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DOI: 10.1055/a-2389-7253
Vorsorgeuntersuchungen
- Abkürzungen
- Hintergrund
- Allgemeines
- Meilen- und Grenzsteine
- Besonderheiten in den einzelnen Vorsorgeuntersuchungen
- Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
- Weiterführende Literatur
Unser Beitrag erläutert den Hintergrund der Vorsorgeuntersuchungen, benennt die jeweiligen Untersuchungszeitpunkte und die Beratungsthemen. Er gibt Empfehlungen zu den körperlichen Untersuchungen und zur Beurteilung der kindlichen Entwicklung. Dabei werden Perzentilenwerte für Meilen- und Grenzsteine vorgestellt und die einzelnen Vorsorgeuntersuchungen im Detail beschrieben. Ziel des hier präsentierten Konzepts ist es, eine Umsetzungsempfehlung im deutschsprachigen Raum zu geben.
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Schlüsselwörter
Vorsorgeuntersuchungen - Prävention - Entwicklungsbeurteilung - gelbes Heft - Grenzsteine - Meilensteine - U-Untersuchungen - ScreeningAbkürzungen
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Hintergrund
Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen sind eine wichtige präventive Leistung der Gesundheitssysteme vieler Länder. Anzahl und Art dieser Untersuchungen weichen allerdings je nach Land stark voneinander ab.
In den nordischen Ländern und Großbritannien sind fachärztliche Spezialist*innen sowie speziell ausgebildete Pflegende dafür verantwortlich, in den Niederlanden hingegen die Institutionen der Kinder- und Jugendgesundheitsbehörde und in den deutschsprachigen Ländern, Frankreich und den USA ambulant tätige Grundversorger (Kinder- und Hausärzt*innen). In den USA werden die Vorsorgeuntersuchungen Well-Child Visits genannt, in Deutschland Früherkennungsuntersuchungen (auch U-Untersuchungen).
In den verschiedenen Ländern sind die Untersuchungen entweder durch gesetzliche Krankenversicherungen oder durch staatliche Mittel sichergestellt. Die Untersuchungen sind in den meisten Ländern freiwillig, manche Länder verknüpfen allerdings die Auszahlung von Kindergeld an den Nachweis der Untersuchungen. Trotz vieler Bemühungen ist die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen durch die Familien nicht ganz vollständig. Sie liegt bei jüngeren Kindern in der Regel bei 95% und ist besonders hoch, wenn Vorsorgeuntersuchungen zugleich mit den Impfungen stattfinden. Später nimmt die Teilnehmerrate etwas ab.
Besondere Risikofaktoren für eine geringere Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen sind:
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ein niedriger sozioökonomischer Status,
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ein Migrationshintergrund beider Eltern,
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ein mangelndes Verständnis für Sinn und Zweck der Untersuchungen,
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eine unzureichende Gesundheitsvorsorge schon vor der Geburt sowie
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ein junges Alter der Eltern.
Weil gleichzeitig besonders diejenigen Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status ein höheres Risiko für Entwicklungsauffälligkeiten und Gefährdungen haben, werden in vielen Ländern Einladungs- und Erinnerungssysteme oder sogar eine obligatorische Meldung (z. B. im Bundesland Saarland bereits eingeführt) zur Verbesserung der Inanspruchnahme diskutiert. Da Vorsorgeuntersuchungen aber hinsichtlich Inanspruchnahme und Umfang nicht vollständig sind, können sie nicht als zuverlässige Instrumente der Gesundheitsstatistik dienen. Sie sind in erster Linie eine individualmedizinische Maßnahme.
Studien haben gezeigt, dass Vorsorgeuntersuchungen durchaus wirksame und zweckmäßige Effekte auf das Gesundheitssystem haben und für die Gesellschaft wirtschaftlich sind. Sie führen beispielsweise zu einer Reduktion von Konsultationen in den Krankenhäusern sowie einer effizienteren Kontrolle und besseren Behandlung von chronischen Krankheiten. Zudem werden Impfprogramme in der Regel zuverlässiger befolgt, wenn die Impfungen im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen stattfinden. Schließlich dienen diese präventiven Untersuchungen aber vor allem dazu, Entwicklungsstörungen möglichst frühzeitig zu erkennen und Eltern vorausschauend über gesundheitliche Themen zu beraten. Dabei ist besonders eine Rückversicherung der elterlichen Kompetenzen sehr wichtig. Die erzieherischen Fähigkeiten der Eltern werden nachweislich gestärkt, wenn ihnen eine Fachperson bestätigt, dass sie für ihr Kind gut Sorge tragen und ihre Rolle als Eltern gewissenhaft ausfüllen.
Vorsorgeuntersuchungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Früherfassung von Missbrauch und/oder Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen. Die Begleitung dieser Familien ab der Geburt des Kindes ermöglicht, dass bereits zu einem frühen Zeitpunkt entsprechende Unterstützungs- und Versorgungsangebote für die Eltern zu Förderung und Erziehung vermittelt werden können (z. B. Eltern-Kind- und Frühe Hilfen). Allerdings sind für die Früherfassung von Misshandlung bisher keine geeigneten standardisierten Methoden in den Vorsorgeuntersuchungen implementiert.
Insgesamt haben Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gemeinsam mit den Angeboten der Frühen Hilfen dazu beigetragen, dass die Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie die Morbidität im Kindes- und Jugendalter deutlich gesenkt werden konnten.
Früherkennungsuntersuchungen dienen nicht allein der Identifikation von möglicherweise vorliegenden Krankheiten und Entwicklungsverzögerungen (Sekundärprävention). Sie enthalten auch die antizipierende (vorausschauende) Beratung von Familien, bevor mögliche Krankheiten oder Störungen auftreten (Primärprävention). Der Begriff Vorsorgeuntersuchungen schließt diese primäre Form der Prävention mit ein und umfasst daher auch wichtige psychosoziale Aspekte von der Geburt bis in die Adoleszenz.
