Psychiatr Prax 2023; 50(08): 405-406
DOI: 10.1055/a-2070-1519
Debatte

Die psychiatrische Kompetenz im hausärztlichen Bereich muss gestärkt werden – Kontra

Sabine Köhler
 

Kontra

Gefühlte „Explosion“ psychischer Erkrankungen?

Eine Zunahme psychischer Erkrankungen sowie immer länger werdende dadurch verursachte Arbeitsunfähigkeitszeiten und damit im Zusammenhang stehende Versorgungsengpässe und -wünsche werden vielfach diskutiert [1]. Nicht zuletzt die Statistiken der Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen in den Ländern zeigen, dass die Terminnachfrage bei den Fachärzt*innen im Bereich Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie und Nervenheilkunde die Nachfrage im Vergleich zu allen anderen Fachgruppen anführt [2]. Die wachsende Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen und damit verbundene wirtschaftliche Konsequenzen bringen uns Krankenkassenstatistiken nahe [3]. Psychische Beschwerden im Kontext somatischer Erkrankungen und der Bereich der psychosomatischen Störungsbilder sind ein weiterer Grund für die wachsende Nachfrage in diesem Bereich. So sollen zum Beispiel zur Vermeidung einer iatrogenen Chronifizierung bei Herz-Kreislauferkrankungen (wiederholte invasive Diagnostik und Verordnung herzwirksamer Medikamente ohne Notwendigkeit) die Grundprinzipien der psychosomatischen Grundversorgung angewandt werden, welche auch Bestandteil der Weiterbildungsordnung in der Allgemeinmedizin ist. Psychopharmakologische Behandlung und/oder Psychotherapie in Abwägung der Wechsel- und Nebenwirkungen soll erwogen werden [4]. Bedeutsam ist weiterhin die Notwendigkeit der Vernetzung verschiedener an der Behandlung einer Patientin/eines Patienten beteiligten Leistungserbringer, wie Beispiele aus der Schmerztherapie zeigen. Effizient und effektiv sind multiprofessionelle Behandlungsansätze, vor allem unter Einbeziehung der psychiatrisch-psychotherapeutischen sowie der psychosomatischen Expertise [5]. Für onkologische Erkrankungen wurde, nach dem in einem Gutachten des Sachverständigenrats beschriebenen Bedarf [6], eine Leitlinie erarbeitet, welche psychoonkologische Elemente skizziert [7]. Die Notwendigkeit der integrierenden somatischen und psychischen Expertise im Sinne der Patient*innen ist aufgrund der Komplexität für den informierten Haus- und Facharzt kaum überblickbar, für Patient*innen und Laien sogar oft unverständlich.


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Qualitativ hochwertige leitliniengerechte Behand-lung

z. B. bei depressiven Erkrankungen folgt einem differenzierten und schweregradabhängigen Vorgehen von „niedrigintensiver Intervention“ (ggf. durch den Hausarzt) bis zu spezifischer psychopharmakologischer, psychotherapeutischer und weiterer Behandlung [8]. Indikationsstellung und spezifische Behandlungsplanung müssen bei zunehmender Schwere und Komplexität der Erkrankung durch fachärztliche psychiatrisch-psychotherapeutische Leistungserbringer erfolgen. Gestufte Versorgungsansätze ermöglichen eine schnelle und bedarfsgerechte Zuweisung der Patient*innen zur Intervention und schonen Ressourcen. Um dafür notwendige multiprofessionelles Zusammenwirken zur fördern, wurde im Jahr 2022 eine neue Richtlinie beschlossen [9].


