Schlüsselwörter
Ärztliche Weiterbildung - gesundheitsökonomische Analysen - Gesundheitspersonal
Key words
Education - Medical - Graduate - Costs and Cost Analysis - Health WorkforceArtikel
online veröffentlicht 2023
Ausgangssituation
Die ärztliche Weiterbildung (WB) beginnt nach Abschluss des Medizinstudiums
bzw. der Approbation und führt zur gebietsärztlichen Qualifikation;
diese ist Voraussetzung für eine eigenverantwortliche Tätigkeit in
praktisch allen Versorgungsbereichen. Nach den Gesundheitsgesetzen der
Länder sind die Landesärztekammern (LÄK) zuständig.
Sie beschließen die jeweilige Weiterbildungs-Ordnung (WBO) und erteilen
Weiterbildungs-Befugnisse.
Die Finanzierung der WB erfolgt implizit über Krankenhausentgelte (Diagnosis
Related Groups [DRG]) und – in deutlich geringerem Maße - Honorare
an Praxen im ambulanten Sektor. Eine Ausnahme stellt die Allgemeinmedizin dar, die
nach § 75a SGB V zusätzlich durch Zuschüsse –
überwiegend der gesetzlichen Krankenkassen - an weiterbildende Einrichtungen
gefördert wird.
Charakteristika und Probleme der ärztlichen Weiterbildung in
Deutschland
Ärztinnen in Weiterbildung (ÄiW) [1] müssen selbst geeignete
Weiterbildungsstätten identifizieren und sich um eine Einstellung
bemühen. Sie sind selbst verantwortlich dafür, dass die
für die gebietsärztliche Prüfung erforderlichen Zeiten
und Ziele (z. B. Kataloge von Prozeduren, OPs) erreicht werden. Zwar
dokumentieren die Weiterbildungsbefugten die erreichten Lernziele, und die
LÄK legen die Voraussetzungen für die Prüfung fest;
deren Erfüllung ist jedoch überwiegend der Initiative der
ÄiW überlassen.
Auf der Makro-Ebene fehlt jegliche Ausrichtung am Bedarf an Ärztinnen
bestimmter Gebietsqualifikationen. Weder wird dieser Bedarf
bevölkerungs- oder leistungsbezogen ermittelt, noch stehen Instrumente
zur Verfügung, eine darauf basierende Rahmenplanung umzusetzen. Das
Ergebnis sind gravierende Ungleichgewichte wie z. B. das seit
Jahrzehnten beklagte aber trotzdem zunehmende Missverhältnis von
Allgemein- (Haus-) und spezialisierten Fach-Ärztinnen in der ambulanten
Versorgung [1]. H. van den Bussche hat
darauf hingewiesen, dass letztlich die gebietsmäßige Aufteilung
der Krankenhausstellen die Zusammensetzung der ambulant tätigen
Ärztinnen determiniert [2]. Sogar
die Höhe der Deckungsbeiträge einzelner DRG beeinflusst die
Anzahl weitergebildeter Fachärztinnen: da z. B. die Implantation
von Endoprothesen oder die Durchführung von Koronarangiografien
besonders attraktiv vergütet werden, werden diese Leistungen ausgeweitet
und die erbringenden Abteilungen ausgebaut. Folgerichtig werden hier
überproportional viele ÄiW beschäftigt. Im Ergebnis
lassen sich – losgelöst vom tatsächlichen Bedarf
– nach einigen Jahren vermehrt Orthopädinnen und Kardiologinnen
in vertragsärztlichen Praxen nieder.
Die Kombination von freiem Facharzt-Zugang und de facto fehlender ambulanter WB
in den meisten Fächern (Ausnahme: Allgemeinmedizin) führt dazu,
dass die Mehrzahl der ambulanten Behandlungen von Gebietsärztinnen
vorgenommen wird, die ihre WB ausschließlich am Krankenhaus erhalten
haben und dabei keine Erfahrungen im sog. Niedrigprävalenzbereich der
ambulanten Versorgung haben sammeln können. [2] Dies widerspricht sowohl edukativen
Prinzipien [3]
[4] wie auch der Spezifität der
primärmedizinischen Versorgung; die Gefahr von Überdiagnostik
und Übertherapie wird erhöht [5]
[6]
[7].