Erst die vorausschauende Beratung macht die U-Untersuchungen zu echten Vorsorgeuntersuchungen und beschränkt diese nicht nur auf die Früherkennung von Krankheiten und Störungen.
Tatsächlich geben Eltern als Hauptgründe für den Besuch von Vorsorgeuntersuchungen ihr Bedürfnis nach Beratung und nach Rückversicherung bezüglich der kindlichen Entwicklung und Gesundheit sowie das Besprechen ihrer diesbezüglichen Sorgen an. Eine Schweizer Studie zeigt, dass die psychosozialen Aspekte und Beratungsthemen in den Vorsorgeuntersuchungen sehr divers sind ([Tab. 1]). Eltern lassen sich von niedergelassenen Kinderärzt*innen beraten, weil diese bei den Familien in der Regel hohes Vertrauen genießen. Sie kennen die Kinder und ihre Eltern meist seit der Geburt und begleiten sie in den Vorsorgeuntersuchungen vom Säuglingsalter bis in die Adoleszenz.
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Allgemeines
Im Rahmen der begrenzten zeitlichen Ressourcen kann nur eine Auswahl der Themen in den Vorsorgeuntersuchungen bearbeitet werden, die sich an den von den Eltern festgelegten Schwerpunkten orientiert. Die Eltern haben die Möglichkeit, ihre Fragen und Themen zur Untersuchung auf einer speziellen Seite im Deutschen U-Heft zu notieren. Es liegt in der Verantwortung und dem Ermessen der Untersucherin oder des Untersuchers, die passende Gewichtung und Priorisierung vorzunehmen.
Dokumentation
In Deutschland haben auf Grundlage des seit 1971 mehrfach revidierten fünften Sozialgesetzbuchs „versicherte Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres Anspruch auf 10 Untersuchungen sowie nach Vollendung des 10. Lebensjahres auf eine Untersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, die ihre körperliche, geistige oder psychosoziale Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden […]“. Im Kinderuntersuchungsheft („gelbes Heft“) werden die Eltern über die Untersuchungen informiert und die Befunde von der Ärztin bzw. dem Arzt dokumentiert.
In der Schweiz hat die Schweizerische Kinderärzte Gesellschaft (Pädiatrie Schweiz) entsprechende Checklisten zu den Vorsorgeuntersuchungen herausgegeben, die als Leitlinien für die Vorsorgeuntersuchungen dienen. Die Untersuchungen gelten allerdings lediglich als teilstandardisiert, denn weder die deutschen noch die schweizerischen Richtlinien beinhalten eine genaue Bestimmung zur Durchführung der Vorsorge. Auch sind die Vorgaben im „gelben Heft“ wie auch in den Schweizer Checklisten außerordentlich umfangreich. Sie können anlässlich der einzelnen Termine aus zeitlichen Gründen oft nicht umfassend erfüllt werden.
Auch der in diesem Artikel geforderte Minimalstandard übersteigt das, was im praktischen Alltag üblich ist. Dennoch verfolgt das hier präsentierte Konzept das Ziel, eine Umsetzungsempfehlung für alle deutschsprachigen Länder zu geben.
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Zeitpunkte und Inhalte
In [Tab. 2]sind die Zeitpunkte des U-Programmes in Deutschland gemäß der Kinderrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) dargestellt. Auch werden die wichtigsten Themen aufgelistet, die allerdings nicht zwingend abgearbeitet werden müssen, sondern je nach Kind und Familie zum Teil angepasst werden können.
Bei jeder Vorsorgeuntersuchung wird außerdem eine körperliche Untersuchung durchgeführt und eine entwicklungspädiatrische Beurteilung der Motorik, des Spieles, der kognitiven Entwicklung, der Kommunikation und Sprache sowie der sozioemotionalen Entwicklung vorgenommen. Dafür kommen in den verschiedenen Entwicklungsbereichen Grenzsteine (s. u.) zur Anwendung.
Auch werden anlässlich der einzelnen Vorsorgetermine die Körpermaße (Körpergewicht und Körperlänge, Kopfumfang bis zur U7, Body-Mass-Index ab der U5) erhoben, mit der elterlichen Zielgröße abgeglichen und in die entsprechenden Wachstumskurven (Somatogramme) eingetragen; diese sind im „gelben Heft“ abgebildet. Außerdem sollten bei jeder Vorsorgeuntersuchung die Risiken für einen körperlichen, psychischen oder sexuellen Missbrauch oder eine Kindesvernachlässigung (z. B. durch eine postpartale Depression) beurteilt werden. Dabei müssen die Interaktion der Eltern mit dem Kind und die elterliche Feinfühligkeit beurteilt werden.
Apparative Untersuchungen
Zwischen der U1 und der U2 werden spezielle weitere Früherkennungsuntersuchungen durchgeführt: das Pulsoxymetrie-Screening nach angeborenen Herzfehlern (zwischen der 24. und 48. Lebensstunde), das Neugeborenenscreening nach angeborenen Stoffwechselstörungen, Endokrinopathien und anderen Erkrankungen wie Sichelzellkrankheit und spinale Muskelatrophie (zwischen der 36. und 72. Lebensstunde) sowie das Hörscreening mittels otoakustischer Emissionen (OAE) oder automatisierter Hirnstammaudiometrie (AABR, bis zur 72. Lebensstunde).
