Schuldzuschreibungen sind das zentrale Element des Stigmas von Suchterkrankungen.
Im
Gegensatz zu Menschen mit anderen psychischen Krankheiten werden Betroffene von
Suchterkrankungen von einer großen Mehrheit der Bevölkerung selbst
für ihre Krankheit verantwortlich gemacht. Nur etwa die Hälfte der
Menschen in Deutschland ordnen eine Alkoholabhängigkeit als Krankheit ein
[1], bei der Verteilung von Ressourcen im
Gesundheitswesen haben Suchtkrankheiten in den Augen der
Allgemeinbevölkerung seit vielen Jahren unverändert die niedrigste
Priorität [2].
Moralisierung führt in ein Dilemma
Moralisierung führt in ein Dilemma
Mehr oder weniger verdeckte Schuldzuschreibungen zeigen sich auch in der klinischen
Kommunikation über Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen. Da wird
etwa in der Übergabe berichtet, ein Patient habe
„zugegeben“, bis zu 4 Bier am Abend zu trinken – hier wird
also implizit eine moralische Norm gesetzt, gegen die der Patient verstoßen
hat. Auch Menschen, die ihren eigenen Alkoholkonsum als unproblematisch
einschätzen, tendieren dazu, beim Hausarzt ihren Alkoholkonsum eher zu
niedrig anzugeben. Man möchte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, mit seinem
eigenen Konsumverhalten gegen die unscharf definierte Norm des akzeptierten Konsums
zu verstoßen. Für Menschen mit einer
Substanzgebrauchsstörung ergibt sich daraus ein Dilemma: Berichten sie
wahrheitsgemäß über ihren Substanzkonsum, setzen sie sich
dem Vorwurf aus, ein Suchtproblem zu haben. Schuldvorwürfe führen zu
Scham und niedrigem Selbstwert. Eine naheliegende Strategie, um den eigenen
Selbstwert zu schützen ist es deshalb, das eigene Konsumverhalten (auch vor
sich selbst) klein zu reden und im therapeutischen Kontakt nicht oder nicht
vollständig offenzulegen. Vor Schuldvorwürfen schützt dies
jedoch nicht: Diese „Bagatellisierung“,
„Verleugnung“, „Verdrängung“, oder das
„Verheimlichen“ von Substanzkonsum vergrößern die
wahrgenommene Schuld des Konsumenten in den Augen des Therapeuten nur noch. Wer
konsumiert und es dann noch nicht einmal zugibt, begeht schon zwei Fehler, die zu
missbilligen sind. Gleichzeitig wird so das Stereotyp des charakterschwachen
„Alkoholikers“ aufrechterhalten und bestärkt.
Beschämung und Entwertung sind Kunstfehler
Beschämung und Entwertung sind Kunstfehler
Die Missbilligung des Konsumverhaltens zieht sich wie ein roter Faden durch die
Kommunikation mit Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen, auch im
Gesundheitswesen [1]. Die Anwesenheit der
suchtkranken Patienten wird häufig als Zumutung empfunden, oft wird durch
verbale und nonverbale Kommunikation deutlich gemacht, dass das Suchtverhalten nicht
gebilligt wird. In welcher Notaufnahme wird ein intoxikierter Mensch mit den Worten
begrüßt: „Gut, dass Sie gekommen sind“?
Missbilligung kann auf vielfältige Weise mehr oder weniger subtil zum
Ausdruck gebracht werden, vom kritischen Gesichtsausdruck über einen
herablassenden Tonfall bis hin zu längeren Wartezeiten [2]. Menschen mit Suchtkrankheiten berichten, dass
es deshalb sehr unangenehm ist, im Falle einer Intoxikation ärztliche oder
therapeutische Hilfe zu suchen [3]. Die
Beschämung und Abwertung bleibt ja nicht unbemerkt, sondern erhöht
als erwartete oder erfahrene Stigmatisierung die Hemmschwelle für die
Inanspruchnahme. Der einfachste Weg, dieser Abwertung zu entgehen ist, das
Hilfesystem so gut es geht zu vermeiden. Jede abfällige Behandlung von
Menschen mit Suchtkrankheiten droht damit, die ohnehin schon sehr lange Dauer bis
zur Inanspruchnahme von Hilfe bei Suchtkrankheiten weiter zu verlängern.
Beschämung kann auch dazu führen, Behandlungen abzubrechen, oder
Substanzkonsum in anderen medizinischen Kontexten zu verheimlichen. Die
schwerwiegenden sozialen und Gesundheitsfolgen von Suchtkrankheiten werden damit
verstärkt. Eine vorwurfsvolle, beschämende Behandlung von Menschen
mit Suchtkrankheiten im Gesundheitssystem ist deshalb keine Privatangelegenheit,
sondern ein Kunstfehler.