Da die WB unstrukturiert und unkoordiniert erfolgt, sind die in der WB
tatsächlich verbrachten Zeiten vielfach länger als in der WBO
vorgesehen [8]. Dies bedeutet, dass die
gebietsärztliche Qualifikation später als erforderlich erreicht
wird, wodurch sich die Lebensarbeitszeit als verantwortliche
Gebietsärztin unnötig verkürzt (mangelnde
Effizienz).
Deutschland hat in der WB kaum eine didaktische Tradition. Die WB ist eher ein
Nebenprodukt ärztlicher Tätigkeit; die edukative Dimension ist -
euphemistisch ausgedrückt - von persönlichen bzw. lokalen
Gegebenheiten abhängig.
Vor allem operative Leistungen werden zunehmend vom stationären in den
ambulanten Sektor verlagert, ohne dass dort im gleichen Maße neue
Weiterbildungskapazitäten etabliert würden. Dadurch erodiert das
für die WB erforderliche Erfahrungsspektrum für ÄiW an
Krankenhäusern. Zudem bleibt durch die Leistungsverdichtung im
stationären und ambulanten Sektor immer weniger Zeit für eine
inhaltlich und didaktisch sinnvolle WB.
Bereits bestehende Steuerung der Weiterbildung
Der Gesetzgeber hat mit §75a SGB V (Förderung der
Allgemeinmedizin sowie ambulant-grundversorgender fachärztlicher
Gebiete) eine gewisse Steuerung der WB eingeführt. Krankenkassen und
Kassenärztliche Vereinigungen leisten demnach Zuschüsse zu
WB-Stellen, die zur allgemeinärztlichen Qualifikation führen.
Der im folgenden dargestellte Vorschlag erweitert dieses Prinzip gezielt auf
andere von Unterversorgung bedrohte Gebiete, um auch in Deutschland eine
verbesserte Koordinierung und bedarfsgerechtere Steuerung für den
ärztlichen Nachwuchs zu erreichen.
Vorschlag zur Neugestaltung und Finanzierung der ärztlichen
Weiterbildung
Bedarf systematisch ermitteln
Grundlage der neu gestalteten WB ist eine populations-, morbiditäts- und
leistungsorientierte Grobschätzung des langfristigen Bedarfs für
die verschiedenen Fachgruppen. Zur Vereinfachung des Verfahrens kann ggf. auch
die ambulante Bedarfsplanungs-Richtlinie herangezogen und für den
stationären bzw. sektorübergreifenden Bereich weiterentwickelt
werden. Die anzustrebenden Quoten werden gesetzlich oder durch Erlass des BMG
festgelegt. Dabei sind die aktuellen relativen Anteile der einzelnen
Fachgebiete, demografische Entwicklungen aber auch die aktuelle bzw. zu
erwartende Situation von ausgeprägten Personalengpässen bzw.
Überversorgung zu berücksichtigen. Details der Umsetzung regelt
eine Richtlinie des G-BA im Einvernehmen mit der Bundesärztekammer.
Eventuell könnte hier auch dem geplanten Bundesinstitut für
Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) eine Rolle
zukommen, das Daten zur Versorgungslage erhebt und so die Ermittlung
zukünftiger Bedarfe unterstützen könnte.
Verbünde für die Weiterbildung
Schrittweise werden regionale, gebietsspezifische WB-Verbünde
eingerichtet, die in ihrem Bereich (z. B. Landkreise und kreisfreie
Städte) geeignete WB-Einrichtungen identifizieren, so dass dort
WB-Stellen – vor allem in Engpass-Fächern – durch
Zuschüsse gefördert werden. Nach den Erfahrungen mit der
Umsetzung von §75a SGB V sollte dieser Zuschuss ca. 3000 €
monatlich für eine Vollzeit-Stelle im Krankenhaus betragen, um einen
relevanten Anreiz darzustellen. Im ambulanten Sektor können die
derzeitigen Regelungen beibehalten werden. Das bedarfsgerecht ermittelte
bundesweite Förder-Stellenvolumen wird nach einem festen
Schlüssel den Bundesländern bzw. KV-/Kammerbereichen
zugeteilt.