Zwischen U2–U9 erfolgt das Sehscreening, das der Früherfassung einer Amblyopie und deren Risikofaktoren dient (z. B. Schielen oder stark unterschiedliche Brechwerte). Neben einer Inspektion der Augen wird auch geprüft, ob das Kind einem bewegten Gegenstand oder der untersuchenden Person mit den Augen folgen kann (Blickfolgeuntersuchung). Die Durchleuchtungsuntersuchung in einem Abstand von 1–2 Metern dient der Erfassung einer Katarakt oder einer anderen Trübung im Verlauf der Sehachse. Dabei wird der Fundusreflex (Fundusrot) untersucht. Mit dem Brückner-Test im abgedunkelten Raum im Abstand von 3 Metern können beim gleichzeitigen Durchleuchten beider Pupillen stark unterschiedliche Brechwerte und ein geringes Schielen erfasst werden. Stärkeres Schielen lässt sich auch mit einer Asymmetrie des Lichtreflexes auf der Hornhaut erkennen (Hirschberg-Test). Als Alternative zum (technisch anspruchsvollen) Brückner-Test wurden in den letzten Jahren verschiedene Autorefraktometer für die kinderärztliche Praxis entwickelt, die ab der U6 eingesetzt werden können. Diese können eine Anisometropie erkennen, unabhängig davon, ob sich bereits eine Amblyopie entwickelt hat. Ab U7–U9 ist zusätzlich auch ein Stereotest sinnvoll (z. B. Lang-Stereotest). Wenn die Stereogramme der Figuren im Abstand von 40 cm erkannt werden, dann ist ein Mikroschielen praktisch ausgeschlossen. Ab der U8 soll auch der Visus geprüft werden (z. B. mit Symbolen, Lea-Optotypen oder Snellen-E-Haken).
Ebenso ist im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen ein regelmäßiges Hörscreening wichtig, auch wenn gewisse angeborene Beeinträchtigungen des Gehörs bereits mit den OAE in der Neugeborenenzeit erfasst werden können. So sollten ab U4 eine nicht angeborene, erworbene Schwerhörigkeit oder eine progrediente angeborene Hörstörung identifiziert werden. Eine Methode dazu ist die Sensibilisierung der Eltern mit geeigneten Fragen: Lässt sich das Kind mit der Stimme beruhigen, auch wenn es die Eltern nicht sieht? Erschrickt das Kind, wenn die Eltern ans Bett treten? Wird das Lautinventar des Kindes im Verlauf variabler? Reagiert es auf das Rufen des Namens? In der U5 wird das Hörvermögen zusätzlich gezielt beidseits mit der Hochtonrassel geprüft. In der U8 oder U9 erfolgt das Hörscreening mit einem Reintonaudiometer mit Kopfhörer ([Tab. 3]).
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Meilen- und Grenzsteine
In den Vorsorgeuntersuchungen werden zur entwicklungspädiatrischen Beurteilung die individuellen Meilensteine anamnestisch erfragt oder während der Konsultation beobachtet.
Als Grenzstein bezeichnet man denjenigen Zeitpunkt, an dem fast alle Kinder (z. B. 90%) einen bestimmten Entwicklungsschritt erreicht haben. Grenzsteine sind eine Art Frühwarnsystem der kindlichen Entwicklung und weisen auf eine mögliche Verzögerung in bestimmten Bereichen hin. Grenzsteine führen dabei nicht zu einer klinischen Diagnose, sondern geben gewisse Hinweise, dass eine weitere diagnostische Abklärung von entsprechend ausgebildeten und erfahrenen Fachpersonen erfolgen sollte. Überschreitet also ein individueller Meilenstein einen Grenzstein, dann sind weitere Schritte angezeigt.
Viele Entwicklungsschritte lassen sich in Form von spielerischer Interaktion zwischen Untersuchender/Untersuchendem und Kind beurteilen. Gleichermaßen bietet das Spielverhalten des Kindes selbst die Möglichkeit, das Entwicklungsalter in den ersten 3 Lebensjahren einzuschätzen. Beobachtungsinstrumente wie z. B. die Zürcher Spielentwicklung (ZSE, Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich) können in die Vorsorgeuntersuchung in Form von freiem Spiel integriert werden. Die Gestaltung des Spieles ist bezüglich Reihenfolge und Tempo dem Kind sowie der/dem Untersuchenden überlassen und kann von diesem rasch an das individuelle Spielniveau respektive an den kindlichen Entwicklungsstand angepasst werden. Bei der ZSE kann das Kind seine spontanen Fähigkeiten zeigen, erlebt dabei Erfolg und Freude, ist bereit zur Mitarbeit und wird nicht durch wiederholtes Versagen entmutigt.






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Besonderheiten in den einzelnen Vorsorgeuntersuchungen
U1 (1. Lebenstag)
Die U1 findet unmittelbar nach der Geburt statt. So wird 5 und 10 Minuten nach der Geburt der Apgar-Wert von der anwesenden Ärztin bzw. vom anwesenden Arzt oder der Hebamme bestimmt. Dabei werden die Herz- und Atemfrequenz erfasst sowie eine Beurteilung von Atemanstrengung, des Hautkolorits, des Muskeltonus und des Reflexverhaltens (zum Beispiel beim Absaugen) vorgenommen. Auch werden Nabelarterien-pH und Basenüberschuss gemessen sowie dokumentiert.
Dann folgen eine Beurteilung der Reifezeichen des Neugeborenen (geringe Lanugohaare, feste Ohrmuscheln, Plantarlinien über die vorderen Drittel der Fußsohle, mindestens ein Hoden deszendiert, Fingernägel über den Fingerkuppen, Durchmesser der Brustdrüsen etwa 10 mm) sowie die Suche nach Fehlbildungen und Geburtstraumata. Schließlich werden die Geburtslänge, das Geburtsgewicht und der Kopfumfang gemessen. Zudem erhalten alle gesunden Neugeborenen zur Blutungsprophylaxe je 2 mg Vitamin K oral (auch bei der U2 und U3).
