Psychiatr Prax 2023; 50(08): 401-403
DOI: 10.1055/a-2176-4960
Editorial

Transitionspsychiatrie: eine Chance für die Psychiatrie als Ganzes

Transition Psychiatrie: learnings for psychiatry as a whole
Beate Schrank
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Beate Schrank und das Team des Forschungszentrum Transitionspsychiatrie der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften
 
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Beate Schrank

Was ist Transitionspsychiatrie

Die Transitionspsychiatrie ist ein relativ neues Feld innerhalb der Psychiatrie und fokussiert in den meisten Konzepten auf Menschen etwa zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr [1]. Sie versteht sich als gemeinsamer Bereich von Kinder-/Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie, der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein stabiles Setting bietet, um die Entwicklungsaufgaben des Erwachsenwerdens zu bewältigen. In der klassischen Versorgungsstruktur werden diese Entwicklungsaufgaben durch den Wechsel zwischen Kinder/Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie mit dem 18. Geburtstag oft jäh unterbrochen, was sich nachteilig auf den weiteren Krankheitsverlauf auswirkt [2].

Der Fokus auf junge Menschen ist gesellschaftlich hoch relevant. Etwa 75% aller psychischen Erkrankungen treten das erste Mal in der Adoleszenz auf [3] [4]. Sie haben Konsequenzen für das gesamte weitere Leben, beeinflussen Gesundheit, wirtschaftliches Fortkommen und soziale Partizipation auf lange Sicht negativ, führen zu Belastung für Familiensystem und Umfeld und zu vorzeitiger Sterblichkeit und sind damit mit enormen finanziellen und gesellschaftlichen Kosten verbunden [5] [6]. In der Jugend spielen psychische Erkrankungen die Hauptrolle bei gesundheitlichen Einschränkungen der Bevölkerung, erst rund um das 30. Lebensjahr beginnen andere Erkrankungen langsam relevanter zu werden als psychische [7]. Die Transitionsphase ist zugleich entscheidend für das Erlangen einer qualifizierten Ausbildung, stabiler Beziehungen, finanzieller Sicherheit und anderer sozio-ökonomisch relevanter Ziele des Erwachsenwerdens.

Die Transitionspsychiatrie stellt sich klinisch diesen spezifischen psychischen Herausforderungen der Aufgaben und Prozesse des Erwachsenwerdens vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels. Sie hat damit weit mehr Bedeutung als nur die einer „geregelten Übergabe“ von Patient*innen aus einer Versorgungsstruktur in eine andere. Die Überwindung der Haltungsunterschiede von Kinder-/Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie und das Schaffen eines gemeinsamen Verständnisses für die Altersphase ist nicht nur Schlüssel zu einer gelungenen Transitionspsychiatrie. Eine gelungene transitionspsychiatrische Haltung kann Vorbild für die Psychiatrie als Ganzes sein. Denn Entwicklung findet ein ganzes Leben lang statt.


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Kinder- und Jugendpsychiatrie & Erwachsenenpsychiatrie

Das kinder-/jugendpsychiatrische Therapieverständnis ist geprägt von einer Entwicklungsperspektive. Psychische Erkrankungen in der Jugend führen oft dazu, dass wichtige Entwicklungsziele des gesunden Erwachsenwerdens nicht erreicht werden. Daher ist es das Ziel der Jugendpsychiatrie, Patient*innen ein stabiles und zuverlässiges Setting zu bieten, um sie dabei zu begleiten und zu unterstützen, diese Entwicklungsschritte zu vollziehen und gesunde Erwachsene zu werden.

Bis zum 18. Lebensjahr ist diese Entwicklung sehr oft nicht abgeschlossen. Mit dem 18. Lebensjahr erfolgt in der Versorgungsstruktur jedoch der Übertritt in die Erwachsenenpsychiatrie. Damit gelangen die Patient*innen in ein querschnittsorientiertes Setting. Im Verständnis der Erwachsenenpsychiatrie, insbesondere in der stationären Versorgung, werden prinzipiell einzelne Episoden von Krankheitsbildern behandelt und dahinterliegende Entwicklungsaufgaben dem als erwachsen und selbstverantwortlich betrachteten Individuum überlassen.

In der gegenseitigen Abgrenzung der Disziplinen wird oft kritisiert, dass im Settingwechsel das „Nachbeeltern“ der Jugendpsychiatrie abrupt wegfällt, was zu Behandlungsabbrüchen und Stagnation führt. Entwicklungsaufgaben werden nicht abgeschlossen und psychische Gesundheit nicht erreicht. Kinder-/Jugendpsychiatrie hebt tendenziell Abhängigkeit hervor und setzt dies oft mit dem Einbezug der Angehörigen gleich, während die Erwachsenenpsychiatrie Selbstständigkeit hervorhebt und soziale und ökonomische Kontexte unterschätzt. [8]

Die therapeutische Realität ist jedoch komplex und ein flexibles Vereinen der Ansätze erscheint sinnvoller als eine Abgrenzung der Disziplinen voneinander oder das Schaffen neuer isolierter transitionspsychiatrischer Versorgungsstrukturen, die wiederum weitere und zusätzliche Grenzen erzeugen. In der individuellen Entwicklung einer Person können wechselnde therapeutische Haltungen gefragt und sinnvoll sein. Die Entwicklung einer neuen transitionspsychiatrischen Haltung wird gefordert [2] [9].


