Einleitung
Menschen mit einem Down-Syndrom (DS) haben nicht nur im Vergleich zur
Allgemeinbevölkerung, sondern auch im Vergleich zu Menschen mit einer
Intelligenzminderung ohne DS, ein deutlich erhöhtes Risiko, eine zudem relativ früh
i.d.R. zum 51. Lebensjahr einsetzende Demenz zu entwickeln [1]
[2]. Ursache für dieses genetisch
determinierte stark erhöhte Risiko ist ein für die Alzheimer-Krankheit
verantwortliches Gen auf Chromosom 21 (Amyloid-Vorläuferprotein, APP), welches bei
den meisten Menschen mit DS (MmDS) dreifach vorhanden ist, und das Eiweiß codiert,
aus dem die für die Alzheimer-Krankheit typischen Amyloid-Plaques bestehen.
Ein Gesamtkonzept für die medizinische Versorgung dieses Personenkreises, bei dem
Diagnose und Therapie in Teilen unter veränderten Bedingungen im Vergleich zur
Allgemeinbevölkerung erfolgen müssen, liegt bisher jedoch nicht vor. Die
S3-Leitlinie „Demenzen“ aus 2016 nennt nur einmal das DS als diagnostisches
Kriterium für eine atypische Alzheimer-Demenz, in der Neubearbeitung findet sich
keine Erwähnung dieses speziellen Personenkreises [3].
Mit Blick auf den gesamten Versorgungsprozess und seine möglichen
Schnittstellenprobleme stehen die Gestaltung der Patient Journey und deren Steuerung
bzw. Unterstützung zunehmend im Fokus der Versorgungsforschung, verstanden als „der
gesamte Pfad, den der Patient durch alle Phasen der Versorgung zurücklegt, und seine
emotionale Erfahrung während dieses Wegs“ [4]. Ein Ziel der im Folgenden dargestellten leitfadengestützten
Expert:inneninterviews war es deshalb, Charakteristika, Hürden sowie
Verbesserungsvorschläge und Best Practice-Ansätze im Rahmen der Patient Journey von
MmDS und Demenz zu explorieren, mit dem Fokus auf Prozesse des Versorgungszugangs
und des Übergangs zwischen verschiedenen Versorgungsschritten und -settings. Dabei
werden auch patientenseitige Informationswege und -strategien sowie Fragen der
Koordination der Versorgung zwischen medizinischen Leistungserbringenden
behandelt.
Methodik
Das durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderte Projekt
„(Zugang zur) Diagnostik und Therapie demenzieller Erkrankungen bei Menschen mit
einem Down-Syndrom“ (DS-Demenz, Förderkennzeichen 01VSF21030) hat sich zum Ziel
gesetzt, auf Basis eines Mixed-Methods-Ansatzes zur Erforschung von Anforderungen,
Hürden sowie Verbesserungspotenzialen in der Versorgung von MmDS und Demenz
gesundheitspolitische Handlungsempfehlungen zu entwickeln.
Es wurden zwischen Mai und August 2023 insgesamt 14 leitfadengestützte Interviews
mit
Vertreter:innen drei verschiedener Perspektiven durchgeführt, wie in [Tab. 1] gezeigt. Dafür wurden zur
Repräsentierung der Patientenperspektive Vertreter:innen einschlägiger
Selbsthilfeorganisationen und informelle Betreuende mit Bezug zu Selbsthilfegruppen
rekrutiert[1]. Bei der Auswahl
der ärztlichen Expert:innen wurde darauf geachtet, relevante Fachgruppen sowie
Vertreter:innen von Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB)
einzuschließen. Für die Perspektive der institutionell Betreuenden wurden sowohl
Mitarbeiter:innen von Wohn- als auch von Arbeitseinrichtungen rekrutiert.
Tab. 1 Zahl und Perspektive der Interviewpartner:innen der
Studie
Perspektive
|
Zahl der Interviews
|
Patient:innenvertretungen
|
4
|
Ärzt:innen aus unterschiedlichen Settings (Hausärzt:innen,
Fachärzt:innen der Psychiatrie und Neurologie, Vertreter:innen
von Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung
(MZEB))
|
5
|
Vertreter:innen von Wohn- und Arbeitseinrichtungen im Rahmen der
Eingliederungshilfe
|
5
|
Grundlage der Interviews war ein halbstrukturierter Gesprächsleitfaden, der auf Basis
eines im Rahmen des Projekts durchgeführten Scoping Reviews und einer
vorangegangenen Analyse von Krankenkassen-Routinedaten[2] entwickelt wurde. Die Themen des
Leitfadens bewegten sich entlang der Patient Journey im Rahmen der medizinischen
Versorgung, also Symptomerkennung und Zugang, Diagnostik sowie therapeutische
Ansätze. Innerhalb dieser Thematiken wurde zunächst nach einer Beschreibung des
Status Quo, sodann nach möglichen Hürden und Verbesserungsvorschlägen gefragt. Der
Gesprächsleitfaden wurde anschließend an die jeweilige Perspektive angepasst. Die
im
Folgenden dargestellten Ergebnisse fokussieren selektiv ausschließlich auf die
Zugangs- und Schnittstellenthematik im Rahmen der medizinischen und therapeutischen
Versorgung. Die Problemfelder der medizinischen Diagnostik und Therapie von Menschen
mit DS und Demenz betreffenden Ergebnisse der Interviewstudie wurden in einer
weiteren Publikation dargestellt [5].