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U2 (3.–10. Lebenstag)
Im Rahmen der U2 (in der Regel vor Entlassung aus der Geburtsklinik) wird eine umfassende Untersuchung durchgeführt und eine entwicklungsneurologische Einschätzung gemacht. Außerdem erfolgt das Neugeborenenscreening. Darüber hinaus werden die Eltern in Bezug zur kindlichen Ernährung, dem Stillen sowie dem Schlaf- und Schreiverhalten beraten und mit dem Handling ihres Kindes vertraut gemacht. Auch die antizipierende Beratung zur Prävention von Unfällen (z. B. am Wickeltisch) und dem plötzlichen Kindstod mit Empfehlung für die Rückenlage, den bestmöglichen Schlafort (im eigenen Bett im Schlafzimmer der Eltern) und für eine rauchfreie Umgebung sind wichtige Themen der kinderärztlichen Vorsorge in den ersten Lebenswochen. Bestandteil der U2 ist außerdem die Aufklärung der Eltern über die Vitamin-D-Prophylaxe sowie die bevorstehenden Impfungen ab dem 2. Lebensmonat.
Im gelben Heft befindet sich auch die Stuhlfarbkarte. Die Eltern werden aufgefordert, sich bei entfärbten Stühlen bei der Kinderärztin bzw. beim Kinderarzt zu melden, um weitere Abklärungen einleiten zu können. Damit kann zum Beispiel eine angeborene Gallengangsatresie erfasst werden. Die Früherkennung einer Cholestase soll spätestens bis zur 6. Lebenswoche angestrebt werden, weil später eine Kasai-Operation durch den zirrhotischen Leberumbau kaum mehr Erfolg verspricht.
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U3 (4.–5. Lebenswoche)
Die U3 ist in der Regel die erste Untersuchung beim Kinderarzt bzw. der Kinderärztin in der Praxis. Wichtig ist in dieser Untersuchung das Erfragen der aktuellen Belastungen (z. B. nach dem Energielevel der Bezugspersonen auf einer Skala von 0-10) und Unterstützungsmöglichkeiten sowie der Veränderungen im Lebensrhythmus der Familie.
Darüber hinaus sind eine Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion und die Einschätzung der Feinfühligkeit der Eltern angezeigt. Diese lässt sich beispielsweise beim An- und Ausziehen des Kindes vor und nach der Untersuchung einschätzen oder beim Trösten, wenn das Kind unruhig ist oder weint. Eine ungenügende Feinfühligkeit kann insbesondere bei starker Erschöpfung oder psychischer Erkrankung der Bezugspersonen auftreten und ist ein Risikofaktor für Missbrauch oder Vernachlässigung des Kindes.
Unter Feinfühligkeit versteht man, dass die Bezugsperson die Signale des Säuglings lesen und interpretieren kann. Sie versteht seine emotionale Gefühlslage, erkennt seine Bedürfnisse und kann angemessen sowie prompt darauf reagieren. Dabei sind Haltung, Mimik und Äußerungen der Bezugspersonen an den Entwicklungsstand des Säuglings angepasst.
Außerdem spielen anlässlich dieses Untersuchungszeitpunktes Beratungsthemen rund um die Ernährung des Säuglings sowie sein Schrei- und Schlafverhalten eine zentrale Rolle. Beobachtet werden die ersten Verhaltensmuster in der Wahrnehmung (der Säugling fixiert und verfolgt das Gesicht des Untersuchenden oder von Gegenständen), im Sozialverhalten (Antwort mit Lächeln ab 5. oder 6. Lebenswoche, wenn der Säugling angelächelt wird) und in der Kommunikation (seufzende, zufriedene Laute und Lallen). Die entwicklungsneurologische Beurteilung beinhaltet die Einschätzung der spontanen Bewegungen des Säuglings, vor allem die Bewegungen der Arme und Beine.
Dabei sind die Einschätzung der Variabilität der Bewegungen im Raum und über die Zeit sowie die Harmonie (Flüssigkeit und Eleganz) der General Movements wesentliche Kriterien zur Beurteilung der frühkindlichen Motorik. Außerdem werden einzelne Reflexreaktionen geprüft (z. B. Hand- und Fußgreifreflexe).
Zudem werden die Entwicklung der Körper- und Kopfkontrolle sowie die Haltung des Säuglings beurteilt. Diese zeigen eine charakteristische Abfolge und sind in [Abb. 4] für verschiedene Körperlagen dargestellt. In der Bauchlage geht der Säugling von einer Flexions- in eine Extensionshaltung über; in Rückenlage verläuft die Entwicklung genau umgekehrt. Im Alter von 6 Monaten kann er in der Bauchlage Arme und Beine von der Unterlage abheben. In der Rückenlage kann er den Kopf von der Unterlage abheben und sich sogar häufig schon auf den Bauch drehen.


Im Rahmen der U3-Vorsorgeuntersuchung werden auch die Inguinalpulse palpiert. Wenn diese schlecht spürbar oder gar fehlend sind und der Blutdruck in den unteren Extremitäten deutlich tiefer ist als in den oberen Extremitäten, dann kann dies ein Hinweis für eine Aortenisthmusstenose sein.
In dieser Vorsorgeuntersuchung wird auch das Screening nach kongenitalen Hüftdysplasien mittels Sonografie durchgeführt.