WB-Stellen können für mehr als eine gebietsärztliche
Qualifikation genutzt werden; so kann eine Stelle in der Viszeralchirurgie
außerdem für einen späteren Abschluss in der Urologie,
der Gynäkologie oder der Allgemeinmedizin sinnvoll sein. Entsprechende
Anerkennungen durch die LÄK sind bereits heute möglich. Unser
Vorschlag nutzt diese Flexibilität systematisch, um die fachliche
Zusammensetzung der Ärzteschaft bedarfsgerecht zu optimieren.
Die regionalen WB-Verbünde koordinieren für einzelne ÄiW
die Stellenabfolge so, dass der Abschluss in der Mindestzeit erreicht werden
kann und das nötige Erfahrungsspektrum sichergestellt wird
(z. B. geeigneter Mix von Krankenhäusern verschiedener
Versorgungsstufen). Eine systematische Evaluation ist die Grundlage
dafür, WB-Stätten (Krankenhäuser, Praxen) mit hoher
Qualität zu bevorzugen. Zur Förderung und Sicherstellung der
Qualität und Effizienz der Weiterbildung haben sich die mit §
75a SGB V, Absatz 7 bundesweit eingeführten „Kompetenzzentren
Weiterbildung“ (KW) bewährt, die überwiegend an
universitären Abteilungen für Allgemeinmedizin angesiedelt sind.
Diese Einrichtungen haben sich als ausgesprochen wirksam erwiesen [9]. So haben sich nach Mitteilung der
Landesärztekammer Hessen die Gebietsarzt-Abschlüsse in der
Allgemeinmedizin in nur sieben Jahren nach Einführung verdoppelt (2013:
74; 2020: 151). Diese Strukturen sind weiter auszubauen und als Blaupause
für andere Fächer zu nutzen.
Kostenneutral
Dieser Vorschlag für eine bedarfsgerecht gesteuerte, qualitativ
verbesserte und effizientere WB lässt sich kostenneutral gestalten. Von
den an Krankenhäuser und Praxen fließenden Entgelten, die
implizit auch der Weiterbildung dienen (s. o.), wird ein Teil
über die WB-Verbünde geleitet und damit explizit
für eine Steuerung, Koordination und Verbesserung der WB genutzt. Diese
Möglichkeit besteht unabhängig vom Mechanismus der Entgelte
für stationäre oder ambulante Leistungen. Sowohl die von Bund
und Ländern formulierten Eckpunkte zur Reform der
Krankenhausfinanzierung mit den dort beabsichtigten Vorhaltevergütungen
wie auch Fallpauschalen sind mit unseren Vorschlägen vereinbar [10]. WB-Verbünde sind zudem in der
Lage, der Verlagerung von operativen Leistungen in den ambulanten Bereich zu
folgen und WB „einzukaufen“, z. B. durch operative
Erfahrungsmöglichkeiten in MVZ u.ä. Lediglich ein Overhead
für die regionale Koordination ist vorzusehen. Schließlich sei
darauf hingewiesen, dass dieser Vorschlag eine Konkretisierung des
Koalitionsvertrags der gegenwärtigen Bundesregierung darstellt (S. 64
„Im Rahmen der Reform der Krankenhausvergütung werden Mittel
für Weiterbildung in den Fallpauschalen künftig nur an die
Kliniken anteilig ausgezahlt, die weiterbilden“).
Krankenhäuser sind auch weiterhin frei, ärztliche Stellen
einzurichten und zu besetzen. Sie haben unter diesem Vorschlag jedoch einen
Anreiz, entsprechend dem personellen Bedarf des Gesundheitswesens und mit hoher
Qualität weiterzubilden. Ebenso haben ÄiWs die Freiheit,
geförderte oder nicht geförderte Stellen in eigenem Ermessen
anzunehmen.
