Der Bezug zum Gesundheitswesen? Krylows „Elefant im Raum“ scheint
nach Abklingen der COVID-19 Pandemie deren systematische und explizite Aufarbeitung
(„lessons learned“), auch als kluge Vorbereitung auf eine
nächste Pandemie mit noch unbekanntem Erreger („pandemic
preparedness“). Mag sein, dass sich der Erreger von COVID-19 in
seinen Interaktionen mit Wirtsorganismen und weiterer Umwelt, d. h. der
epidemiologischen Triade von Agent-Host-Environment, in eine evolutionäre
Sackgasse hineinmutiert hat. Offen ist, ob dieses Virus erneut Zugangswege zu
menschlichen Populationen findet. Sicher scheint jedoch, dass anderen Erregern in
einer noch zeitlich unbestimmten Zukunft genau dies gelingen wird, seien es Pilze,
Bakterien, Viren oder neue Lebensformen wie die Prionen des BSE-Erregers. Nach der
Pandemie ist vor der Pandemie: die interpandemische Phase beginnt nun wieder, auch
wenn uns die gesundheitlichen Pandemiefolgen noch länger begleiten werden.
Mit Bezug zur russischen Fabel sollte diese Aufarbeitung bis auf weiteres auch der
„Elefant“ sein, das beherrschende Leitthema im Bereich der
Bevölkerungsgesundheit. Ein wortarmes darüber Hinweggehen und eine
allzu schnelle Zuwendung zu den auch wichtigen, jedoch vergleichsweise kleineren
Dingen, den „Smaragdmistkäfern“ und
„Purpurläusen“ aus Krylows Fabel, steht einer
aufgeklärten Wissensgesellschaft nicht gut an. An dieser Stelle gibt die
obige Erzählung aus der alten Textsammlung des Palikanon einen wichtigen
weiteren Impuls. Bei der vor uns liegenden Aufgabe sollte eine von unterschiedlichen
wissenschaftlichen Disziplinen und Subdisziplinen geführte Aufarbeitung
nicht zur strukturellen Engführung der Wahrnehmung und daraufhin folgenden
Streit wie bei den blind geborenen Männern führen, die zwar jeder
für sich Richtiges erkennen, aber für das große Ganze
„blind und augenlos“ nicht erkennen, „worauf
es ankommt und worauf es nicht ankommt“.
Was es als großes Ganzes zu bedenken gilt? Es stellen sich in Bezug auf
Aufarbeitung und zugehöriger Verwendung der Erkenntnisse für die
künftige pandemische Preparedness ohne Zweifel Herausforderungen im
Bereich der Biomedizin und der klinischen Medizin. Diese betreffen u. a.
diagnostische Verfahren und ausreichende zugehörige Kapazitäten,
innovative Diagnostiken in Bezug auf Genomsequenzierungen und deren Verlinkungen und
neue Surveillance-Verfahren wie die Überwachung von Abwässern.
Erforderlich scheint auch das Zusammenführen von Daten aus der bestehenden
infektiologischen Public Health Surveillance des Öffentlichen
Gesundheitsdienstes mit Daten der klinischen Medizin unter Bildung einer
Infrastruktur für ausbruchsbezogene ad hoc-Krankheitsregister zur Bestimmung
von klinischen Verläufen und vulnerablen Gruppen, die Nutzung einer
digitalen Datenübermittlung im Rahmen der Meldepflichten und die
Sicherstellung der länderübergreifenden Interoperabilität
zwischen Einrichtungen der ambulanten und stationären Versorgung, den
Laboren und den Gesundheitsämtern, die Berücksichtigung auch des
europäischen Gesundheitsdatenraumes und nicht zuletzt auch der Aufbau von
Kapazitäten und Kompetenzen für Modellierungen mit fortgeschrittenen
statistischen Methoden und Informatikansätzen. Die Aufarbeitung betrifft
auch die Sicherstellung der medizinischen Versorgung im Pandemiefall für
alle – von der Pandemie direkt betroffene wie auch sonstige Patientinnen und
Patienten, die Entwicklung von präventiven (z. B. Impfstoffen) und
kurativen (z. B. antivirale Medikamente) Arzneimitteln und darüber
hinaus die erfolgreiche ambulante und stationäre Rehabilitation nach
Erkrankung. Für diese Teilthemen der klinisch-medizinischen Versorgung ist
z. B. die eingeführte Universitätsmedizin angesprochen und
dafür von herausragender Kompetenz, zusammen mit dem Niedergelassenenbereich
und deren Lehrstühlen, den forschenden Arzneimittelherstellern und den
Herstellern von Medizinprodukten, eine Fachgebiets- und
Sektoren-übergreifende Sichtweise vorausgesetzt.
