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DOI: 10.1055/a-2443-3709
Zwischen Ethik und Wohlergehen – Der Placeboeffekt in der Physiotherapie
Jede Therapie – unabhängig von ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit – beinhaltet Placeboeffekte. Dabei spielen nicht nur die Überzeugungen der Patient*innen eine Rolle. Kennt man die beeinflussbaren Faktoren, kann man jede Therapie wirksamer gestalten. Aber Achtung: Das kann durchaus ethische Konflikte auslösen.
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„Homöopathie wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus!“ [1]. Spätestens nach Jan Böhmermanns Beitrag im „Neo Magazin Royale“ wurde der Placeboeffekt auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. In dem Beitrag setzt Böhmermann den Placeboeffekt mit der mangelnden Wirkung der Homöopathie gleich.
Auch die „Welt“ berichtete über Karl Lauterbachs Vorhaben, die Finanzierung der Homöopathie durch Krankenkassen zu beenden, und beschrieb dabei den Placeboeffekt als eine Wirkung durch „bloßen Glauben“ [2].
Diese Beiträge führen zu der Schlussfolgerung, dass der Placeboeffekt eine reine Einbildung ist. Ein Mittel, das in der Medizin keinen Platz hat. Die Anwendung von Placebo-Behandlungen wird sogar mitunter als unethisch angesehen [3].
Der Placeboeffekt steckt somit in einer Art Limbus zwischen pseudowissenschaftlichem „Geschwurbel“ und echter Medizin fest.
Da er in der Realität wesentlich besser ist als sein Ruf, lohnt es sich, den Placeboeffekt genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der Placebo-Begriff
Zum Verständnis des Begriffs „Placebo“ ist es zunächst notwendig, den historischen Kontext herzustellen. Die Bezeichnung „Placebo“ entstammt ursprünglich Psalm 116 der Bibel, in dem es heißt: „Placebo Domino in regione vivorum“, was frei übersetzt so viel bedeutet wie „Ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Lebenden“. Dieser Ausspruch war die Antwort trauernder Gäste bei einer Beerdigung auf die Ansprache des Priesters. Im Mittelalter wurde die Trauergemeinde häufig durch bezahlte Sänger (und Menschen, die sich einen kostenlosen Leichenschmaus ergaunern wollten) ergänzt. Diese Menschen, die das „Placebo Domino in regione vivorum“ mitsangen – obwohl sie keinerlei Bezug zum Verstorbenen hatten –, wurden abschätzig als „Placebos“ bezeichnet [4]. Der Begriff war also schon zu Beginn negativ behaftet.
Die Wirkung einer Maßnahme enthält auch immer den Effekt des Placebos.
Die ersten dokumentierten Nutzungen von Placebos im medizinischen Kontext begannen Mitte des 18. Jahrhunderts. Der schottische Arzt William Cullen beschreibt in seinen „clinical lectures“ die Anwendung von Medikamenten, von deren Wirkung er nicht überzeugt war. Er erachtete es jedoch als notwendig, den Patient*innen etwas zu geben [5].
Der britische Chirurg William Gaitskell wandte hingegen wirkungslose Medikamente an, wenn der Patient die eigentliche Medizin nicht mehr nehmen wollte [6].
Die ursprüngliche Anwendung von Placebos war somit zur Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse der Patienten gedacht.
Formen des Placebos
Die bekannteste Form eines Placebos sind die sogenannten reinen oder echten Placebos. Diese sind in der Regel Tabletten oder Kapseln, die mit einer pharmakologisch inaktiven Substanz – oftmals Zucker – gefüllt sind. Diese Placebos werden häufig in klinischen Studien in der Kontrollgruppe eingesetzt, da sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine pharmakologische Wirkung haben können [7].
Die aktiven Placebos enthalten hingegen pharmakologisch aktive Wirkstoffe. Die enthaltene Substanz dient dem Zweck, die Nebenwirkungen des eigentlichen Medikaments nachzuahmen, indem entweder geringe Mengen dieses Medikaments oder ein anderes Medikament mit ähnlichen Nebenwirkungen verabreicht wird. Dies sorgt dafür, dass das Placebo nicht durch fehlende Nebenwirkungen „enttarnt“ wird [7].
