Georg Juckel, Paraskevi Mavrogiorgou. Zeit – Endlichkeit – Liebe. Das subjektive Erleben
bei psychischen Störungen. Stuttgart: Schattauer, 2023; 216 Seiten, Paperback, 34,99
Euro, ISBN 9783608206111
Die Konfrontation mit der Realität des Todes ist für die conditio humana konstitutiv.
Sie wird zur existenziellen Herausforderung zu allererst über ein emotionales Erleben,
das tief erschüttert und verunsichert. Allem Anschein nach ist die moderne Psychiatrie
und Psychotherapie an diesem humanen Generalthema nicht allzu sehr interessiert. Georg
Juckel, Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Bochum,
und seine Frau Paraskevi Mavrogiorgou, Professorin für Psychiatrie und Psychotherapeutin,
bilden mit ihrem jüngst vorgelegten Buch „Zeit – Endlichkeit – Liebe. Das subjektive
Erleben bei psychischen Störungen“ eine Ausnahme.
Psychiatrische Patienten haben nicht nur ein alarmierend hohes Risiko für Suizid,
sondern auch eine eng mit dem psychischen Leiden verbundene, signifikant erhöhte körperliche
Morbidität. Schwerwiegende psychische Störungen wie etwa wiederkehrende Depressionen
oder schizophrene Psychosen werfen an Bruchlinien eines krisenhaften Erlebens Grundfragen
der eigenen Existenz auf. Sie lassen die Endlichkeit, das Erlöschen von Lebendigkeit
unabweisbar in einer radikalen Vereinzelung verspüren. Sie bewirken eine Verzweiflung
am bisherigen und aktuellen Lebenssinn. Die Autoren zeigen sich einerseits in der
theoretischen Diskussion der philosophischen und theologischen Positionen zum Thema
Endlichkeit und Tod bestens informiert. Sie widmen sich andererseits in einem subjektorientierten
klinischen Zugang aber auch empirischen Fragestellungen, etwa wie psychisch erkrankte
Personen Zeit allgemein erfahren, die lineare Organisiertheit von Zeit kennen, den
Fluss der Zeit objektiv wahrnehmen und subjektiv erleben, wie sie sich zur Endlichkeit
des eigenen Lebens verhalten, sich um ihre persönliche Vergänglichkeit sorgen, wie
sehr sie Endlichkeitsangst verspüren. Die beiden Autoren vermuten in den empirisch
messbaren subjektiven Zeiterfahrungsstörungen von psychisch erkrankten Patienten eine
mögliche Erschwernis, jenen notwendigen Prozess aufzunehmen, der sich in der unvermeidbaren
Konfrontation mit der Realität von Tod als existenzielle Herausforderung stellt, nämlich
jenes „Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhaltens“ hinsichtlich des eigenen bisherigen
und aktuellen Lebens. Dieser Prozess nimmt wesentlich Bezug auf die persönliche Vergangenheit
in der Erinnerung. Ohne weitgehend intakte Dimensionen der Zeiterfahrung ist eine
solche autobiografische Erinnerungskonstruktion des Lebens, eine personale Identität
in der Zeitlichkeit bei psychisch kranken Personen vermutlich stark problembehaftet.
Es ist Juckel und Mavrogiorgou nur beizupflichten, dass die Aufnahme einer auch die
Dimension des Todes, die Endlichkeit der menschlichen Existenz berücksichtigende therapeutische
Arbeit mit psychisch kranken Patienten eine besondere Sensibilität und Empathie erfordert,
was sie in Form der Liebe als jene entscheidende humane Kraft diskutieren, die der
Gewissheit von der Endlichkeit jeglicher menschlichen Existenz, der Grundangst vor
der Realität des Todes gleichsam als ein übergeordnetes Drittes entgegengesetzt werden
kann. Ihr Buch ist höchst anregend. Es ist gleichermaßen anspruchsvoll und herausfordernd.
Es ist im thematischen Fokus untypisch für den Mainstream des zeitgenössischen psychiatrischen
Denkens und Handelns und gerade deswegen höchst zeitgemäß. Ihr Buch kann allen in
den „Psycho-Fächern“ Tätigen sehr empfohlen werden, auch zur eigenen existenziellen
und professionellen Selbstreflexion dieser Grundfragen des menschlichen Lebens.
Hans-Peter Kapfhammer, Graz