Psychiatr Prax 2024; 51(05): 235-237
DOI: 10.1055/a-2315-2739
Editorial

Ernährungsinterventionen in der Psychiatrie – ein vernachlässigter Baustein für einen gesünderen Lebensstil

Dietary Interventions In Psychiatry – A Neglected Opportunity to Promote Healthy Lifestyles

Authors

  • Sonja Moetteli

    1   Zentrum Psychiatrische Rehabilitation, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), Köniz, Schweiz
  • Annabel S. Mueller-Stierlin

    2   Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, Universität Ulm, Deutschland
 
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Sonja Moetteli
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Annabel S. Mueller-Stierlin

Ein schlechter körperlicher Gesundheitszustand von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist ein vielschichtiges, diagnoseübergreifendes und globales Problem. Meta-Analysen belegten wiederholt, dass das Risiko für Adipositas, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen bis zu doppelt so hoch ist wie in der Allgemeinbevölkerung [1]. Die hohe Rate körperlicher Komorbiditäten ist mit einer erhöhten Belastung und einer reduzierten Lebensqualität der Betroffenen verbunden und führt letztendlich zu einer deutlich verkürzten Lebenserwartung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung [2] [3] [4]. Neben medikamentösen Nebenwirkungen, wie z. B. durch Antipsychotika und Antidepressiva [5], sind Lebensstilfaktoren wie eine reduzierte körperliche Aktivität und ungesunde Ernährungsgewohnheiten maßgeblich für einen schlechten körperlichen Gesundheitszustand von Menschen mit psychischen Erkrankungen verantwortlich [1].

Lebensstilinterventionen, die auf die Verbesserung der körperlichen Aktivität und Ernährungsweise abzielen, können ein zentrales Element in der Prävention und im Management der inakzeptabel hohen Raten somatischer Komorbiditäten sein [1]. Dementsprechend werden Lebensstilinterventionen auch in einer Leitlinie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Strategien der ersten Wahl zur Verbesserung der körperlichen Gesundheit von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen empfohlen (sowohl für das Gewichtsmanagement, als auch für die Prävention und Behandlung von Herzkreislauferkrankungen und Diabetes) [6].

Auch in aktuellen klinischen Leitlinien wird der Einsatz von Lebensstilinterventionen als wichtige Komponente in der psychiatrischen Versorgung postuliert, da Lebensstilfaktoren, nicht nur für die körperliche, sondern auch für die psychische Gesundheit von grundlegender Bedeutung sind [7] [8]. Lebensstilinterventionen zählen außerdem zu den psychosozialen Interventionen, da sie dazu beitragen können, «die individuellen Möglichkeiten der Betroffenen, in ihrer sozialen Umgebung zu leben und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, zu verbessern» [9]. Betroffene berichteten im Rahmen einer qualitativen Studie außerdem, dass das eigene Ernährungsverhalten zu Genuss und Freude, aber auch zu einem höheren Gefühl von Selbstwirksamkeit beitragen kann [10]. Zudem sind Lebensstilinterventionen im Gegensatz zu medikamentösen Ansätzen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen breit akzeptiert [11].

Lebensstilbasierte Ansätze können somit einen mehrfachen Nutzen bieten, indem sie körperliche Komorbiditäten, psychische Beeinträchtigungen und das Wohlbefinden gleichzeitig adressieren. Darüber hinaus haben sie den Vorteil, dass sie im Allgemeinen als gut akzeptiert, kosteneffektiv und risikoarm in Bezug auf die Verursachung unerwünschter Ereignisse gelten.

In den oben genannten Leitlinien wird neben der körperlichen Aktivität stets auch das Ernährungsverhalten thematisiert, wobei ernährungsbezogene Ansätze bislang weniger gut erforscht sind [7] [9]. Für Interventionen zur Verbesserung der Ernährungsgewohnheiten bei depressiv Erkrankten wurde daher aufgrund des geringen Evidenzgrades nur eine Empfehlung der Evidenzstufe 3 ausgesprochen [7]. Die Schwierigkeit beginnt bereits damit, dass es bisher noch keine etablierten Assessmentinstrumente zur Erfassung von Ernährungsproblemen spezifisch für Menschen mit psychischen Problemen gibt [12] und daher häufige Ernährungsprobleme, wie das Risiko für Mangelernährung, Nahrungsmittelintoleranzen und gestörte Ernährungsmuster, oft nicht erkannt werden [13] [14]. Die World Psychiatric Association (WPA) hat diesen Forschungsrückstand erkannt und fordert deshalb in ihrem Action Plan 2023–2026 explizit, dass die Implementierung evidenzbasierter Therapien zur Förderung eines gesunden Lebensstils, die entsprechende Forschung und Wissenschaftskommunikation in den nächsten Jahren priorisiert werden sollen [15]. Dabei wird insbesondere auf den Forschungsbedarf zu den wechselseitigen Zusammenhängen von Ernährungsqualität und psychischer Gesundheit in verschiedenen Populationen und zur Wirksamkeit ernährungsbezogener Interventionen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen hingewiesen [15].

Dieser Appell gilt insbesondere für die D-A-CH-Region, da in der aktuellen S3-Leitlinie zu psychosozialen Interventionen bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen [9] sowie auch in den einschlägigen systematischen Reviews zum Ernährungsverhalten von Menschen mit psychischen Erkrankungen [16] [17] [18] nur vereinzelte Studien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu finden sind. Die Analyse von regionalen Daten ist jedoch essenziell, da das Ernährungsverhalten und die Bereitschaft zur Veränderung des Ernährungsverhaltens stark von kulturellen und sozialen Faktoren beeinflusst werden und die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems einen großen Einfluss auf die Umsetzung und Machbarkeit von Interventionen haben.

