Nervenheilkunde 2024; 43(09): 527
DOI: 10.1055/a-2313-3564
Buchbesprechungen

Zeit – Endlichkeit – Liebe. Das subjektive Erleben bei psychischen Störungen

 

    Georg Juckel, Paraskevi Mavrogiorgou. Zeit – Endlichkeit – Liebe. Das subjektive Erleben bei psychischen Störungen. Stuttgart: Schattauer, 2023; 216 Seiten, Paperback, 34,99 Euro, ISBN 9783608206111

    Die Konfrontation mit der Realität des Todes ist für die conditio humana konstitutiv. Sie wird zur existenziellen Herausforderung zu allererst über ein emotionales Erleben, das tief erschüttert und verunsichert. Allem Anschein nach ist die moderne Psychiatrie und Psychotherapie an diesem humanen Generalthema nicht allzu sehr interessiert. Georg Juckel, Ordinarius für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Bochum, und seine Frau Paraskevi Mavrogiorgou, Professorin für Psychiatrie und Psychotherapeutin, bilden mit ihrem jüngst vorgelegten Buch „Zeit – Endlichkeit – Liebe. Das subjektive Erleben bei psychischen Störungen“ eine Ausnahme.

    Psychiatrische Patienten haben nicht nur ein alarmierend hohes Risiko für Suizid, sondern auch eine eng mit dem psychischen Leiden verbundene, signifikant erhöhte körperliche Morbidität. Schwerwiegende psychische Störungen wie etwa wiederkehrende Depressionen oder schizophrene Psychosen werfen an Bruchlinien eines krisenhaften Erlebens Grundfragen der eigenen Existenz auf. Sie lassen die Endlichkeit, das Erlöschen von Lebendigkeit unabweisbar in einer radikalen Vereinzelung verspüren. Sie bewirken eine Verzweiflung am bisherigen und aktuellen Lebenssinn. Die Autoren zeigen sich einerseits in der theoretischen Diskussion der philosophischen und theologischen Positionen zum Thema Endlichkeit und Tod bestens informiert. Sie widmen sich andererseits in einem subjektorientierten klinischen Zugang aber auch empirischen Fragestellungen, etwa wie psychisch erkrankte Personen Zeit allgemein erfahren, die lineare Organisiertheit von Zeit kennen, den Fluss der Zeit objektiv wahrnehmen und subjektiv erleben, wie sie sich zur Endlichkeit des eigenen Lebens verhalten, sich um ihre persönliche Vergänglichkeit sorgen, wie sehr sie Endlichkeitsangst verspüren. Die beiden Autoren vermuten in den empirisch messbaren subjektiven Zeiterfahrungsstörungen von psychisch erkrankten Patienten eine mögliche Erschwernis, jenen notwendigen Prozess aufzunehmen, der sich in der unvermeidbaren Konfrontation mit der Realität von Tod als existenzielle Herausforderung stellt, nämlich jenes „Sich-zu-sich-selbst-zeitlich-Verhaltens“ hinsichtlich des eigenen bisherigen und aktuellen Lebens. Dieser Prozess nimmt wesentlich Bezug auf die persönliche Vergangenheit in der Erinnerung. Ohne weitgehend intakte Dimensionen der Zeiterfahrung ist eine solche autobiografische Erinnerungskonstruktion des Lebens, eine personale Identität in der Zeitlichkeit bei psychisch kranken Personen vermutlich stark problembehaftet.

    Es ist Juckel und Mavrogiorgou nur beizupflichten, dass die Aufnahme einer auch die Dimension des Todes, die Endlichkeit der menschlichen Existenz berücksichtigende therapeutische Arbeit mit psychisch kranken Patienten eine besondere Sensibilität und Empathie erfordert, was sie in Form der Liebe als jene entscheidende humane Kraft diskutieren, die der Gewissheit von der Endlichkeit jeglicher menschlichen Existenz, der Grundangst vor der Realität des Todes gleichsam als ein übergeordnetes Drittes entgegengesetzt werden kann. Ihr Buch ist höchst anregend. Es ist gleichermaßen anspruchsvoll und herausfordernd. Es ist im thematischen Fokus untypisch für den Mainstream des zeitgenössischen psychiatrischen Denkens und Handelns und gerade deswegen höchst zeitgemäß. Ihr Buch kann allen in den „Psycho-Fächern“ Tätigen sehr empfohlen werden, auch zur eigenen existenziellen und professionellen Selbstreflexion dieser Grundfragen des menschlichen Lebens.

    Hans-Peter Kapfhammer, Graz


    #

    Publication History

    Article published online:
    27 August 2024

    © 2024. Thieme. All rights reserved.

    Georg Thieme Verlag KG
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany