Anstatt die institutionellen Bedingungen zu hinterfragen, Benachteiligungen abzubauen
und
die regionalen Unterschiede auszugleichen, wird über „ambulante Weisungen“ nachgedacht
–
kein sofortiger Zwang, aber die Drohung damit: Wer nicht gehorsam ist, wird
wieder eingewiesen. Begründet wird diese neue Machtverteilung doppelt – mit Patienten-
und Opferschutz. Nach einigen dramatischen Vorfällen und entsprechenden Berichten
soll
die Psychiatrie aufrüsten. Eine wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit von
ambulanten Zwangsbehandlungen gibt es bisher nicht; sie reduzieren nicht stationäre
Aufnahmen, Aufenthaltsdauer in Kliniken, Symptome, und verbessern nicht das soziale
Funktionsniveau [4].
Neuroleptika: Weisungs-wert?
Was soll wem gewiesen werden? Überall schimmert durch: Patienten sollen Medikamente
nehmen müssen – nicht nur stationär, wo das mit Richterentscheidung längst möglich
ist.
Was ist mit der allgegenwärtigen Ernüchterung bzgl. Neuroleptika: Sie wirken nicht
bei
allen (Non-Responder). Sie haben oft dramatische und für die Betroffenen qualvolle
Nebenwirkungen. Sie führen, hoch dosiert und jahrelang eingenommen, häufig zu einem
früheren Tod. Sie bedeuten für die meisten Betroffenen in den üblich hohen Dosierungen
eine erhebliche Beeinträchtigung, werden oft als Bestrafung erlebt. Sie können die
fehlende tragende Beziehung nicht ersetzen. Sehr oft sind in der Klinik bis zur
Entlassung Dosierungen üblich, bei denen das spätere Absetzen vorprogrammiert ist.
Es
wird ärztlich nicht begleitet und führt häufig zum Drehtüreffekt.
Wir fordern eine (politische) Weisung an die Psychiatrie
Das freie Spiel der Kräfte geht auf Kosten der Menschen, die am meisten auf Behandlung
angewiesen sind. Der sog. Fachkräftemangel benachteiligt erst recht die Menschen mit
komplexen Störungen bzw. Bedarfen. Die Politik ist gefordert. Bevor wir nicht alles
umgesetzt haben, von dem wir wissen, dass es dem Aufbau von Beziehung gerade zu den
„Schwierigen“ und der Reduktion von Zwang dient, darf weitere Hochrüstung keine Option
sein.
Weisung ja – aber für die (Kosten-) Träger der Versorgung:
-
Kliniken mit regionaler Versorgungsverpflichtung werden angewiesen, die
Notfallversorgung um multiprofessionelle ambulante Teams zu erweitern; deren
Finanzierung wird vereinfacht, entbürokratisiert und verpflichtend.
-
Die Finanzierung wird von der Belohnung belegter Betten (Pflegesätze) auf ein
Globalbudget (wie in bisherigen Modellregionen und neuerdings vom Bundesministerium
für Gesundheit empfohlen), mindestens aber auf ein persönliches Jahresbudget für
wiederholt aufgenommene Patienten umgestellt. Die so mögliche integrierte
sektorübergreifende Versorgung reduzierte den Anteil von Zwangsunterbringungen in
Hamburg alleine schon von 34,8 auf 7,8% [5].
-
Gegenseitige Ausschlusskriterien (z. B. zwischen psychotherapeutischen Praxen und
psychiatrischen Institutsambulanzen) entfallen. Entsprechend den Leitlinien wird das
Recht auf Psychotherapie umgesetzt. Viele Patientinnen und Patienten haben bisher
keine Wahl: Medikation soll die Antwort auf alles sein.
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Kliniken mit Pflichtversorgung nach PsychKG/PsychKHG werden zu milieutherapeutischen
Maßnahmen verpflichtet (SOTERIA-Elemente,
Behandlungsvereinbarungen/Nachbesprechungen, Peer-Support). Die Dokumentation und
systematische Reduktion von Zwangsmaßnahmen wird Pflicht.
-
Die sozialpsychiatrischen Einrichtungen eines Sektors werden in eine verpflichtende
Kooperation (Gemeindepsychiatrischer Verbund) einbezogen. Insbesondere für
„Problempatientinnen“ wird eine gemeinsame Verantwortung etabliert [6].
-
Das gilt auch für die wohnungslosen psychisch Kranken, die im Einzugsbereich eines
Wohnangebots / ambulanten Trägers „Platte machen“. Das Prinzip „Housing first“, das
in Kanada und Finnland vorbildlich wurde, wird flächendeckend umgesetzt [7].
-
Ziel ist eine andere (psychotherapeutische) Haltung: Auch Menschen z. B. mit
Psychosen haben eine Biographie und für ihr Geworden-sein gute Gründe; sie sind nie
nur krank und haben damit ein grundsätzliches Recht auf Selbstbestimmung. Behandlung
muss mit ihnen besprochen werden und darf nur in sorgfältig selbstkritisch zu
überprüfenden und nachzubesprechenden Ausnahmefällen gegen ihren Willen durchgeführt
werden.
Wir befürchten: Die Ausweitung der Möglichkeit von Zwang würde die anstehenden strukturellen
Bemühungen torpedieren und sie unterlaufen; zugleich würden sie den vorsichtigen
Fortschritten in Richtung Partizipation entgegenwirken, aufgebautes Vertrauen zerstören,
Behandlungsängste massiv steigern und mögliche Verweigerung provozieren. Wer sich
durch
Zwang in seiner Selbstbestimmung bedroht sieht, wird Behandlung verweigern, um sein
Eigensein zu schützen, und die Chance, die darin liegt, nicht nutzen. Schon bei stationären
Zwangsmaßnahmen gib es eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was die Betroffenen
sich als
Alternative wünschen und was verwirklicht wird [8].
Überhaupt erscheinen stationäre Zwangsmaßnahmen als Ausdruck misslungener Kommunikation
[9]. Dies gilt es aufzuarbeiten und nicht auszuweiten.
Für eine solche Kehrtwende in der Versorgung brauchen wir einen breiten Diskurs, einen
trialogischen Konsens und die Beteiligung der Politik [10].