Die dritte Form sind die Pseudoplacebos bzw. unreine Placebos. Die darin enthaltenen Stoffe sind zwar pharmakologisch aktiv, jedoch unwirksam bei der jeweiligen zu behandelnden Krankheit. Beispielsweise werden in der ärztlichen Praxis häufig Antibiotika bei Viruserkrankungen verordnet, obwohl diese keinen spezifischen Effekt auf die Erkrankung haben [7].
Placebo, Placeboeffekt, Placeboantwort
Die Begriffe Placebo, Placeboeffekt und Placeboantwort werden häufig synonym verwendet, obwohl sie sich definitionsgemäß mitunter deutlich voneinander unterscheiden. Das Placebo ist das vermeintliche Heilmittel, das verabreicht wird. Der Placeboeffekt umfasst alle Faktoren, die das klinische Outcome beeinflussen, die man keiner spezifischen Wirkung zuordnen kann. Dieser beinhaltet somit nicht nur den „bloßen Glauben“, sondern auch unspezifische Faktoren wie den natürlichen Heilungsverlauf oder die Regression zur Mitte: Patient*innen suchen sich meist therapeutische Hilfe, wenn die Beschwerden statistisch außergewöhnlich stark sind. Nach ein paar Tagen haben sie wieder das zu erwartende Niveau. Da diese Faktoren auch bei wirksamen Behandlungen vorhanden sind, lässt sich schlussfolgern, dass für einen Placeboeffekt nicht zwingend ein Placebo nötig ist. Im Umkehrschluss enthalten aber auch nachgewiesen wirkungsvolle Interventionen einen Placeboeffekt [8].
Die Placeboantwort beschreibt schlussendlich die tatsächliche individuelle Reaktion auf die Gabe eines Placebos, die nicht auf andere unspezifische Faktoren zurückführbar ist. In der Wissenschaft wird vermutet, dass diese primär auf Konditionierung, Erwartungshaltung und Suggestion besteht [8]. Es ist jedoch quasi unmöglich nachzuweisen, ob die Placeboantwort tatsächlich existiert oder nicht doch unspezifische Faktoren eine Rolle spielen: Man müsste alle anderen Prozesse – wie die Wundheilung – abstellen.
Den Placeboeffekt messen
Der Placeboeffekt wird als „Nebenprodukt“ bei randomisierten placebokontrollierten Studien gemessen. Dabei ist es das Ziel, eine bestimmte Intervention auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Bei dieser Studienart werden die Teilnehmenden in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe erhält die zu untersuchende Intervention, die Kontrollgruppe hingegen bekommt das Placebo.
Am Ende wird das jeweilige Outcome der beiden Gruppen verglichen. Sollte die Intervention eine höhere Wirkung haben als das Placebo, spricht man von einem spezifischen Therapieeffekt. Dieser wird aus der Differenz zwischen Wirkung der Intervention und Wirkung des Placebos berechnet. Der Anteil der Wirkung, der nach Abzug des spezifischen Effekts noch übrig bleibt, ist der Placeboeffekt [9]. Die Wirkung einer Intervention ergibt sich somit aus der nachgewiesenen Wirkung der Maßnahme und der Wirkung des Placebos. Schaut man sich Jan Böhmermanns Beitrag an, erliegt man schnell dem Trugschluss, den Placeboeffekt mit keiner oder minimaler Wirkung gleichzusetzen. Es ist jedoch genau das Gegenteil der Fall. Bei physiotherapeutischen Interventionen liegt der Placeboeffekt bei 40 bis 80 % [10]. Einen Effekt kleinzureden, der in den meisten Fällen mehr als die Hälfte der Therapiewirkung ausmacht, scheint ähnlich unethisch wie die bewusste Verabreichung wirkungsloser Medizin.
Die Behandlung mit Placebos wird von manchen als unethisch angesehen.
Placebos korrekt anwenden
Die führende deutsche Placebo-Forscherin Prof. Dr. Ulrike Bingel empfiehlt zur Lösung des beschriebenen Konflikts drei Varianten, um Placebos ethisch korrekt zu verabreichen.
Möglichkeit 1: Mit dem Placeboeffekt die Therapiewirkung verstärken
Um den Placeboeffekt als Wirkverstärker der angedachten Therapie zu nutzen, gilt es die Erwartungshaltung der Patient*innen zu modulieren. Das bedeutet, dass der Behandelnde positive Erwartungen gezielt fördert und negative möglichst verhindert. Diese Modulation beginnt schon bei der patientengerechten Aufklärung über den Therapieverlauf: Der Behandelnde sollte die positive Wirkung und den Nutzen der angedachten Intervention in den Vordergrund stellen – bevor mögliche Nebenwirkungen besprochen werden. Außerdem sollte man – wenn möglich – bei der Wahl der Therapie auf die individuellen Präferenzen der Patientin bzw. des Pateinten eingehen.
