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DOI: 10.1055/a-2342-2750
Kultursensibel?



Späte Ferien, Hoffnung auf ein paar restliche Sonnenstrahlen, bevor der größte Teil Europas in das Dauergrau des fortgeschrittenen Novembers eintaucht…
Die Reise geht in den Süden. Die Idee ist, mithilfe einer Hotel-App und verschiedenen Diensten zur Wettervorhersage sich dorthin zu bewegen, wo oben genannte Sonne noch zu erwarten ist. Was fällt dem in den 1960er-Jahren des vorigen Jahrhunderts geborenen Menschen dazu ein? Natürlich Italien: Sehnsuchtsort unserer Eltern und Tanten, Herkunft der Menschen, die das unvermeidbare Eiscafé Dolomiti betrieben, das es eine Zeit lang wohl in jeder deutschen Kleinstadt gab. Ich bin froh, endlich mal wieder meine einstaubenden Sprachkenntnisse auffrischen zu können, und mein Mann ist dankbar, mit alledem nicht viel zu tun haben zu müssen, außer natürlich dem zu frönen, was ihm unglaubliche Freude bereitet: Kehren enger Alpenpässe zu fahren!
Wir fahren nur kurz durch Österreich und schon sind wir da, wo die Ortschilder zwei Namen haben. Auf dem kleinen Marktplatz in Glurns/Glorenza frage ich zunächst eine Frau in einem Café, wo wir den Eingang zum Hotel finden können – auf Italienisch. Sie antwortet mir, ohne irgendein Anzeichen einer Irritation, in eben dieser Sprache, und wenige Minuten später stehen wir an der Rezeption. Wir werden auf Deutsch angesprochen, und ich habe das Bedürfnis zu fragen, in welcher Sprache wir sprechen sollten: „Auf Deutsch – natürlich!“ lautet die Antwort, und ich denke: „Gut, dass wir das geklärt haben.“
Weiter in der Lombardei ist es dann wieder andersherum, klar: Hier geht Englisch, Deutsch allenfalls rudimentär und ansonsten: „Si parla italiano – naturalmente!“, „Man spricht italienisch – natürlich!“
In Südtirol einige Tage später spricht mich der Platzwart auf einem Golfplatz in deutscher Sprache an, und irgendwie merke ich, dass es ihm schwerfällt, die passenden Worte zu finden. Rein intuitiv ermutige ich ihn auf Italienisch, ggf. dies zu nutzen, wenn es ihm leichter falle: Ein breites, erleichtertes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, er redet wie ein Wasserfall und ist kurz davor, mich in die Arme zu nehmen… Ich verpasse es dummerweise, ihn zu fragen, ob es in Ordnung wäre, wenn ich den ein oder anderen Apfel auf der Plantage nebenan pflücke. In Deutschland wäre es, glaube ich, Mundraub – aber in Italien? Und in Südtirol?
Trotz meiner multikulturellen moralischen Bedenken hat es am Ende des Tages ein wunderschön roter Apfel doch irgendwie in meine Tasche geschafft… Und ich bin nicht verhaftet worden.
Publication History
Article published online:
19 August 2025
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