Durch die bereits vorhandenen Verbünde bestehen Erfahrungen mit
verschiedenen Modellen [11]. Geringere
rechtliche und administrative Schwellen bestehen mit einem Koordinationsmodell
(Verbund koordiniert, ist aber nicht einrichtungsübergreifender
Arbeitgeber). Innerhalb eines Krankenhauses können mit einem
Arbeitsvertrag mehrere Fachrotationen abgedeckt werden. Für ambulante
Weiterbildungs-Abschnitte sind allerdings in jedem Fall separate
Arbeitsverträge erforderlich. Bei der Auswahl von Bewerberinnen
für eine Verbundstelle sind die beteiligten
Weiterbildungs-Stätten einzubeziehen.
Motivation
Durch qualitativ verbesserte und attraktive WB in Krankenhäusern und
Praxen, eine Straffung der WB-Dauer und fachliche Ansprechpartnerinnen in der
Region (Mentoring-, Seminar- sowie Train-The-Trainer-Angebote der
Kompetenzzentren) wird die Motivation der ÄiW für eine klinische
(patientennahe) Tätigkeit gestärkt und dem
Ärztinnenmangel in bestimmten Regionen und Fachgebieten wirksam
entgegengewirkt.
Mit der Etablierung und Weiterentwicklung dieses Systems lassen sich verschiedene
Steuerungsziele erreichen. Neben der Allgemeinmedizin entsprechend §75a
SGB V lassen sich einzelne Fächer mit drohender Unterversorgung
fördern (z. B. Viszeralchirurgie, Geriatrie), die ambulante
gegenüber der stationären Versorgung (durch WB-Abschnitte im
ambulanten Sektor) stärken oder speziell der Bedarf ländlicher
oder marginalisierter Regionen besser befriedigen.
Der Nachteil von Unterversorgung, d. h. dem Mangel an Ärztinnen
einer Fachgruppe, ist offensichtlich. Aber auch eine Überversorgung mit
und durch Angehörige(n) einer Fachgruppe bringt gravierende Nachteile
mit sich. Dazu gehört eine schwierigere kollegiale Abstimmung und
Koordination der Versorgung, da es immer wieder zu ineffizienter Konkurrenz
kommt, z. B. zwischen Haus- und Fachärztinnen. Ein Gatekeeping
durch Hausärztinnen ist nur dann innerhalb der Ärzteschaft
umstritten, solange personelle Überkapazitäten und Fehlanreize
(Vergütung) bestehen. Außerdem besteht die Gefahr nicht
gerechtfertigter und schädlicher Leistungsausweitung, sog. induzierter
Nachfrage. Diese beschränkt sich nicht auf zusätzliche
technische Leistungen, wie z. B. die bei uns im internationalen
Vergleich exorbitant hohen Raten von Koronarangiografien und koronaren
Eingriffen [12]
[13]
[14], sondern zeigt sich beispielsweise auch durch nicht-indizierte
Wiedereinbestellungen. Diese führen dann, obwohl in
Überkapazitäten begründet, paradoxerweise zu
Schwierigkeiten, einen Termin für eine fachärztliche Behandlung
zu bekommen.
Unser Vorschlag zielt darauf ab, durch eine langfristige Steuerung die Passung
von personellen Ressourcen und den anstehenden Versorgungsaufgaben zu
verbessern. Damit würde eine - in Europa vielfach übliche -
bessere Versorgungssteuerung durch Hausärzte möglich werden,
ohne Verteilungskämpfe innerhalb der Ärzteschaft zu provozieren.
Spezialisierte gebietsärztliche Praxen könnten dann eher auf
Zuweisungsbasis auskömmlich tätig sein, als wegen
Überkapazitäten auf eine fragmentierte Primärversorgung
und angebots-induzierte Nachfrage zu setzen. Schließlich besteht
für die WB in Deutschland die Aussicht, den im internationalen Vergleich
beträchtlichen Qualitäts-Rückstand zu vermindern oder
gar aufzuholen.
Die anstehende Novellierung der Krankenhaus-Finanzierung und -Struktur bietet
eine historisch wohl einmalige Gelegenheit, die hier skizzierte Reform
umzusetzen.