Koppelt man die Behandlung mit angenehmen Gefühlen, erhält man eine weitere Möglichkeit, die Wirkung zu verstärken. Bei Medikamenten spielt beispielsweise der Geruch oder der Geschmack eine große Rolle. Den größten Effekt auf die Erwartungshaltung der Patient*innen hat jedoch die Kommunikation. Saloppe Floskeln wie „Möglicherweise hilft Ihnen diese Behandlung“ lösen unnötige Zweifel gegenüber der Therapie aus. Eine angepasste Erklärung, warum gerade diese Maßnahme für die individuellen Bedürfnisse des zu Behandelnden ausgewählt wurden, fördern hingegen die positiven Erwartungen und können den Placeboeffekt verstärken [11].
Möglichkeit 2: Open-Label-Placebos
Ein weiterer Trugschluss bei der Gabe von Placebos ist, dass diese nicht mehr wirken, wenn der zu Behandelnde weiß, dass es sich „nur“ um ein Placebo handelt. Eine Forschergruppe der Harvard Medical School konnte belegen, dass auch eine offene Gabe von Placebos, die sogenannten „Open-Label-Placebos“ Beschwerden verbessern können. Den Patient*innen muss lediglich vermittelt werden, dass die Anwendung von Placebos eine wirksame Therapiemethode ist.
Es ist also durchaus möglich, von den Vorteilen einer Placebo-Behandlung zu profitieren, ohne in einen ethischen Konflikt zu geraten [11].
Möglichkeit 3: Der trainierte Placeboeffekt
Der Placeboeffekt folgt in vielen Fällen den Regeln der klassischen Konditionierung. Bei repetitiver Anwendung einer Intervention mit nachweislicher Wirkung verknüpfen Patient*innen damit auch die entsprechenden Effekte. Der Vorteil: Man kann in solchen Fällen Placebos verwenden, um die Dosis der ursprünglichen Medizin zu reduzieren. Wenn Patient*innen beispielsweise über einen längeren Zeitraum zwei blaue Tabletten erhalten, um ihre Schmerzen zu reduzieren, kann längerfristig eine Tablette durch eine blaue Placebo-Tablette ersetzt werden. Der konditionierte Patient reagiert in vielen Fällen auf die Placebo-Behandlung genauso gut wie auf die ursprüngliche Behandlung. Der Körper hat in diesem Fall gelernt, eine bestimmte Reaktion – in diesem Beispiel das Ausschütten körpereigener Opioide – auf die Gabe zweier blauer Tabletten hervorzurufen [11].
Placebo ist (manchmal) Medizin
Man kann also mit guter Gewissheit sagen, dass der Placeboeffekt weit von bloßer Einbildung entfernt ist.
Die Annahme, dass die Wirkung einer Intervention entweder „echt“ oder Placeboeffekt ist, ist schlichtweg falsch: Es besteht eine Kombination aus „echtem“ und „Placebo“-Effekt. Jede Behandlung besteht zum einen aus dem Placeboeffekt (oftmals sogar zum größten Teil) und zum anderen aus dem spezifischen Effekt der Therapie. Die Frage ist also nicht, ob eine Intervention einen Placeboeffekt hat oder nicht, sondern wie man diesen in der Praxis bestmöglich modulieren und verstärken kann.
Kurz gesagt: Wer den Placeboeffekt ignoriert, verschenkt die Hälfte der Behandlung.
Julian Kiesele
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ist Physiotherapeut, BSc, und stellvertretende Leitung des RehaZentrums Lahr. Die Einrichtung behandelt schwerpunktmäßig orthopädische Patient*innen und veranstaltet Fortbildungen im Bereich evidenzbasierter Medizin für Ärzt*innen und Therapeut*innen. Er ist zudem als Themenscout für die physiopraxis sowie als Autor für die Rubrik „Internationale Studienergebnisse“ tätig.