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U4 (3.–4. Lebensmonat)
Bei dieser Untersuchung wird zur Einschätzung der motorischen Entwicklung unter anderem auf den muskulären Tonus und das Bewegungsverhalten geachtet. Der Muskeltonus spiegelt sich auch in der Fähigkeit zur Kopfkontrolle wider ([Abb. 4]). Möglicherweise sind bereits in diesem Alter spezifische Fördermaßnahmen notwendig (z. B. Physiotherapie). Die Variabilität in der kindlichen Entwicklung ist gerade in diesem Lebensabschnitt – und auch noch bis zur U7 – sehr groß, was bei der Beurteilung des Säuglings berücksichtigt werden muss.
Darüber hinaus soll auf einen möglichen Plagiozephalus geachtet werden: Dieser tritt zumeist einseitig auf, weil der Säugling häufig auf dem Rücken liegt und den Kopf bevorzugt auf eine Seite, z. B. gegen das Licht, gedreht hält. Die fachliche Instruktion der Eltern im Handling und in der Lagerung des Säuglings ist daher wichtig. So sollen Kinder während ihrer Wachphasen regelmäßig auf den Bauch gelegt werden. Man sollte sie auch von derjenigen Seite ansprechen, in die sie nicht spontan schauen. Wichtige Beratungsthemen im Rahmen der U4 können der berufliche Wiedereinstieg der versorgenden Personen sowie das Fortführen des Stillens bzw. die Einführung der Beikost sein.
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U5 (6.–7. Lebensmonat)
Die Beurteilung der motorischen Entwicklung steht bei dieser Untersuchung nach wie vor im Vordergrund. Von besonderer Bedeutung ist die Beobachtung der Bewegungsqualität des Kindes. Auch soll die Kopfkontrolle – also die Fähigkeit, bei jeder Änderung der Körperhaltung den Kopf senkrecht einzustellen – noch einmal geprüft werden. Der Säugling dreht sich in der Regel in diesem Alter von der Rücken- in die Bauchlage (und umgekehrt) und beginnt, gezielt zu greifen und Gegenstände zu betrachten. In diesem Alter darf der Säugling noch keine eindeutige Händigkeit haben; dies könnte auf eine Hemiparese oder auf eine Plexusparese hindeuten.
Die Sinnesorgane können mittels Beobachtung beurteilt werden. Schon beim Anamnesegespräch mit den Eltern kann man erkennen, ob das Kind direkten Blickkontakt herstellt oder auf akustische Reize reagiert (z. B. bei Zuruf oder mit der Hochtonrassel). Auch soll geprüft werden, ob das Kind dem Blick des Untersuchenden folgen kann. Dabei schätzt man das Interesse des Kindes an der Umgebung ein und macht sich ein Bild über die frühe Kommunikation (stimmhaftes Lallen).
In dieser Untersuchung werden zudem die Vitamin-D- und die Fluorid-Prophylaxe besprochen. Außerdem erfolgt erneut eine Impfberatung. Auch sollte auf den Schutz vor intensiver Sonnenstrahlung hingewiesen werden. Im Falle einer außerhäuslichen Betreuung ist eine entsprechende Beratung der Eltern angezeigt und häufig erwünscht.
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U6 (10.–12. Lebensmonat)
Bei dieser Untersuchung sollte nach dem Fremdeln, der geteilten Aufmerksamkeit (Joint Attention), dem Zeigen mit dem Zeigefinger sowie nach dem sozialen Referenzieren gefragt werden ([Abb. 5]). Diese Verhaltensweisen sind wichtige Meilensteine in der sozialen und auch sprachlichen Entwicklung. Geteilte Aufmerksamkeit bedeutet dabei, die Aufmerksamkeit von anderen Personen auf Dinge zu lenken, um diese zu teilen – beispielsweise dem anderen mit dem Zeigefinger etwas Interessantes zu zeigen, an dem man Freude hat. Unter sozialem Referenzieren versteht man die Rückversicherung eines Kindes bei einer Bezugsperson, wie eine bestimmte Situation emotional zu bewerten ist.
Kinder mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum erreichen die sozialen Meilensteine in der Regel verzögert.


Die Beurteilung der Sinnes- und Sprachentwicklung ist auch bei dieser Untersuchung von Bedeutung (Silbenverdopplung, Reaktion auch auf leise Geräusche). Trotz des Hörscreenings bei Neugeborenen sollte während der ersten Lebensjahre an eine mögliche sekundäre, meist transiente Hörstörung gedacht werden, die häufig durch eine Schallleitungsstörung bedingt ist (meist infolge einer Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr).
Das Kind zeigt in diesem Alter sicheres freies Sitzen und meist auch schon eine Stehbereitschaft bei Annäherung der Füße an den Boden. Außerdem greift es in der Regel mit dem Pinzettengriff nach kleinen Gegenständen (gestreckter Zeigefinger und opponierter Daumen).
Beratungsthemen sind die Zahn- und Mundhygiene (keine Nahrungsgabe in der Nacht), der Umgang mit digitalen Medien und das altersentsprechende Spielangebot. Da in diesem Alter das Kind normalerweise beginnt, Erwachsenenkost am Tisch zu essen, wird in der Untersuchung oft sein Essverhalten thematisiert: Die Kinder ahmen häufig das Essverhalten der Eltern nach. Entsprechend bedeutsam ist die verantwortungsbewusste Rolle der Bezugspersonen als Vorbilder beim Essverhalten.
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U7 (21.–24. Lebensmonat)
Auch bei der U7 ist die Beurteilung der Sinnesorgane und der weiteren Entwicklung wichtig. Dabei spielt die Einschätzung des Spielverhaltens (z. B. repräsentatives Spiel und räumliches Spiel, [Abb. 6] und [Abb. 7]) eine besondere Rolle. Meilen- und Grenzsteine der verschiedenen Spielarten sind in [Abb. 1] dargestellt.
Für das repräsentative Spiel benötigen Kinder eine innere Vorstellung, wie ein Gegenstand eingesetzt werden kann, um ihn dann an sich selbst und auch symbolisch an einem Gegenüber wie einer Person oder Puppe auszuprobieren.