Doch fallen weitere Schwerpunkte der Aufarbeitung nicht außerhalb der
eingeführten Universitätsmedizin, konkret in die Bereiche von
Öffentlicher Gesundheit/Public Health auf Ebene von Kommunen,
Ländern und Bund und darüber hinaus? Zu fragen wäre
beispielsweise, ob eine umfassende Public Health Surveillance im Krisenfall nicht
auch erweiterte Fragestellungen mit aufgreifen sollte, wie das beispielgebend in
Teilen die COSMO-Studie zu Risikowahrnehmung und Risikoverhalten während der
Pandemie geleistet hat. Epidemien sind ganz wesentlich auch soziale
Phänomene und die Aufarbeitung des öffentlichen Managements einer
Pandemie beinhaltet vielfältige sozioökonomische und
sozialpolitische, sozialpsychiatrische, sozialpsychologische, soziologische,
kommunikationswissenschaftliche, geisteswissenschaftlich-juristische und ethische
Fragestellungen – und erfordert auch hier entsprechend fokussierte
hochschulische Forschung und Lehre. Um ein Beispiel zu geben: Zu einer
Pandemie-Impfung gehört mehr als die stoffliche Verfügbarkeit einer
wirksamen Substanz in ausreichender Quantität, einschließlich der
aufmerksamen Verfolgung von Impfnebenwirkungen, sie verlangt auch gut organisierte
Prozesse und Kampagnen im öffentlichen Raum und nicht zuletzt auch in der
Kommunikation mit dem zu impfenden einzelnen Menschen unter Achtung seiner bzw.
ihrer Autonomie und Würde. Nicht der Impfstoff alleine hilft, sondern erst
die vollzogene Impfung. Antworten darauf können nicht nur im
interdisziplinären Austausch gesucht werden, sondern verlangen in der
praktischen Umsetzung auch eine transdisziplinär geschulte Denk- und
Handlungsweise, im Öffentlichen Gesundheitsdienst und auch bei verschiedenen
anderen Public Health-Institutionen. Die amtsärztlichen Akademien, welche
die theoretische Facharztweiterbildung leisten, sind im Wesentlichen auf die Lehre
begrenzt. Universitäre Lehrstühle und eigene Professuren für
das Facharztgebiet Öffentliches Gesundheitswesen, die essentielle
Schlüsselqualifikation der Amtsärztinnen und Amtsärzte,
fehlen in Deutschland bzw. sind erst an wenigen Universitäten im Entstehen
(u. a. Köln, Frankfurt, Dresden). Inhaltlich
interdisziplinär ausgerichtete sowie personell multiprofessionell besetzte
Schools of Public Health nach internationalem Vorbild sind in Deutschland
noch eine Ausnahme (u. a. Bielefeld, Berlin, München).
Auch außerhalb der klassischen gesundheitlichen Domänen von Medizin
und Public Health bestehen Herausforderungen: Bei den ökonomischen,
kulturellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen von wirtschaftlichen Shutdowns und
gesellschaftlichen Lockdowns, bei Schließung von Kitas, Schulen und
Universitäten hinsichtlich der Betreuung und der Gewährleistung von
Ansprache und Unterricht von Kindern und Jugendlichen bzw. in der
Erwachsenenbildung, bei der Abfederung der wirtschaftlichen sozialen Folgen von
Betriebsschließungen, bei der kommunikativen und sozialpsychologischen
Betreuung im Rahmen von Isolation und Quarantäne weiter
Bevölkerungsteile u.v.a.m. Die Pandemie hat darüber hinaus einen
starken Impuls in Richtung einer expliziten Berücksichtigung des Themas
Gesundheit in allen Wirtschafts- und Politikbereichen gegeben
(„Health-in-all-policies“), sie hat uns an die
Grenzenlosigkeit und den globalen Charakter von Infektionskrankheiten erinnert
(„ein Ausbruch irgendwo ist eine Bedrohung
überall“) und fordert folgerichtig zu ihrer Bewältigung
eine nicht nur europäisch internationale, sondern auch globale
Solidarität und Kooperation („global denken, lokal
handeln“). Gedankliche Rahmenkonzepte wie die von One Health,
welche die Gesundheit von Menschen, Tieren und unserem Ökosystem
gemeinschaftlich denkt, von Global Health und Planetary Health sind
unabdingbar und sollten auch institutionelle Abbildung finden, z. B. in
zusammengefassten Überwachungs- und Forschungseinrichtungen für
menschliche und tierische Gesundheit und Lebensmittelsicherheit auf kommunaler,
Landes- und Bundesebene sowie an Hochschulen und Universitäten.
