Psychiatr Prax 2024; 51(06): 293-295
DOI: 10.1055/a-2366-3305
Editorial

„Mental Health Awareness“ – eine Entwicklung ohne Nebenwirkungen?

Mental Health Awareness – a Development without Side Effects?
Sven Speerforck
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
,
Georg Schomerus
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
› Author Affiliations
 
Zoom
Sven Speerforck
Zoom
Georg Schomerus

Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz psychischer Erkrankungen und des häufig großen Leids Betroffener und ihrer Familien und der einhergehenden Isolation ist diese Entwicklung positiv zu bewerten. Eine Entsprechung findet diese Entwicklung in einer deutlichen Zunahme der medialen Berichterstattung besonders für Depressionen [1]. Unter Pandemiebedingungen beschleunigte sich diese Entwicklung in breiteren gesellschaftlichen und politischen Debatten um Einsamkeit und psychische Gesundheit. Folglich wird die Behandlung von Depressionen in der deutschen Allgemeinbevölkerung inzwischen deutlich höher priorisiert als noch 2001 bzw. 2011 [2]. Auch psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlungen sind populärer geworden und werden international deutlich häufiger empfohlen als vor 25 Jahren [3]. Diese Entwicklungen werden in Deutschland flankiert von regelmäßigen Präventionsprogrammen in Bildungseinrichtungen (z. B. Irrsinnig Menschlich e.V.), nationalen Kampagnen für psychische Gesundheit (z. B. Aktionswoche Seelische Gesundheit) und politischen Förderinstrumenten (z. B. Förderbekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen). Die Petition „Depression muss in die Lehrpläne!“ des Jugendbeirates der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hatte im Juli 2024 innerhalb eines Monats bereits knapp 45.000 Unterschriften gesammelt.

„Psychische Krankheit“ – eine Kategorie in Wechselwirkung mit der Gesellschaft

Nimmt man einen einfachen Zusammenhang dieser Bemühungen in einem psychoedukativen Verständnis von psychischer Krankheit und Symptomen an, erscheint der Fall klar: Die breite Vermittlung von Wissen und Erfahrungen um Erkrankung und Behandlung führt relativ nebenwirkungsarm zu mehr Gesundheitskompetenz, erhöhter Sensibilität und reduziertem Stigma in der Öffentlichkeit. Ein Ziel dieser Bemühungen ist das sogenannte „shifting the curve“, das heißt eine breit angelegte Verbesserung der gesamten Krankheitslast in der Allgemeinbevölkerung durch gute Prävention [4]. Diese Public Mental Health Strategie und ihre Messbarkeit beruht auf der Annahme, dass ein zeitlich ausreichend konstantes und klar operationalisierbares Verständnis von psychischer Krankheit und Symptomen vorliegt.

Die Erkenntnis, dass medizinisch-gesellschaftlich konsentierte diagnostische Schwellen psychischer Krankheit an Entwicklungen von Diagnosemanualen und Zeitgeist gebunden sind überrascht nicht. Hingegen sind potenzielle Wechselwirkungen zwischen einem sich wandelnden gesellschaftlichen Verständnis von psychischer Krankheit und ihrer Kategorisierung weniger verstanden. Der kanadische Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking arbeitete umfangreich zu Wechselwirkungen zwischen menschlichen Phänomenen und deren Kategorisierung und postulierte einen sogenannten „Looping effect“ [5]. Klassifizierte Personen interagieren mit der Klassifikation, ändern oder adaptieren sich und führen so wiederum zu einer Änderung der Klassifikation selbst. In diesem theoretischen Rahmen bewertete Hacking psychiatrische Diagnosekonzepte als sog. „moving targets“ in direkter gesellschaftlicher Wechselwirkung. Hier zeigt sich eine direkte Relevanz zu den aktuellen „Awareness“-Bemühungen: Wenn im Rahmen einer breit angelegten Öffentlichkeitsarbeit vor allem Berichte attraktiver und sympathischer Menschen mit leichteren und gut behandelbaren Symptomen psychischer Erkrankung genutzt werden, mag das zu einer messbaren Einstellungsverbesserung gegenüber der genutzten Kategorie (z. B. „psychische Krankheit“ oder „Depression“) führen. Die Kernfrage ist dann allerdings: Haben sich durch diese Bemühungen die Einstellungen zu echten Menschen mit echten Diagnosen geändert oder hat sich die zu bewertende Kategorie selbst verändert? Die Annahme eines manipulierbaren Konzepts psychischer Krankheit wird auch durch experimentelle Daten gestützt: Wenn Probanden im Verlauf eines Experiments immer weniger schwere Symptome psychischer Krankheit präsentiert bekommen, ordnen diese zunehmend auch leichtere und mittelgradige Symptome als „psychisch krank“ ein [6]. Werden also weniger schwere Symptome öffentlich wahrgenommen, könnte dies durch eine prävalenzinduzierte Konzeptveränderung zu einer Verschiebung des Krankheitskonzeptes hin zu leichteren Symptomen beitragen und diesen „Looping effect“ beschleunigen [7]. Eine derartige Konzeptveränderung hätte Folgen für die Public Mental Health Strategie des „shifting the curve“: Auch wenn gute Präventionsarbeit zu einer „objektiv“ deutlich gesünderen Gesamtpopulation führte, hieße dies eben nicht, dass Hilfebedarf oder Diagnoseraten abnehmen. Die Schwelle zu einer Kategorisierung als psychische Krankheit verschiebt sich in diesem theoretischen Rahmen dann ebenfalls hin zu dem „gesünderen“ Pol. Zugespitzt handelt es sich also um ein dynamisches System mit stetigem Bedarf, dass auf Präventions– und Behandlungsbemühungen nicht unidirektional reagiert. Beobachtungen, dass die Häufigkeit depressiver Erkrankungen auf Populationsebene trotz gestiegener präventiver und therapeutischer Bemühungen keinesfalls abnimmt, sprechen für eine gewisse Relevanz dieser Dynamik auf Bevölkerungsebene (vgl. treatment-prevalence paradox [8]).