Verzögerungen in der Sprachentwicklung sind zwischen dem 21. und 24. Lebensmonat nicht einfach zu erkennen, da die Kinder im Rahmen der Untersuchung oft nur wenig sprechen, und gerade in dieser Zeit eine große Variabilität beim Spracherwerb besteht. In der Praxis können für die Erfassung des Sprachstands der Kinder standardisierte Elternfragebögen eingesetzt werden – wie zum Beispiel der SBE-2-KT, der in verschiedenen Sprachen zur Verfügung steht. In der aktuellen AWMF-Leitlinie zur Sprachtherapie werden die entsprechenden Grenzwerte der verschiedenen gängigen Fragebögen und Tests angegeben. Ein bedeutender Risikofaktor für den abnormen Spracherwerb ist das Ausbleiben von Zweiwortkombinationen. Kinder, die bis zum 2. Geburtstag keine Wörter spontan kombinieren, tragen ein Risiko, im weiteren Verlauf eine Störung im Erwerb der Sprache zu entwickeln. Wenn ein Kind keine oder erst wenige Wörter spricht, sollte bei normalem Gehör das Sprachverständnis geprüft werden; zum Beispiel, indem das Kind vom Untersuchenden genannte Körperteile an einer Puppe zeigt. Ab dem 2. Lebensjahr sollte das Kind in der Lage sein, auf nicht situative Aufforderungen zu reagieren (z. B. einen Gegenstand aus einer Zimmerecke holen). Eine frühe Erfassung von Sprachentwicklungsverzögerungen ist wichtig, damit eine entsprechende Beratung zu häuslichen sprachfördernden Maßnahmen sowie eine pädaudiologische und logopädische Abklärung erfolgen kann.
Die Beurteilung der Sprachentwicklung ist in der U7 und U7a ein zentrales Element, weil eine Früherfassung von Sprachstörungen für die weitere Entwicklung des Kindes wichtig ist.
Ebenfalls möglichst frühzeitig sollte eine Autismus-Spektrum-Störung erfasst werden. Beim Vorliegen von autistischen Symptomen sollte das Screening-Instrument M-CHAT-R eingesetzt werden, das standardisiert die Autismus-typischen Verhaltensweisen erfassen kann. Dabei füllt man den M-CHAT am besten zusammen mit den Eltern aus.
Typisch für dieses Alter ist die fortschreitende Autonomieentwicklung, die beim Kind nicht selten einen regelrechten Rausch („Ich kann machen, was ich will.“), aber gleichzeitig auch große Angst auslösen kann. Häufig treten dann vermehrt Trotz- und Wutanfälle auf. Trotzen ist echte Verzweiflung des Kindes und darf nicht als Machtkampf betrachtet werden. Ein erster Hinweis für die Selbstwahrnehmung und den Beginn der Trotzphase ist das Erkennen des eigenen Bildes im Spiegel, das mit dem sogenannten Rouge-Test erfasst wird. Erfüllt das Kind den Rouge-Test, ist die Trotzphase in der Regel erreicht.
Beim Rouge-Test wird dem Kind unbemerkt ein farbiger Fleck auf die Stirn getupft und seine Reaktion auf den Fleck im Spiegel beobachtet. Berührt das Kind das eigene Gesicht oder den Fleck, kann man mit Sicherheit sagen, dass es sich im Spiegel erkennt. Vor dem Alter von 14 Monaten können Kinder diese Aufgabe in der Regel noch nicht lösen, während sich mit 21 Monaten praktisch alle Kinder im Spiegel erkennen.
Aus orthopädischer Sicht sollten im Rahmen dieser Vorsorgeuntersuchung die Schuhe des Kindes beurteilt werden; ein passender Schuh sollte gut anliegen, aber wegen des raschen Wachstums trotzdem genügend Platz geben. Bezüglich der motorischen Entwicklung können das Treppensteigen, das Vor- und Rückwärtsgehen, das Bücken, das Aufrichten aus der Hocke und das schnelle Laufen und Rennen beobachtet werden.
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U7a (34.–36. Lebensmonat)
Dieser Untersuchungszeitpunkt wurde in Deutschland im Jahr 2008 zusätzlich eingeführt, um die Sprachentwicklung erneut zu beurteilen. Auch hier können Wortschatz-Fragebögen wie der SBE-3-KT eingesetzt werden. Ebenso sollte darauf geachtet werden, wie das Kind spricht. Kinder mit einem phonetischen Inventar von nur 4–5 Konsonanten und einer limitierten Zahl von Vokalen weisen ein erhöhtes Risiko für eine Sprachentwicklungsstörung auf. Außerdem sollte auf die Anwendung von grammatikalischen Grundregeln geachtet (einfacher Satzbau und Plural) und das Sprachverständnis eingeschätzt werden (z. B. Verstehen von Präpositionen wie „auf“, „unter“ oder „in“). Die Aussprache ist in diesem Alter meist noch unfertig und transiente Redeflussstörungen (Stottern) treten oft als Entwicklungsphänomen auf. Eine sprachliche Integration von Kindern mit Migrationshintergrund ist eventuell zu beachten. Eltern können im Rahmen dieser Untersuchung auch hinsichtlich des Besuchs einer Spielgruppe beraten werden.
Zusätzlich sollte eine Beurteilung der feinmotorischen Fähigkeiten erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt kann bei motorischen Auffälligkeiten eine Ergotherapie indiziert sein.
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U8 (46.–48. Lebensmonat)
In diesem Untersuchungszeitraum sind das soziale Verhalten des Kindes und die Anpassung an den Kindergarten oder ein soziales Gefüge ein Thema.