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Haltungsfragen für eine gemeinsame Psychiatrie

Eine rezente Studie [9], die transitionspsychiatrische Ansätze und Bedarfe mit Expert*innen aus der Berufspraxis diskutiert, hob neben einer Reihe konkreter Forderungen für Prävention und Versorgung, Ausbildung und Forschung einige Aspekte hervor, die im Rahmen des Erwachsenwerdens besondere Bedeutung haben, die aber für die Psychiatrie in jedem Alter und Kontext relevant sind und auf die es sich lohnt, wieder mehr Fokus zu legen. Dazu zählen unter anderem folgende Fragen und Denkanstöße:

Umgang mit Autonomie und Verantwortung

Wenn Kinder heranwachsen, erhalten sie von den Eltern mehr und mehr Autonomie über eigene Entscheidungen, diese Autonomie entwickelt sich nicht in allen Lebensbereichen gleich. Der Gesetzgeber entscheidet, dass bestimmte Entscheidungen ab einem bestimmten Lebensalter selbst getroffen werden müssen. Hier gibt es kein zurück. Für Eltern ist das anders. Unter bestimmten Umständen wird man als Elternteil Autonomie und Selbstverantwortung wieder belehrend entziehen oder helfend abnehmen, um sie später wieder zurückzugeben. In der Psychiatrie mag manchmal die Versuchung groß sein, sich wie ein Gesetzgeber zu verhalten und nicht wie ein Elternteil. Hier ist aber Flexibilität gefragt. Junge Erwachsene können sich durch die plötzlich geforderte Selbstständigkeit überfordert und alleingelassen fühlen.

Oft haben junge Menschen in der psychiatrischen Versorgung aber einen großen Wunsch nach mehr Autonomie, der sich dahingehend äußert, dass sie eine Einbindung ihrer Angehörigen in die Therapie ablehnen. Wie weit kann und darf man dem in der Kinder-/Jugend- bzw. in der Erwachsenenpsychiatrie nachgeben?

Wie weit darf man jungen Menschen erlauben – oder sie sogar dazu ermutigen – ein Risiko einzugehen, um sich weiterzuentwickeln? Die Forderung auf das Recht, Risiken einzugehen, zu scheitern, selbst die Verantwortung dafür zu übernehmen und es wieder zu versuchen, wurde spätestens mit der Forderung nach Empowerment in der Recovery-Bewegung breitenwirksam relevant. [10] Vergessen wir das heute wieder manchmal? Haben wir bei all den Reglementierungen der Pandemie-Jahre vielleicht etwas Mut zum Risiko verloren?


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Umgang mit Autorität

Die psychiatrische Versorgung ist gekennzeichnet durch klare Routinen und Regeln. Das schafft ein autoritäres Gefälle in dem Behandler*innen bestimmen und Patient*innen sich einfügen und unterordnen. Dies gilt auch – und vielleicht im Besonderen – für Stationen mit Therapiekonzepten. Wenn sich Patient*innen nicht genügend eingliedern können, wird ihnen mitunter der Wunsch nach Heilung abgesprochen. Nicht nur, aber oftmals besonders, jungen Menschen fällt eine bedingungslose Einordnung der eigenen Person in ein Therapiekonzept oder auch die Akzeptanz eines bestimmten Verständnisses von Gesundheit und Krankheit schwer.

Hier ist ein Ansatz von informed consent versus informed refusal ein interessanter Weg nicht nur für Therapie mit Adoleszenten, der es erlaubt den Umgang mit ambivalenten Bedürfnissen zu lernen [11] [12]. Regelverstöße werden in der Therapie aufgegriffen, eingeordnet und als Lernimpuls genutzt [13]. So können mitunter auch bei stark dysfunktionalen Verhaltensweisen verborgene Ressourcen aktiviert und genutzt werden.


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Umgang mit dem Patient*innen-Begriff

Die häufig gestellte Forderung nach mehr Prävention und Frühintervention in jungem Alter wirft auch die alte Frage danach auf, wie weit die Psychiatrie in die Gesellschaft hineinreichen darf und soll. Damit verbunden ist die Frage nach dem Patient*innen- und dem Krankheits-Begriff. Ab wann ist jemand Patient*in? Sobald er*sie ein Problem hat, Hilfe braucht, Hilfe sucht, Hilfe in Anspruch nimmt, eine Diagnose hat? Die Frage des Labels und des damit verbundenen Stigmas ist eine relevante Zugangshürde zum Hilfesystem. Das gilt besonders für junge Patient*innen, denen es aufgrund mangelnder Information und Erfahrung besonders schwerfallen kann, psychische Probleme und Symptome als solche zu identifizieren. In der Phase des Heranwachsens ist die Diagnose-Frage oft auch wenig sinnvoll, da Symptome über die Zeit oft fluide und wechselhaft auftreten. Schubladen-Diagnosen sind nur sinnvoll in einem querschnittsorientierten Setting.

Besonders sichtbar wird die Frage nach dem Patient*in-Sein, wenn man Arbeiten zu Kindern psychisch kranker Eltern betrachtet. Hier stellt sich immer wieder die Frage: Woher wissen Kinder überhaupt, dass ihre Eltern krank sind, wenn z. B. die Mutter wochenlang nicht aufstehen kann und emotional unerreichbar ist oder der Vater sich bizarr oder aggressiv verhält? Hier schließt sich wieder der Kreis zwischen Kinder-/Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie. Sind die Kinder dieser Eltern automatisch (künftige) Patient*innen und braucht es vielleicht sogar eine transgenerationale Entwicklungsperspektive?


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

PD Dr. Beate Schrank, MSc PhD
Forschungszentrum Transitionspsychiatrie Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften Universitätsklinikum Tulln
Alter Ziegelweg 41/1
A-3430 Tulln an der Donau

Publication History

Article published online:
16 November 2023

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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