Und sind nicht auch noch andere gesellschaftliche Herausforderungen aufgetaucht,
welche von einer Infodemie, befeuert von querdenkenden Aktivisten und
möglicherweise auch von auf gesellschaftlichen Dissens ausgerichteten
digitalen Trollfarmen und Chatbots, bis zu unethischer politischer Vorteilsnahme bei
der Vermittlung und der Beschaffung von Schutzgütern oder sogar zu
organisierter Wirtschaftskriminalität, z. B. in Bezug auf die
angegebene Produktqualität reichen? Wie ist das Vertrauen der Bürger
in die gewählten politischen Vertreter und die staatlichen Vollzugsorgane
sowie in die Rechtsprechung im Verlauf der Pandemie zu bewerten und in Zukunft
besser zu erhalten? Welche Effekte hat eine „Epistemisierung des
Politischen“ und damit einhergehend eine Politisierung der
Wissenschaft, mithin die Benutzung der Wissenschaft für primär
politische Zwecke [3]? Welche antizipativen
Maßnahmen ermöglichen für die Zukunft ein Minimum an
staatlicher Eingriffslast, bei gleichzeitig erhaltener Eignung der erforderlichen
Maßnahmen? Welche Indikatoren zur Steuerung sind geeignet, um sowohl die
Infektionsdynamik als auch die klinische Krankheitsschwere sowie
die Belastung der gesundheitlichen Versorgungssysteme und der kritischen
Infrastruktur als drei Kerndimensionen der infektiologischen Surveillance
verlässlich, zeitnah und mit ausreichender Sensitivität
gegenüber Veränderungen und mit adäquater regionaler
Auflösung abzubilden? Welche proaktiven Schulungen gesellschaftlicher
Entscheidungsträger in Legislative und Exekutive in den Methoden und
Konzepten von Public Health wären im Rahmen von verpflichtenden Executive
Trainingskursen möglich? Wie lässt sich der Wissenstransfer in das
Handeln von Politik und Praxis unterstützen, bei gleichzeitiger
Rückkopplung der sich dynamisch entwickelnden relevanten Fragestellungen und
Zeithorizonte einer Beantwortung? Welche institutionellen Stärkungen und
neuen Institutionen auf Ebene von Kommunen, Ländern, Bund und EU sind
dafür erforderlich? Fragen, zu denen teilweise bereits vorbereitende
Überlegungen vorliegen, die aufgegriffen werden können und sollten
(s.a. [4]
[5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]) – und welche in ihren Themen weit über die bisher
erarbeiteten Pandemiepläne hinausreichen.
Die Beiträge in diesem Heft sprechen ebenfalls wieder vielfältige
Aspekte unseres Gesundheitswesens an, als dieser Zeitschrift möglicher
Beitrag für ein belastbares und resilientes, d. h. sich nach
besonderen Belastungen wieder rasch regenerierendes Gesundheitssystem. Themen sind
die Erfahrungen und die Resilienz von Mitgliedern eines Hygieneteams während
der SARS-CoV-2 Pandemie, die Gründe von Menschen ab 60 Jahren in
Deutschland, sich nicht gegen Covid-19 impfen zu lassen, ein Corona-konformes
Auswahlverfahren angehender Landärzt*innen in Bayern, die
WHO-Leitlinie zu Screening und Behandlung von präkanzerösen
Zervixläsionen für die Prävention von
Gebärmutterhalskrebs, die Vergütung der HPV-Impfungsleistung in
Deutschland als möglicher relevanter Einflussfaktor auf die HPV-Impfrate,
die Bereitschaft zur Umsetzung von Präventions- und
Gesundheitsförderungsmaßnahmen für Menschen in schwierigen
Lebenslagen in deprivierten Kommunen, die Kompensation von Leistungen zwischen
Hausärzten und Kinder- und Jugendmedizinern am Beispiel der
Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen, die
Weiterentwicklung und Vernetzung der onkologischen Versorgungsstrukturen, die
spezialisierte Behandlung von Darmkrebs in zertifizierten Krebszentren sowie die
Palliativversorgung und hospizliche Begleitung in der stationären
Pflege.