Die Autoren der S3-Leitlinie gehen zudem davon aus, «dass psychosoziale Maßnahmen zur Verhaltensänderung mit dem Ziel der Unterstützung einer gesundheitsfördernden Lebensweise bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen im Versorgungsalltag in Deutschland bisher nicht systematisch etabliert sind» [9]. Obwohl mit dem ersten Update der Leitlinie im Jahr 2018 eine neue Empfehlung aufgenommen wurde, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen multimodale gesundheitsfördernde Interventionen mit den Schwerpunkten gesunde Ernährung und körperliche Aktivität angeboten werden sollen (Empfehlungsgrad: A, Evidenzlevel: Ia-Ib), scheint sich im Versorgungsalltag noch nicht viel geändert zu haben. Im Rahmen einer qualitativen Studie mit 16 Betroffenen aus Deutschland und Österreich beklagten einige die aus ihrer Sicht unzureichende Unterstützung durch Fachkräfte bei Ernährungs- und Gewichtsproblemen und wünschten sich eine stärkere Berücksichtigung dieser Themen in der psychiatrischen Versorgung [19]. Auch eine Studie aus der Schweiz zeigt, dass sich die Hälfte der psychiatrischen Patienten eine Ernährungsberatung wünscht und über 80+% der Meinung sind, dass Ernährungsunterstützung zur psychiatrischen Standardbehandlung gehört, wobei 70+% angeben, dass dem Thema in ihrer Versorgung bislang zu wenig Beachtung geschenkt wurde [13].

Ernährungsbezogene Interventionen werden in einschlägigen Leitlinien zur Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen empfohlen. Für die D-A-CH-Region wurde ein Nachholbedarf in der Erforschung und Implementierung ernährungsbezogener Ansätze in psychiatrischen Versorgungssettings identifiziert, der auch aus Betroffenenperspektive stark betont wird.

Aufbauend auf den Arbeiten der Lancet Psychiatry Commission [1] zur körperlichen Gesundheit und der klinischen Leitlinie zu Lebensstilinterventionen der World Federation of Societies for Biological Psychiatry [7] können die folgenden drei praxisorientierten Empfehlungen abgeleitet werden:

  • Neben der Bestimmung von anthropometrischen Daten und Blutwerten sollten auch Lebensstilfaktoren wie das Ernährungsverhalten und die körperliche Aktivität der Betroffenen regelmäßig erfragt werden, um die körperliche Gesundheit und damit verbundene Risiken bewerten zu können [1]. Zur Erfassung ernährungsbezogener Probleme wurde kürzlich in einer internationalen Arbeitsgruppe ein Screening-Instrument spezifisch für den Einsatz bei Menschen mit psychischen Erkrankungen entwickelt [20], das in einer ersten Machbarkeitsprüfung zufriedenstellende Ergebnisse erzielte [21].

  • Ernährungsbezogene Interventionen zur Verbesserung der körperlichen Gesundheit (z. B. Gewichtsreduktion) bei Menschen mit psychischen Erkrankungen scheinen wirksamer zu sein, wenn sie von Ernährungsfachkräften und zu einem frühen Zeitpunkt der Behandlung durchgeführt werden [1]. Neben der Wissensvermittlung scheinen insbesondere verhaltensorientierte und motivierende Beratungsansätze hilfreich zu sein [1]. Personalisierte Ansätze helfen dabei, die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen adäquat zu adressieren [7].

  • Um die maximale Effektivität von Lebensstilinterventionen zu gewährleisten, ist eine ganzheitliche, integrierte Versorgung durch multiprofessionelle Teams unter Einbezug spezialisierter Fachkräfte, wie z. B. Bewegungs- und Ernährungstherapeuten, anzustreben. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit setzt interprofessionelle Kompetenzen voraus, wie z. B. Rollenklarheit über die eigene und andere berufliche Rollen sowie die Fähigkeit zur interprofessionellen Kommunikation [22]. Erste Online-Befragungen deuten jedoch darauf hin, dass weder Ernährungsfachkräfte noch psychiatrische Fachkräfte über ausreichende Kenntnisse der jeweils anderen Disziplin verfügen [23] [24]. Dementsprechend sollten die Curricula für Gesundheitsberufe im Hinblick auf interprofessionelle Kompetenzen aktualisiert werden, um der zunehmenden Bedeutung von Lebensstilinterventionen in der psychiatrischen Versorgung Rechnung zu tragen [1].

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Ernährungsinterventionen von internationalen medizinischen Fachgesellschaften zur Verbesserung sowohl der körperlichen als auch der psychischen Gesundheit empfohlen werden; eine schlechte Ernährungsqualität ist ein beeinflussbarer Risikofaktor und ihre Verbesserung somit eine begleitende Behandlungsmöglichkeit. Dennoch ist die Umsetzung ernährungsbezogener Interventionen in den D-A-CH-Regionen noch nicht gelungen. Hier braucht es neben weiteren Forschungserkenntnissen vor allem die Implementierung längerfristiger verhaltensorientierter Unterstützungsangebote zur Förderung eines gesunden Lebensstils in die psychiatrische Regelversorgung mit einem multiprofessionellen Versorgungsansatz.


Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Sonja Moetteli

Zentrum Psychiatrische Rehabilitation Universitäre Psychiatrische
Dienste Bern (UPD)
3098 Köniz, Schweiz

Publication History

Article published online:
11 July 2024

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