Stigmatisierung löst das Problem nicht
Stigmatisierung löst das Problem nicht
Aber wie bekommt man die Schuldvorwürfe aus der Behandlung von
Suchtkrankheiten heraus? Schließlich handelt es sich bei den
Suchtkrankheiten ja um eine Verhaltensstörung, und Verhalten kann nur
verändert werden, wenn Betroffene Verantwortung für ihr Tun
übernehmen. Die moralische Komponente des Stigma von Suchtkrankheiten geht
mit einer Missbilligung des Suchtverhaltens einher. Dies kann als Aufforderung
verstanden werden, Verantwortung zu übernehmen und das Verhalten zu
ändern. Das Stigma von Suchtkrankheiten wäre dann eine Art
„Motivationshilfe“: Man möchte das Gegenüber die
Konsequenzen seines Verhaltens spüren lassen, um einen Anlass für
eine Verhaltensänderung zu geben. Dabei wird anscheindend davon ausgegangen,
dass die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung nur dann erkannt wird, wenn
jemand die „Konsequenzen“ seines Fehlverhaltens spürt, also
Abwertung und Diskriminierung schmerzhaft erlebt. Die Ausgrenzung soll die
Übernahme von Verantwortung durch die Betroffenen erzwingen. Aber ist das
angemessen? Abgesehen von den unerwünschten Wirkungen von Beschämung
und Ausgrenzung – wie steht es um die Verantwortung bei
Suchtkrankheiten?
Ein dynamisches Modell der Verantwortung
Ein dynamisches Modell der Verantwortung
Auf konzeptioneller Ebene gibt das dynamische Modell der Verantwortung bei
Suchtkrankheiten [6] hierauf eine differenzierte
Antwort, indem es der individuellen Verantwortung der Betroffenen eine soziale
Verantwortung des Umfelds und der Gesellschaft [7]
gegenüberstellt. Beide stehen in einer dynamischen Wechselbeziehung ([Abb. 1]). Die Anteile von individueller und
sozialer Verantwortung sind von der Schwere der Abhängigkeitserkrankung bzw.
dem Prozess von Recovery abhängig. Je schwerer das Problem, desto weniger
ist die Person in der Lage, individuelle Verantwortung zu übernehmen.
Umgekehrt geht Recovery mit einer Zunahme der Fähigkeit einher, wieder
selbst Verantwortung für das eigene Konsumverhalten zu übernehmen.
Je nach aktueller Schwere der Abhängigkeitserkrankung befindet sich eine
Person also auf einem Punkt zwischen der linken und rechten Seite des Modells.
Recovery verschiebt die Position nach rechts, eine Verschlechterung des Zustands
nach links. Entsprechend muss im Fall einer schweren Abhängigkeitserkrankung
das soziale Umfeld viel Verantwortung übernehmen. Es muss geschützte
Therapieräume bereitstellen, muss im Notfall die akute Intoxikation
medizinisch versorgen und muss Unterstützung bei der Entwicklung einer
Veränderungsmotivation leisten. Der Prozess von Recovery kann dann als eine
inkrementelle Zunahme der Fähigkeit verstanden werden, wieder selbst
Verantwortung für das eigene Konsumverhalten zu übernehmen. Der
Bedarf an Hilfe von außen verringert sich, die Steuerungsfähigkeit,
die Abstinenzzuversicht, die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen
nicht in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, nimmt zu. Das Ergebnis von
Recovery (und nicht etwa die Voraussetzung dafür) ist die weitestgehende
Übernahme der Verantwortung für den eigenen Konsum. Dabei
beschränkt sich die soziale Verantwortung nicht auf die unmittelbare
Hilfestellung gegenüber einer Person mit einer
Substanzgebrauchsstörung. Auch das allgemeine Konsumverhalten, der
kulturelle Umgang mit Substanzen, die Verfügbarkeit von Substanzen und
Maßnahmen der Prävention haben Einfluss auf das Auftreten und den
Verlauf von Suchtkrankheiten.
Abb. 1 Ein Dynamisches Modell der Verantwortung bei Suchtkrankheiten.
Der individuellen Verantwortung der Betroffenen wird eine soziale
Verantwortung des Umfelds gegenübergestellt. Krisen bzw. Recovery
verändern die Anteile von sozialer und individueller Verantwortung,
indem sich das Individuum nach links bzw. rechts im Modell bewegt.
Das dynamische Modell der Verantwortung bei Suchtkrankheiten schützt davor,
Suchtprobleme durch Schuldzuschreibungen an die Betroffenen unzulässig zu
vereinfachen und dadurch faktisch zu erschweren. In der konkreten Situation hilft
es, die eigene Hilfestellung am Ausmaß der Fähigkeit zu orientieren,
die der oder die Betroffene hat, eigene Verantwortung für das
Konsumverhalten zu übernehmen. Es macht dabei einen Unterschied, ob man von
der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme spricht oder von Schuld.