Dazu sind gewisse körperliche, kognitive und sozioemotionale Voraussetzungen notwendig, die man beobachten oder erfragen sollte. So muss sich das Kind für einen Vormittag von seinen Bezugspersonen trennen können und sich in der Gruppe einigermaßen wohl fühlen. Es kann Anleitungen bei Bewegungsspielen, beim Basteln sowie Malen übernehmen, kann Aufträge verstehen und ausführen und ist zudem fähig, Erzähltes aufzunehmen und in ganzen Sätzen wiederzugeben. Das Kind besitzt auch eine gewisse Ausdauer, damit es mehrmals pro Tag der Bezugsperson einige Minuten zuhören, zuschauen und dabei stillsitzen kann. Auch sollte es eine gewisse Selbstständigkeit erlangt haben, seine Jacke und die Schuhe an- und ausziehen zu können. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, dann sind weitere (besonders entwicklungspädiatrische) Abklärungen indiziert.
Ein besonders wichtiger sozialer Entwicklungsschritt in diesem Alter (Übergang vom Vorschul- zum Schulkind) ist die Entwicklung der Theory of Mind (ToM) – der Einsicht des Kindes in die mentale Verfassung des anderen.
Verfügt ein Kind über eine ToM, dann realisiert es, dass es etwas weiß, was andere nicht wissen können, und dass seine Mitmenschen eigene Wünsche, Meinungen und Absichten besitzen. So kann ein Kind erst dann lügen oder täuschen, wenn es über eine ToM verfügt. In der Praxis kann dieser wichtige soziale Entwicklungsschritt mit dem Sally-Anne-Paradigma oder dem Smarties-Test erfasst werden.
Beim Smarties-Test wird den Kindern gezeigt, dass eine Smarties-Schachtel wider Erwarten keine Smarties, sondern Bleistifte enthält. Nun müssen die Kinder angeben, was eine andere Person, die nicht in die Schachtel schauen durfte, über den Inhalt dieser Smarties-Schachtel denkt. Ab dem Alter von 3–5 Jahren geben Kinder in der Regel an, dass auch andere Personen nicht wissen, dass die Schachtel Bleistifte enthält.
Im Rahmen der U8 wird ebenfalls Wert auf die Erfassung von Verhaltensbesonderheiten gelegt: z. B. allenfalls noch bestehendes Einnässen am Tag oder Einkoten sowie Vorliegen von starken Trotzreaktionen, Hyperaktivität oder Schlafstörungen. Bei der körperlichen Untersuchung ist besonders auf die feinmotorischen Fähigkeiten zu achten, weil diese im Kindergarten eine große Rolle spielen.
Eine Fernvisusprüfung wird mit einem Sehtest durchgeführt, dessen standardisierte Symbole (Optotypen) von den Kindern leicht identifiziert werden und bei Unschärfe nicht mehr voneinander unterschieden werden können (z. B. beim Lea-Test). Nach der orientierenden binokulären Prüfung soll der Visus auch monokulär durch Abdecken eines Auges getestet werden. Die Hörprüfung erfolgt mit einem Reintonaudiometer mit Kopfhörer, wobei die Hörschwellen in den sprachrelevanten Frequenzen (mindestens 5 Prüffrequenzen von 0,5–6 kHz bei mindestens 4 Lautstärken zwischen 20 und 50 dB) geprüft werden sollen. Allerdings ist eine Tonaudiometrie in diesem Alter nicht immer möglich und muss allenfalls in der U9 wiederholt werden.
Die Urinuntersuchung zur Erfassung von chronischen Nierenerkrankungen (Mikrohämaturie oder Proteinurie) mittels Teststreifen gehört routinemäßig zur U8.
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U9 (60.–64. Lebensmonat)
In dieser Untersuchung stellen sich nicht selten Fragen zur Schulbereitschaft; zudem ist eine orientierende Befragung der motorischen, kognitiven und sozioemotionalen Entwicklung angezeigt. Gelegentlich wird die U9-Untersuchung auch anstelle der Schuleingangsuntersuchung eingesetzt, die ansonsten von der Amtsärztin bzw. dem Amtsarzt durchgeführt wird.
Die Kontrolle der Grobmotorik beinhaltet unter anderem das sichere Hüpfen auf einem Bein, das Laufen auf einem Strich (über etwa 2 Meter), die Prüfung der Arm- und Beinkraft sowie der Körperhaltung. Zur Überprüfung der Hand-Augen-Koordination sollte das Kind einen Kreis, ein Dreieck, ein Quadrat, einen Menschen und ein Haus zeichnen können. Die Sprach- und Sprechfähigkeit werden mit der Benennung bestimmter Bilder und dem Nacherzählen einer einfachen Geschichte erfasst. Auch sollte die phonologische Bewusstheit des Kindes beurteilt werden, die eine wichtige Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb ist.
Phonologische Bewusstheit bedeutet die Fähigkeit, die Laute in einem Wort identifizieren zu können: Welches ist der erste Laut in „Salz“? Kommt in „Schwein“ ein [r] vor? Mit welchem Laut hört das Wort „Salz“ auf? Kommt ein [f] in „Elefant“ vor? Wo liegt das [f] in „Elefant“ (Anfang, Mitte oder Schluss)? Zur phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn gehört auch das Erkennen von Reimen: Reimt sich „Tisch“ auf „Fisch“ oder „Messer“ auf „Gabel“?
Zur körperlichen Untersuchung gehört das Erfassen von Deformierungen der Wirbelsäule, eines Beckenschiefstands, ausgeprägter X- oder O-Beine und auch von Fußgewölbeanomalien.
