Mit Einführung der psychiatrischen Modellvorhaben (nach § 64b SGB V) im Jahr 2013
sind in Deutschland die Möglichkeiten für innovative, settingübergreifende psychiatrische
Versorgungsformen erweitert worden. Auf Grundlage eines klinikbezogenen globalen Behandlungsbudgets
(GBB) sollen die Modellvorhaben zur „Weiterentwicklung der Versorgung psychisch kranker
Menschen, die auf eine Verbesserung der Patientenversorgung oder der sektorenübergreifenden
Leistungserbringung ausgerichtet ist, einschließlich der komplexen psychiatrischen
Behandlung im häuslichen Umfeld“ (siehe § 64b SGB V) beitragen. Derzeit gibt es deutschlandweit
22 Modellvorhaben ([
Tab. 1
]). Ein Teil dieser Modellprojekte baut auf Vorläuferverträgen (nach § 24 Bundespflegesatzverordnung;
BPflV) auf, die Anfang der 2000er-Jahre erstmals die Erprobung eines regionalen Psychiatriebudgets
(RPB) ermöglichten. Das RPB stellte für jeweilige Versorgungskliniken eine gleichbleibende
pauschale Vergütung über mehrere Jahre sichern, die an den Auftrag geknüpft war, mit
den vorhandenen Ressourcen die akutpsychiatrische Versorgungsverantwortung für die
gesamte Region zu übernehmen. Vereinbarungen nach § 24 BPflV wurden v. a. in Schleswig-Holstein
getroffen, und zwar für die Versorgungsregionen bzw. Landkreise Rendsburg-Eckernförde,
Steinburg und Dithmarschen. 2013 sind alle diese Verträge in die Rahmenbedingungen
des § 64b SGB V überführt worden, was eine Fortführung der bestehenden Versorgung
ermöglichte.
Tab. 1
Übersicht über den aktuellen Stand der Modellversorgung (Juli 2023). Mit freundlicher
Überlassung von Dr. Bettina Wilms.
Landkreis (A = Klinik am Allgemeinkrankenhaus)
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Einwohner
|
§ 64b seit
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Konstrukt
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Kostenträger
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Laufzeit
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Hanau (A)
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215000
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2013
|
IV/OVP
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alle
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Vertragsverhandlungen?
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Steinburg (A) (Itzehoe)
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135000
|
2013
|
RPB
|
alle
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31.12.2027
|
Rendsburg-Eckernförde (A)
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270000
|
2013
|
RPB
|
alle
|
31.12.2025
|
Dithmarschen (A) (Heide)
|
135000
|
2013
|
RPB
|
alle
|
31.12.2027
|
Herzogtum-Lauenburg (A) (Geesthacht)
|
193000
|
2013
|
RPB
|
alle
|
31.12.2025
|
Nordfriesland (Bredstedt)
|
166000
|
2013
|
RPB
|
alle
|
31.12.2025
|
Zwickau (A)
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93000 (+ KJP)
|
2013
|
RPB
|
alle
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31.12.2024
|
Glauchau (A)
|
130000
|
2013
|
RPB
|
alle
|
31.12.2024
|
Nordhausen (A)
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86000 (+ KJP)
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2014
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RPB
|
alle
|
Vertragsverhandlungen?
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Rüdersdorf (A)
|
230000
|
2014
|
IV/OVP
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TK/Barmer
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nicht verlängert!
|
Hamm (A)
|
190000
|
2014
|
RPB
|
alle
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31.12.2028
|
Lüneburg
|
420000
|
2014
|
RPB
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AOK Niedersachsen
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31.12.2024
|
Berlin Mitte-Tiergarten/Mitte-Wedding Treptow-Köpenick
|
610114
|
2014
|
IV
|
Barmer GEK
|
nicht verlängert!
|
Sowohl bei den Modellvorhaben als auch deren Vorläufer, dem RPB, stellt die Finanzierung
über ein GBB die zentrale Voraussetzung dar. Das GBB kann eine mehr oder weniger ausgeprägte
Kontinuität und gleichzeitig Flexibilisierung der Krankenhausbehandlung ermöglichen,
je nachdem, ob es sich um ein Teil- oder ein Gesamtbudget handelt, also je nachdem,
mit wie vielen gesetzlichen Krankenkassen ein Vertragsabschluss gelungen ist. Die
Budgetfindung orientiert sich an der Zahl der behandelten Menschen pro Jahr ([
Abb. 1
]). International ordnet sich diese budgetäre Abrechnungsform zwischen „Block Contracts“
und dem „Capitation Payment“ ein: Beide Ansätze sichern dem Leistungserbringer jeweils
ein im Vorfeld verhandeltes fixes jährliches Budget zu, welches unabhängig von der
erbrachten Leistungsmenge (d. h. Fallzahl) ist. Während Block Contracts auf Grundlage
„historischer“ Ausgaben verhandelt werden, wird bei dem Capitation Payment auf Basis
der jährlichen patientenbezogenen durchschnittlichen Versorgungskosten ein Gesamtbudget
ermittelt. Um diese Besonderheiten der Modellversorgung auch terminologisch zu fassen
und die internationale Anschlussfähigkeit zu gewährleisten, wurde der Begriff des
GBB gewählt.
Abb. 1 Budgetfindung in psychiatrischen Modelvorhaben nach § 64b SGB V (nach Daten aus [8]).
Durch die veränderte Vergütungssystematik hat sich eine Vielfalt an Versorgungsstrukturen
und -prozessen entwickelt und verändert, die je nach Modellregion stark variieren.
Diese Unterschiede lassen sich durch die lokalen Versorgungskontexte, politischen
Unterstützungs- und Entscheidungsprozesse und das Engagement von Akteuren vor Ort
begründen. Gleichwohl gibt es regions- und studienübergreifende Gemeinsamkeiten, die
sich in einer Reihe von Evaluationsstudien und anderen Forschungsvorhaben zum Thema
GBB immer wieder zeigen. Zunächst wird deutlich, dass die Finanzierung der psychiatrischen
Krankenhausversorgung über ein GBB nur bedingt Versorgungskosten einspart [1]–[3], [5], [16]. Wohl kommt es zu einer Verschiebung der Kosten vom vollstationären in den ambulanten
und teilstationären Bereich. Insgesamt sind die Umstrukturierungen von einem Abrechnungsmodell
auf der Basis tages- und leistungsbezogener Entgelte hin zu einem pauschalen Globalbudget
als mindestens kostenneutral einzuschätzen.
Diese Verschiebung geht im Versorgungsalltag einher mit einer Reihe struktureller
und prozessualer Umstrukturierungen: Stationäre Behandlungsplätze werden abgebaut
bei gleichzeitiger Aufweitung des ambulanten und teilstationären Leistungsangebotes
[1], [4], [6], [7], [10]–[16]. Es kommt zu einer Reduktion der vollstationären Liegezeiten und Behandlungstagen,
und gleichzeitig zu einem Anstieg von ambulanten und teilstationären Fällen. Neue
Behandlungskonzepte werden entwickelt, die insgesamt mehr Behandlungskontinuität und
Flexibilität, also personenzentrierte Unterstützung erlauben [4], [7], [9]–[14]. Möglicherweise dadurch bedingt wird in mehreren kontrollierten, multizentrischen
Studien eine Besserung des Funktionsniveaus beschrieben [2], [3], [5]. In einzelnen Studien reduzierte sich unter Modellbedingungen die Symptomlast, die
Krankheitsschwere und die Suizidalität bei Entlassung gegenüber der Aufnahme [5], [6]. Interessant sind die Ergebnisse zweier Studien, die eine Reduktion der Anzahl und
Dauer von Unterbringungen nach PsychKG unter Modellbedingungen sowie eine reduzierte
Anzahl von Fixierungen nachweisen [6], [9].
Außerdem scheinen die Patienten mit der Modellversorgung zufrieden zu sein [12], [17]. Sowohl in einer standardisierten Befragung als auch mit Hilfe qualitativer Verfahren
lässt sich einrichtungsübergreifend eruieren, dass die Umstrukturierungen infolge
der Modellversorgung für die Patienten im Alltag erlebbar sind [12]–[14], [17]. Der Erfahrungsgrad steigt dabei mit steigendem Implementierungsgrad. Und die positive
Bewertung der Modellversorgung steigt mit steigendem Erfahrungs- und Implementierungsgrad.
Die Einschätzung der Mitarbeitenden ist hingegen ambivalenter: Die Umstrukturierungen
können viel Mehrarbeit bedeuten, obgleich sie in einer Studie zu einer Reduktion von
Überstunden führten [6], [18]. Deutlich wird eine Kompetenzentwicklung der Mitarbeitenden über die Berufsgruppen
hinweg, und zwar sowohl unter den Bedingungen des RPB als auch unter denen der Modellversorgung
[12]–[14]. Vor allem die Pflege beschreibt eine Aufwertung der eigenen Berufsgruppe durch
die modellspezifischen Umstrukturierungen. Die Effekte auf Seiten der Angehörigen
sind durchweg unterforscht. Aus laufenden Studien sind diesbezüglich mehr Erkenntnisse
zu erwarten. Deutlich wird, dass die ambulanteren Behandlungsformen bei Angehörigen
zu neuen Formen der Belastung führen können. Auf der anderen Seite schätzen Angehörige,
dass auch sie auf festere Ansprechpartner bauen können sowie die Flexibilisierung
des Behandlungsangebotes.