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Literaturverzeichnis
- 1 ZDF MAGAZIN ROYALE. Homöopathie wirkt*. Juni 2019. Zugriff am 27.01.2025 unter: https://www.youtube.com/watch?v=pU3sAYRl4-k
- 2 WELT Nachrichtensender. NICHTS ALS PLACEBO? Karl Lauterbach erwägt Streichung von Homöopathie als Kassenleistung. Juli 2022. Zugriff am 27.01.2025 unter: https://www.youtube.com/watch?v=rfAjW_mvwAk
- 3 Telaar C. Placeboeffekt: Etwas mehr Respekt Deutsches Ärzteblatt 2014; 111 A-1101 / B-945 / C-895.
- 4 Bundesärztekammer Hrsg. Placebo in der Medizin. Köln: Deutscher Ärzteverlag GmbH; 2011
- 5 Jütte R. The early history of the placebo. Complementary Ther Med 2013; 21: 94-97
- 6 Jonas Wayne B. Reframing placebo in research and practicePhil. Trans. R. Soc. 2011; 366: 1896-1904
- 7 Boutron I, Estellat C. et al. Methods of blinding in reports of randomized controlled trials assessing pharmacologic treatments: a systematic review. PLoS medicine 2006; 3: e425
- 8 Benedetti F, Mayberg HS. et al. Neurobiological mechanisms of the placebo effect. The Journal of neuroscience 2005; 25: 10390-10402
- 9 Hariton E, Locascio JJ. Randomised controlled trials - the gold standard for effectiveness research: Study design: randomised controlled trials. BJOG 2018; 125: 1716
- 10 Ezzatvar Y, Dueñas L, Balasch-Bernat M. et al. Which Portion of Physiotherapy Treatments’ Effect Is Not Attributable to the Specific Effects in People With Musculoskeletal Pain? A Meta-Analysis of Randomized Placebo-Controlled Trials. Journal of Orthopaedic & Sports Physical Therapy 2024; 54: 391-399
- 11 Bingel U. Placebo 2.0 Die Macht der Erwartung. Zürich: rüffer&rub Sachbuchverlag GmbH; 2019
Publication History
Article published online:
18 February 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literaturverzeichnis
- 1 ZDF MAGAZIN ROYALE. Homöopathie wirkt*. Juni 2019. Zugriff am 27.01.2025 unter: https://www.youtube.com/watch?v=pU3sAYRl4-k
- 2 WELT Nachrichtensender. NICHTS ALS PLACEBO? Karl Lauterbach erwägt Streichung von Homöopathie als Kassenleistung. Juli 2022. Zugriff am 27.01.2025 unter: https://www.youtube.com/watch?v=rfAjW_mvwAk
- 3 Telaar C. Placeboeffekt: Etwas mehr Respekt Deutsches Ärzteblatt 2014; 111 A-1101 / B-945 / C-895.
- 4 Bundesärztekammer Hrsg. Placebo in der Medizin. Köln: Deutscher Ärzteverlag GmbH; 2011
- 5 Jütte R. The early history of the placebo. Complementary Ther Med 2013; 21: 94-97
- 6 Jonas Wayne B. Reframing placebo in research and practicePhil. Trans. R. Soc. 2011; 366: 1896-1904
- 7 Boutron I, Estellat C. et al. Methods of blinding in reports of randomized controlled trials assessing pharmacologic treatments: a systematic review. PLoS medicine 2006; 3: e425
- 8 Benedetti F, Mayberg HS. et al. Neurobiological mechanisms of the placebo effect. The Journal of neuroscience 2005; 25: 10390-10402
- 9 Hariton E, Locascio JJ. Randomised controlled trials - the gold standard for effectiveness research: Study design: randomised controlled trials. BJOG 2018; 125: 1716
- 10 Ezzatvar Y, Dueñas L, Balasch-Bernat M. et al. Which Portion of Physiotherapy Treatments’ Effect Is Not Attributable to the Specific Effects in People With Musculoskeletal Pain? A Meta-Analysis of Randomized Placebo-Controlled Trials. Journal of Orthopaedic & Sports Physical Therapy 2024; 54: 391-399
- 11 Bingel U. Placebo 2.0 Die Macht der Erwartung. Zürich: rüffer&rub Sachbuchverlag GmbH; 2019


ist Physiotherapeut, BSc, und stellvertretende Leitung des RehaZentrums Lahr. Die Einrichtung behandelt schwerpunktmäßig orthopädische Patient*innen und veranstaltet Fortbildungen im Bereich evidenzbasierter Medizin für Ärzt*innen und Therapeut*innen. Er ist zudem als Themenscout für die physiopraxis sowie als Autor für die Rubrik „Internationale Studienergebnisse“ tätig.

