Aktuelle Urol 2023; 54(06): 432-434
DOI: 10.1055/a-2108-7795
Referiert und kommentiert

Kommentar zu: Übersichtsarbeiten in der Urologie: Qualität der Literatursuche oft mangelhaft

Contributor(s):
Frank Kunath
1   Klinik für Urologie und Kinderurologie, Klinikum Bayreuth GmbH, Bayreuth, Deutschland
2   Medizinische Fakultät am Medizincampus Oberfranken, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland (Ringgold ID: RIN9171)
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Wie erfolgt die Suche in systematischen Übersichtsarbeiten? Diese sehr wichtige Fragestellung hat die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Philipp Dahm untersucht. Er ist nicht nur Urologe, sondern auch der ‚Coordinating Editor‘ von Cochrane Urology. Die Arbeitsgruppe verfügt über weitreichende Erfahrungen in der Durchführung und methodischen Beurteilung von systematischen Übersichtsarbeiten. Die Methodik der hier vorgestellten Arbeit folgte den in der evidenzbasierten Medizin üblichen Vorgehensweise und untersuchte die methodische Qualität der Literatursuche von systematischen Übersichtsarbeiten in den wichtigen Urologischen Fachzeitschriften (BJU International, European Urology, The Journal of Urology, Urology und World Journal of Urology).

Warum ist das eine wichtige Fragestellung? Idealerweise sollten medizinische Entscheidungen auf Studienergebnissen basieren. Für klinisch tätige Ärzte ist es aber aufgrund der enormen Anzahl an Publikationen in den biomedizinischen Datenbanken schwierig auf dem aktuellen Wissensstand zu bleiben. Systematische Übersichtsarbeiten fassen die medizinische Literatur zusammen und bewerten deren methodische Qualität. Diese Arbeiten dienen schließlich als Grundlage zur Erstellung von evidenzbasierten Handlungsempfehlungen. Die Methodik einer systematischen Übersichtsarbeit ist somit die Basis für den Wissenstransfer aus der klinischen Forschung an das Patientenbett.

Die Autoren konnten zeigen, dass auch Publikationen in den anerkanntesten urologischen Fachzeitschriften relevante methodische Schwächen haben können. Systematische Übersichtsarbeiten mit methodischen Schwächen bergen das Risiko, dass neu entwickelte medizinische Handlungen ohne ausreichende Nutzen-/Schadensprüfung angewendet werden. Basieren Leitlinienempfehlung auf den Ergebnissen einer qualitativ schlechten systematischen Übersichtsarbeit, dann hat dies direkten Einfluss auf die Patientenbetreuung in der klinischen Routine.

In der Arbeit wurden die formalen Aspekte der durchgeführten Literatursuche analysiert (Anzahl verschiedener Datenbanken, Filter in der Suchstrategie usw.). Ein wichtiger Aspekt blieb in der Auswertung aber unberücksichtigt. Es wurde nicht untersucht, ob ein Suchspezialist in der Erstellung der Suchstrategie beteiligt war und wie der eigentliche methodische Aufbau der Suchstrategie war. Die Suchstrategie ist sicherlich ein wichtiger Aspekt bei der Betrachtung von systematischen Übersichtsarbeiten, aber es ist ebenso relevant die Qualität der eingeschlossenen Studie zu beurteilen (sogenannte ‚risk of bias‘-Analyse). Es bleibt unklar, warum dies in der vorliegenden Arbeit nicht gemacht wurde. Vielleicht werden diese Ergebnisse in weiteren Publikationen veröffentlicht. Es wurden systematische Übersichtsarbeiten von 1998–2021 eingeschlossen und die heutigen Ansichten für qualitativ hochwertige systematische Übersichtsarbeiten retrospektiv auf die Arbeiten der letzten 20 Jahre angewendet. Dieses Vorgehen wird von den Autoren selbst kritisch diskutiert. Bei der Evaluierung von Volltextpublikationen bleibt letztlich unklar, ob die eingeschlossenen systematischen Übersichtsarbeiten tatsächlich methodische Limitationen hatten. Denkbar ist auch, dass das methodische Vorgehen bei der Literatursuche korrekt, aber die Berichterstattung in der Publikation unvollständig war. Für den Wissenstransfer können aber beide Optionen relevante Auswirkungen haben.

Die wichtigste Aussage dieser Arbeit ist, dass eine Publikation in einer anerkannten Fachzeitschrift durchaus kritisch gelesen werden sollte. Es ist unabdingbar, dass ein klinisch tätiger Arzt die methodische Qualität einer klinischen Studie und einer systematischen Übersichtsarbeit selbstständig einschätzen kann. In der medizinischen Ausbildung sollte dieser Punkt mehr Relevanz erhalten. Zudem sollte bei der Begutachtung und der Annahme von Publikationen in Fachzeitschriften die Methodik der Literatursuche in systematischen Übersichtsarbeiten und das Vorhandensein von Suchspezialisten im Autorenteam (meist Bibliothekare) mehr Berücksichtigung finden.



Publication History

Article published online:
16 November 2023

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