Um am Ende noch einmal den Anfang aufzugreifen: Die vielfältigen
angesprochenen Fragestellungen können nur ein erster Schritt sein, um das
Ganze des „Elefanten“ der Pandemieaufarbeitung in möglichst
umfassender Weise zu bestimmen. Schon bei diesen Teilfragestellungen sind
vielfältige (epidemio-)logische Fallstricke und systematische Fehler zu
berücksichtigen, z. B. ein allzu einfaches rein zeitliches
post-hoc-ergo-propter-hoc-Denken und das Ausblenden von konfundierenden dritten
Faktoren bei vermeintlichen Ursache-Wirkungsbeziehungen. Wesentlich wird auch ganz
grundsätzlich ein verständiger Umgang mit den Zeithorizonten sein:
Was wissen wir heute, was wussten wir damals und welche Entscheidung unter
Unsicherheit war zum damaligen Zeitpunkt verantwortlich und
verhältnismäßig. Auch wenn wir heute, ex post, über
neues Wissen verfügen, muss dieses Wissen nicht der Maßstab
für verständiges Handeln zum damaligen Zeitpunkt, ex ante, sein.
Ebenfalls wesentlich wird dafür eine Beschäftigung mit den
wahrscheinlichen Ergebnissen alternativen Handelns sein, den Szenarien des
„was wäre, wenn“ des Anders-Handelns –
während der Pandemie und auch schon in den Jahren davor – oder auch
„nur“ eines Nicht-Handelns. Die Vorbereitung dieser Aufarbeitung ist
eine Aufgabe, welche des Schweißes der “Asketen und
Brahmanen“ in Wissenschaft, Administration und Politik des 21. Jahrhunderts
würdig ist und zu dessen erfolgreicher Bewältigung deren besondere
Kenntnisse und Fähigkeiten unverzichtbar sind. Hier wird, vielleicht auch in
später Verteidigung von Krylows selbstvergessenem, weil vertieft
wissbegierigem Museumsbesucher, wie so oft gelten: „there is nothing so
practical as a good theory“ – es gibt nichts Praktischeres
als eine gute Theorie [12]. Die Erkenntnisse der
Experten als Wissensbasis für eine künftige pandemische
Preparedness sind jedoch nur das Eine und nur ein Teil der Aufarbeitung.
Die Geschichte der Blindgeborenen aus dem Palikanon endet mit den Worten:
„Da tat der Erhabene, nachdem er erkannt, was dies zu bedeuten hatte,
[…] folgenden feierlichen Ausspruch: ‘So hört man es: Es
klammern sich manche Asketen und Brahmanen an diese (Dinge); es streiten sich
und geraten in Widerrede die Menschen, die (nur) einen Teil sehen.“
Erweiterte Meta-Prozesse auf einer übergeordneten Ebene, um nicht nur
„einen Teil zu sehen“ und um das Potential zu
unnötigen Missverständnissen und Streit von Anfang an zu minimieren,
sind mit zu entwickeln. Eine Pandemie ist keine Privatsache und ihre Aufarbeitung
ist nicht nur eine wissenschaftliche Fragestellung. Das Gelingen einer Aufarbeitung
mit einem breiteren gesellschaftlichen Anspruch ist eine Unternehmung, welche neben
dem Wissen der Experten auch von den menschlichen Qualitäten aller
Mitglieder einer Gemeinschaft – von deren Solidarität, Toleranz
für Andersdenkende, Diskussionsfähigkeit „ohne
Geschrei“ und „ohne handgemein zu werden“ und
Kompromissbereitschaft mit „Blick auf das Ganze“ – sowie
ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zur Beteiligung abhängen
wird.