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Wirkung und Nebenwirkung durch Medikamente und Psychotherapie

Heute ist unstrittig, dass Wirkungen, Neben- und Wechselwirkungen bei der Verordnung von Therapien beachtet werden müssen. Deswegen sollte die Verordnung nach Abwägung aller Untersuchungsergebnisse und mit fachärztlicher Expertise erfolgen. Im psychotherapeutischen Bereich erleben wir eine wachsende Nachfrage. Dabei unterscheidet sich „Psychotherapie“ durch eine erfolgte Evidenzprüfung von „psychologischer Beratung“ oder Coaching. Auch mögliche schädigende Effekte psychotherapeutischer Behandlung müssen berücksichtigt und reflektiert werden [10]. Die therapeutische Beziehung ("Allianz") [11] [12] als ein wesentlicher Wirkfaktor unterscheidet sich von primärärztlicher Arzt-Patient-Beziehung oder von der Beziehung zwischen Patient*innen und Praxispersonal in wesentlichen Merkmalen.


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Delegation von Teilleistungen

Eine Delegation von Einzelelementen im Rahmen einer Psychotherapie (z. B. Untersuchungen mit standardisierten Fragebögen) ist möglich, allerdings nur unter Leitung eines ärztlichen oder nichtärztlichen Psychotherapeuten. Nicht delegationsfähig sind Diagnose und Indikationsstellung auch für eine Psychotherapie sowie die Anpassung des Therapieplans im psychotherapeutischen Gesamtprozess. Der Vergleich zur Somatik ist zum Beispiel in der Befunderhebung im Rahmen einer Hypertoniebehandlung durch die MFA gegeben (Messung und Dokumentation von Werten), auf deren Basis der Arzt/die Ärztin die weiteren Therapieentscheidungen trifft. Delegation einer Teilleistung auch im Rahmen der Psychotherapie kann nicht als „Psychotherapie“ bezeichnet werden und ersetzt eine solche auch nicht. Erfolgt diese Teilleistung nicht unter kontinuierlicher fach-psychotherapeutischer Supervision und Anleitung, birgt sie die Gefahr von Schädigungen. Versorgungsrelevanz haben zweifelsohne auch andere Ärzt*innen mit psychotherapeutischer Erfahrung – insbesondere Hausärzt*innen. Zu deren Qualifizierung trägt die Ausbildung im Rahmen der „psychosomatischen Grundversorgung“ bei. Allerdings ist auch dieses Versorgungselement aufgrund großer Unterschiede in Struktur und Intensität der Ausbildung nicht gleichzusetzen mit der fachspezifischen Psychotherapie.


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Fazit

Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Differentialdiagnostik gehört zu den Herausforderungen auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung der kommenden Jahre. Dazu zählt neben dem differenzierten Einsatz aller Interventionsmöglichkeiten auch, Menschen mit gefühlten Erkrankungen, die diagnostische Kriterien nicht erfüllen, zu beraten. So können diese Maßnahmen zur Selbstfürsorge ergreifen, die nicht im Rahmen von Psychotherapie zu Lasten der GKV erbracht werden müssen. Die wachsende Nachfrage kann durch ein gestuftes Versorgungssystem mit beginnend erfolgenden basalen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sowie darauf aufbauender Planung weiterer Interventionen durch entsprechende Fachärzt*innen und Psychotherapeut*innen gelingen. Für das Erkennen und die Einordnung behandlungsbedürftiger psychischer Störungen und spezifischer Risiken wie Suizidalität, Sucht, Essstörungen, Medikamentenmissbrauch sollten die in der Primärversorgung Tätigen (insbesondere auch im Rahmen der Notdienste) geschult und sensibilisiert werden. Eine rechtzeitige Weiterverweisung in fachärztliche bzw. psychotherapeutische Behandlung ist aber unerlässlich, denn psychiatrische und psychotherapeutische Intervention kann nicht substituiert und nicht ohne entsprechende fachliche Expertise delegiert werden.


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Autorinnen/Autoren

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Sabine Köhler

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Sabine Köhler
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Bundesvorsitzende BVDN
Dornburger Sr. 17
07743 Jena

Publication History

Article published online:
16 November 2023

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Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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