ist eine Intervention mit extrem niedriger Komplikationsrate. Häufig wird ein vermehrter Ausfluss beobachtet, der jedoch keinerlei pathologischen Stellenwert hat.


5.4  Arbeitsbelastung und körperliche Schonung

Konsensbasiertes Statement 5.S23

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Literatur: [87], [88]

Lange Arbeitszeiten, Schichtarbeit, tägliches Stehen oder unveränderte Körperhaltung für mehr als 6 Stunden, schweres Heben und schwere körperliche Arbeit bei berufstätigen schwangeren Frauen sind mit Risiken für eine Frühgeburt verbunden. Der Arbeitgeber hat im Rahmen einer aktuellen individuellen Gefährdungsbeurteilung für jede Schwangere zu prüfen, ob die von ihr ausgeübten beruflichen Tätigkeiten zu einer unverantwortbaren Gefährdung führen. Die Rangfolge der Schutzmaßnahmen ist gesetzlich nach dem MuSchG geregelt: Umgestaltung der Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzwechsel und betriebliches Beschäftigungsverbot. Neben der Dokumentation und Information durch den Arbeitgeber ist eine zusätzliche individuelle ärztliche Beratung unter Berücksichtigung von weiteren Risikofaktoren oder geburtshilflichen Komplikationen anzuraten.

Konsensbasiertes Statement 5.S24

Expertenkonsens

Konsensusstärke +++

Die Datenlage zu häuslicher körperlicher Schonung ist bei schwangeren Frauen mit und ohne Risikofaktoren für Frühgeburt nicht ausreichend, um verlässliche Aussagen zu treffen.




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Conflict of Interest/Interessenkonflikt

The statements of all of the authors about their conflicts of interest are available in the long version of the guideline./Die Interessenkonflikterklärungen aller Autoren finden Sie in der Langversion der Leitlinie.


Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Richard Berger
Marienhaus Klinikum St. Elisabeth
Akademisches Lehrkrankenhaus der Universitäten Mainz und Maastricht
Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe
Friedrich-Ebert-Straße 59
56564 Neuwied
Germany   

Publikationsverlauf

Eingereicht: 15. Januar 2023

Angenommen nach Revision: 22. Januar 2023

Artikel online veröffentlicht:
04. Mai 2023

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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