Ein höheres Stigma schwerer psychischer Krankheit als Nebenwirkung?

Nun könnte man einwenden, dass diese Verschiebung durchaus positive Effekte hat. Der wachsende Bedarf etwa nach Psychotherapie und die steigenden Verordnungszahlen von Antidepressiva zeigen ja eine gestiegene Inanspruchnahme professioneller Hilfe, was angesichts der gut belegten langen Latenz bis zur Inanspruchnahme von Hilfe bzw. der Häufigkeit gänzlich unbehandelter psychischer Krankheiten eine erwünschte Entwicklung ist. Allerdings gibt es Menschen, die von einer Konzeptverschiebung kaum profitieren, sondern denen sogar Benachteiligung droht: Menschen mit schweren psychischen Krankheiten, deren gesellschaftliche Akzeptanz sich, wie Langzeitstudien zeigen, in den letzten Jahrzehnten nicht verbessert, sondern teilweise sogar verschlechtert hat [9]. Dazu gehören Menschen mit Psychosen, die immer stärker als fremdartig wahrgenommen werden; Menschen mit Suchtkrankheiten, denen man ihre Erkrankung häufig zum Vorwurf macht [10]; aber vermutlich auch Menschen, die anhaltende Symptome einer schweren psychischen Krankheit zeigen, weil eine Behandlung nicht gelingt, oder auch nicht gewünscht wird. Diese Menschen sind zwar im Rahmen von Mental-Health-Awareness-Bemühungen oft mitgemeint, aber kaum repräsentiert. Es steht zu befürchten, dass sie angesichts eines „normalisierenden“ Mental-Health-Diskurses verstärkt als andersartig oder schuldhaft wahrgenommen werden. Tatsächlich haben Kontinuitätsvorstellungen in Bezug auf die Depression in den letzten zehn Jahren zugenommen, sind aber im gleichen Zeitraum in Bezug auf die Schizophrenie noch geringer geworden [11].

Jenseits der Einstellungen der Öffentlichkeit verschärft diese Entwicklung zusätzlich das „Inequality Paradox“: Eine erhöhte Vulnerabilität von benachteiligten Gruppen mit weniger sozialen und finanziellen Ressourcen führt häufig dazu, dass diese von Präventionsmaßnahmen kaum oder gar nicht profitieren und höhere Barrieren zu Behandlungsangeboten haben [12]. Unter den Annahmen einer relevanten Konzeptverschiebung zum gesünderen Pool besteht die große Gefahr, dass diese Menschen nicht nur nicht weniger krank werden, sondern auch zunehmend als „anders krank“ wahrgenommen und noch stärker diskriminiert werden. Soziale Ungleichheit würde so direkt zu Entwicklungen einer kategoriellen Ungleichheit beitragen – die soziale Schere darf hier keinesfalls zu einer konzeptionellen Schere psychischer Krankheit werden. Angesichts der bereits bestehenden Ungleichheit in der öffentlichen Berichterstattung [1] ist aber auch zu befürchten, dass diese Gruppe noch weiter aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet, weil das Thema „psychische Krankheit“ anders, nämlich „gesünder“ und „normaler“ besetzt ist. Da unser psychiatrisch-psychotherapeutisches Hilfesystem mutmaßlich zumindest in Teilen ohnehin zu einer bevorzugten Versorgung von ressourcenreichen Menschen mit gut behandelbaren Symptomen neigt, wäre eine solche Entwicklung aus sozialpsychiatrischer Sicht verstörend. Es ist die Aufgabe der Psychiatrie, sich mit ihren Angeboten und Ressourcen immer wieder neu auf die Menschen zu fokussieren, die am schwersten betroffen und am schwersten zu erreichen sind.




Korrespondenzadresse

PD Dr. Sven Speerforck
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Leipzig – AöR
Semmelweisstr. 10
04103 Leipzig
Deutschland   

Publication History

Article published online:
12 September 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom
Sven Speerforck
Zoom
Georg Schomerus