Inzwischen gibt es also ausreichend Evidenz, die die Wirksamkeit von Modellvorhaben
belegt. Dabei sind die Studiendesigns sehr divers in ihren Zielkriterien, Datenquellen,
methodischen Zugängen und Laufzeiten. Sie nähern sich auf unterschiedliche Weisen
den bundesweit sehr heterogenen Umsetzungstypen und bieten dadurch vielfältige Einblicke
in das Geschehen vor Ort. Durch ihre unterschiedlichen Zugänge bildet dabei jede Studie
nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit ab. Erst in ihrem Zusammenspiel entsteht
ein detailliertes Bild von den unterschiedlichen Effekten und Maßnahmen der Umstrukturierung,
die durch die Umstellung zu einem GBB erreicht werden können.
Über alle Projekte hinweg ist deutlich geworden, dass die Planungssicherheit, die
GBB mit sich bringen, zu einer deutlichen Qualitätssteigerung der psychiatrischen
Versorgung führen kann [19]. Sie reduziert den Misstrauensaufwand, der sich durch eine Vergütungslogik auf Einzelleistungsbasis
der Regelversorgung von Jahr zu Jahr zu verstärken scheinen. Es bleibt daher die Frage,
was wir von diesen Erkenntnissen für die Weiterentwicklung der psychiatrischen und
psychosozialen Versorgung lernen können, eine Frage, die in diesem Themenheft aus
unterschiedlichen Perspektiven der an der Versorgungssituation beteiligten Stakeholdergruppen
aufgegriffen wird.
Auf der anderen Seite stehen eine Reihe von Unsicherheiten, die u. a. dazu führen,
dass es in den letzten Jahren so gut wie zu keinen neuen Vertragsabschlüssen gekommen
ist [19]: Die Einführung eines Modellvorhaben bzw. GBB ist kaum reversibel, weil sie eine
umfassende Reorganisation von Arbeitsmodellen, Behandlungspfaden und nicht zuletzt
baulichen Strukturen mit sich bringt. Vertragsabschlüsse mit nur einem Teil der Krankenkassen,
d. h. selektivvertraglich vereinbarte GBB führen zu ressourcenintensiven Doppelsystemen,
wobei ein vollständiger Konsens aller in einer Versorgungsregion vertretenen Kostenträgern
zu einem Regionalbudget jahrelange Verhandlungsprozesse bedeuten kann. Weiterhin gibt
es nur sehr undifferenzierte Regeln für die Nachverhandlungen eines Budgets bspw.
bei einer veränderten Morbiditätslast, ähnlich dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.
Und auch die Nichtverlängerung einiger Modellverträge hat zu Verunsicherungen auf
Seiten der Leistungserbringer geführt, auch weil sie nicht selten auf eine deutliche
Ambulantisierung des Leistungsangebots folgten, was den Verdacht einer „Herunterschrumpfung“
von Betten mithilfe des § 64b genährt hat.
Durch die mit Bildung der Regierungskommission kürzlich angestoßene Krankenhausreform
sind hingegen neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung
zu erwarten [20]. Obgleich die grundsätzlichen Ziele dieser Reform – Stärkung der
sektorübergreifenden Versorgung, Ambulantisierung, Vergütung mit wenig oder ohne Mengenbezug
– der Logik der GBB entgegenkommen, ist unklar, wie sich ihre konkrete Umsetzung ausgestalten
wird. Auch in diesem Zusammenhang zeichnen sich die Modellvorhaben durch ihren Modellcharakter
aus: Die vielfältigen Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen der Setting- und in
Einzelfällen auch sektorübergreifenden Kooperation verschiedener Akteure und Leistungserbringer,
die sich in diesen Feldern in den letzten 20 Jahren entwickelt haben, sind wertvoll,
um das Gesundheitssystem weg von einer kleinteiligen, leistungs- und mengenorientierten
Vergütung in Richtung von mehr regionaler Verantwortung und Zusammenarbeiten umzugestalten.
Sebastian von Peter, Brandenburg, Peter Brieger, Harr, Julian Schwarz, Rüdersdorf