Schuldzuschreibungen führen zu Scham, Geheimhaltung, Selbstwertverlust und
im Zweifelsfall zu fortgesetztem Konsum. Schuld muss eingestanden und
gebüßt werden. Eine Fähigkeit zur
Verantwortungsübernahme dagegen kann gemeinsam verbessert werden. Defizite
können wertfrei benannt werden, ein „mehr“ oder
„weniger“ erlaubt viel differenziertere Fortschrittsbeurteilungen
als ein moralisch aufgeladenes „entweder – oder“.
Soziale Verantwortung erfordert Prävention
Soziale Verantwortung erfordert Prävention
Einen Blick für das Zusammenspiel von sozialer und individueller
Verantwortung für Suchtkrankheiten zu entwickeln ist auch für eine
sinnvolle Prävention wichtig. Ein gängiges Argument, um
Verhältnisprävention gerade von Alkoholgebrauchsstörungen zu
verhindern, ist der Verweis auf die Eigenverantwortung. So schreibt der
Bundesverband der Spirituosenindustrie (BSI) in seinem „Code of
Conduct“: „Der BSI lehnt pauschale Verbote,
Verkaufsbeschränkungen, Lizenzierungen von Verkaufsstellen sowie gesetzliche
Werbeeinschränkungen ab. (…) [Er] setzt sich (…)
dafür ein, Eigenverantwortung und Risikokompetenz als zentrale
Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit alkoholhaltigen
Getränken zu fördern.“ [8]
Mit dem Narrativ der Eigenverantwortung ignoriert der Verband damit eine allgemeine,
und speziell auch seine eigene soziale Verantwortung für
Abhängigkeitserkrankungen. Die Kehrseite der Eigenverantwortung der
„mündigen Bürger“ ist dann der Vorwurf an die
Menschen mit Suchtkrankheiten, die offensichtlich ihrer Eigenverantwortung nicht
gerecht geworden zu sein scheinen. Zugespitzt könnte man sagen, dass hier
das Stigma von Suchtkrankheiten, nämlich der Schuldvorwurf an die
Betroffenen, zur Durchsetzung von verbandspolitischen Zielen auf Kosten der Menschen
mit Alkoholabhängigkeit gebraucht wird. Das dies unwidersprochen bleibt und
auf politischer Ebene sogar erfolgreich ist, kann auch dem Stigma von
Suchtkrankheiten zugerechnet werden: Link und Hatzenbuehler [9] argumentieren, dass die Abwertung, die ein
Ergebnis von Stigmatisierung ist, dazu führt, dass die Gruppe der
Betroffenen in der öffentlichen Wahrnehmung weniger „wert“
ist, und deshalb ihre Anliegen auch politisch keine Priorität
genießen, sondern vernachlässigt werden.
Aktuelle klinische Praxis im Spannungsfeld sozialer Verantwortung
Aktuelle klinische Praxis im Spannungsfeld sozialer Verantwortung
Zurück zum Gesundheitswesen. Eine Suchtbehandlung ohne Schuldzuschreibung ist
nicht nur möglich, sie ist sogar geboten. Das Gesundheitssystem muss ein Ort
sein, der Menschen mit Suchtkrankheiten keinen weiteren Schaden zufügt und
keine Bedingungen für Hilfe stellt. Das dynamische Modell der Verantwortung
für Suchtkrankheiten kann helfen, auch im therapeutischen Setting eine
vereinfachende Zuschreibung von individueller Verantwortung zu hinterfragen, etwa
beim Zugang zu therapeutischen Angeboten. Längere Abstinenzzeiten als
Voraussetzung für komplexere psychotherapeutische Angebote etwa in der
Traumabehandlung sind ein Ärgernis, das den am schwersten betroffenen
Patient:innen oft eine angemessene Therapie verwehrt. Behandlungsschwellen gibt es
aber häufig selbst für Entgiftungsbehandlungen, etwa in Form von
Wartelisten mit der Verpflichtung, regelmäßig durch Anrufe seine
Behandlungsmotivation unter Beweis zu stellen. Solche
„pseudo-therapeutischen“, eher pädagogischen Konstruktionen
zeigen, dass wir unserer sozialen Verantwortung nicht gerecht werden. Vermutlich
scheitern nämlich die am schwersten Betroffenen am ehesten an solchen
Aufgabenstellungen. Dass Menschen regelmäßig genötigt
werden, gegen ihren erklärten Willen ein selbstschädigendes,
riskantes Verhalten über Wochen aufrechtzuerhalten, und ihnen die basalste,
notwendigste und naheliegendste Therapie, nämlich eine geschützte
Entgiftung, vorenthalten wird, ist eine intendierte Unterversorgung, die sich nur
mit dem tiefsitzenden Stigma von Suchtkrankheiten erklären lässt.
Die hier fehlenden Ressourcen für die bedarfsgerechte Behandlung
müssen auch als Ausdruck einer niedrigen Priorisierung in Folge
struktureller Stigmatisierung interpretiert werden. Eine medizinische Rechtfertigung
für die derzeitige klinische Praxis sind diese jedoch nicht. Es bleibt viel
zu tun.