Stark weitsichtige Kinder können in diesem Alter mit einer Prüfung des Nahvisus entdeckt werden. Wegen der Fähigkeit zur Akkommodation kann der Fernvisus normal sein. Ab dem Entwicklungsalter von etwa 5 Jahren gelingt die Visusprüfung bei fast allen Kindern mit einem Anzeigen der Richtung der Snellen-E-Haken oder mithilfe des Lea-Testes. Eine Aufklärung der Eltern über den altersadäquaten Umgang mit digitalen Medien ist als Bestandteil der U9 sinnvoll.
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J1 (13.–14. Lebensjahr)
Vorsorgeuntersuchungen während der Pubertät stellen ganz besondere Anforderungen, weil die Jugendlichen häufig nicht aus eigenem Antrieb zur Untersuchung kommen und sie sich in der Regel gesund fühlen. Es braucht daher ein besonders respektvolles Setting; so muss zum Beispiel für das Ausziehen im Rahmen der körperlichen Untersuchung eine besondere Privatsphäre geschaffen werden, damit sich die Jugendlichen wohl fühlen. Auch ist empfehlenswert, dass jeweils eine Drittperson im Raum anwesend ist. Grundsätzlich sollte mit den Jugendlichen – in Absprache mit den Eltern – aber auch ein bilaterales Gespräch geführt werden.
Auch wenn die Kontrolle des Impfstatus, die Erfassung der Körpermaße und der pubertären Entwicklung, die Untersuchung der Sinnesorgane und des Bewegungsapparats wichtige Elemente der J1 sind, so ist insbesondere die präventive, psychosoziale Beratung ein Eckpfeiler dieser Vorsorgeuntersuchung. Eine mögliche, allerdings noch wenig bekannte Methode ist die semistrukturierte Anamnese nach dem sogenannten HEADSS-Schema: Das Akronym setzt sich aus den folgenden Elementen zusammen:
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Home/Education: Wohnsituation, psychosoziales Umfeld, Familienatmosphäre, Schulsituation, Schulleistungen und Zukunftspläne
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Eating: Essverhalten, Nahrungsvorlieben und körperliche Befindlichkeit
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Activities: Hobbys, Freizeitverhalten, Sport, Medienumgang und Freunde
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Drugs: Rauchen, Alkohol, Cannabis, andere Drogen und Medikamente
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Sexuality: romantische Freundschaften, sexuelle Erfahrungen und Orientierung, Verhütung und Missbrauchsrisiko
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Suicide/Depression: Traurigkeit, Gemütsschwankungen und Suizidalität
Erfragen einer möglichen Suizidalität: Hast Du jemals daran gedacht, dass Du Dir etwas antun oder nicht mehr leben möchtest? Hattest Du je das Gefühl, dass es Dir oder Deiner Familie besser gehen würde, wenn Du tot wärst? Hast Du in den letzten Wochen daran gedacht, Dich umzubringen?
Trotz den Risiken während der Adoleszenz gilt aber, dass viele Jugendliche diese bedeutende Entwicklungsphase nur mit wenigen Schwierigkeiten durchlaufen. Daher darf die Pubertät nicht nur als Problemphase gesehen werden, sondern als einzigartige Entwicklungsperiode mit vielen Möglichkeiten und Wegen zu einem selbstbestimmten und glücklichen Leben. Wenn man den Jugendlichen mit ehrlichem Interesse begegnet, dann schenken sie den Untersuchenden nicht selten großes Vertrauen und kommen mit erstaunlichen Fragen in die Vorsorgeuntersuchung.
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Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen sind eine wichtige präventive Leistung der Gesundheitssysteme vieler Länder.
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Vorsorgeuntersuchungen sind in erster Linie eine individualmedizinische Maßnahme. Allerdings sind sie aus gesellschaftlicher Sicht durchaus wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich.
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Vorsorgeuntersuchungen sind gleichermaßen Instrumente der Primärprävention (antizipierende, vorausschauende Beratung) und der Sekundärprävention (Krankheits- und Entwicklungsscreening).
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Die U-Untersuchungen beinhalten zu jedem Vorsorgezeitpunkt eine orientierende körperliche Untersuchung mit Erfassung der Körpermaße und eine entwicklungspädiatrische Einschätzung der Motorik, des Spieles, der kognitiven Entwicklung, der Kommunikation und Sprache sowie der sozioemotionalen Entwicklung. Auf Zeichen für körperlichen, psychischen oder sexuellen Missbrauch sowie Kindesvernachlässigung sollte ebenfalls geachtet werden.
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Es existieren keine verbindlichen Empfehlungen zur Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen. Die Vorgaben im „gelben Heft“ sowie die Schweizer Checklisten sind so umfassend, dass sie aus Zeitgründen bei den einzelnen Terminen nicht vollständig abgearbeitet werden können.
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Jeder Untersucher setzt eigene Schwerpunkte und Prioritäten bei den Vorsorgeuntersuchungen, auch in Bezug darauf, welche Instrumente er verwendet.
Zitierweise für diesen Artikel
Pädiatrie up2date 2025; 20; 1–19, DOI: 10.1055/a-2389-7253
Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version des Buchkapitels: Jenni O, Holtz S. Vorsorgeuntersuchungen. Duale Reihe Pädiatrie. Meyer S, Hrsg. 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2024. DOI: 10.1055/b000000645
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Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Oskar Jenni, Zürich.
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Oskar Jenni
ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich und Co-Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Er ist zudem Projektleiter der Zürcher Longitudinalstudien, einer der bedeutendsten Langzeitstudien zur kindlichen Entwicklung. 2021 veröffentlichte er das Buch „Die kindliche Entwicklung verstehen“, das einen umfassenden Überblick über die kindliche Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter bietet.


Interessenkonflikt
Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit
erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein;
Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht‐Sponsor
der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner,
Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
10 June 2025
© 2025. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).
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