Ergebnisse
Praxis und Erfahrungen im Zugang und zu Schnittstellen in der medizinischen
Versorgung
Praxis und Erfahrungen im Zugang und zu Schnittstellen in der medizinischen
Versorgung der Patient:innen mit DS und Demenz gestalteten sich recht vielfältig
abhängig vom Wohn- und Betreuungssetting.
Die Vertreter:innen aus den befragten formellen Wohn- und Betreuungsinstitutionen
berichteten über in ihrem Kontext etablierte Wege zur medizinischen
Leistungserbringung, die allerdings individuell unterschiedlich waren. Teilweise
werden patientenindividuell Haus- und Fachärzt:innen angesprochen, teilweise
wurde von Wohneinrichtungen über etablierte Kooperationen mit Haus- und
Fachärzt:innen, in diesem Falle der Neurologie und Psychiatrie, berichtet. In
einzelnen Wohnheimen ist auch eine zugehende ärztliche Betreuung etabliert: „Wir
haben Psychiater und einen Neurologen, die kommen auch regelmäßig ins Haus, auch
eine super Kooperation. Aber bis wir die gefunden haben und so verlässlich, wie
die arbeiten, damit wir glücklich sind, …das hat ein paar Jahre gedauert“. Eine
Zusammenarbeit mit den Wohneinrichtungen wird auch im Interview mit dem
Vertreter der Neurolog:innen bestätigt. Einzelne Interviewpartner:innen aus dem
Wohn- und Werkstattbereich erwähnten auch den Aufbau von Kooperationen mit
MZEBs.
Von Seite der Patient:innenvertretungen wurde über eine erschwerte Patient
Journey im informellen Betreuungs- und Wohnsetting berichtet. Erste
Anlaufstelle war i.d.R. die hausärztliche Versorgung. Die Bewältigung der
Schnittstellen zur weiteren Diagnostik und Therapie gestaltete sich eher als
schwierige Suchbewegung: „Wo soll man es finden, wer soll einem das sagen.
Selbst bei der Lebenshilfe, die die Beratung hier haben. (…) Manches wissen die,
sicherlich. Aber so die richtigen Anlaufstellen…“.
Aus Sicht eines MZEB-Vertreters etabliert sich die Anbindung älterer und damit
potenziell von Demenz betroffener Patient:innen an das MZEB nur langsam: „Dann
sind das überwiegend die Jungen, die jetzt zu uns kommen, so
Transitions-Patient:innen oder so im Alter bis 30, bis 40. Und ich glaube, so
viele mit 50, 60 oder 70 und älter so, die sind dann in so schon lang
etablierten Strukturen, dass da gar nicht mehr so das Augenmerk daraufgelegt
ist, um dann entsprechend auch die richtigen Fragen zu stellen oder
Untersuchungen einzuleiten.“
Hürden und Hemmnisse im Rahmen der Patient Journey
Die Analyse der Angaben der Interviewpartner:innen zeigte mehrere Kategorien von
Zugangs- und Schnittstellenrisiken auf. Das Diagramm in [Abb. 1] gibt zudem Anhaltspunkte
für ihre jeweilige Relevanz durch die unterschiedlich große Darstellung in
Abhängigkeit von der Anzahl an Interviews, in denen die Aspekte genannt
wurden.
Abb. 1 Zugangs- und Schnittstellenrisiken im Überblick.
[Tab. 2] gibt zudem einen
Überblick über die jeweilige Anzahl der Interviewpartner:innen in den einzelnen
Gruppen von Befragten, die die im folgenden Text näher beschriebenen Hürden und
Hemmnisse benannten.
Tab. 2 Zugangs- und Schnittstellenrisiken: Anzahl der
Interviews mit Benennung einzelner Hürden und
Hemmnisse
|
|
Ärzt:innen n=5
|
Patientenvertretungen n=4
|
Wohn- und Arbeitsstätten n=5
|
Total n=14
|
Zugangsrisiko Information
|
|
|
|
|
|
|
Fehlendes Wissen über spez. Risiko bei MmDS
|
|
|
|
|
|
|
3
|
1
|
2
|
6
|
|
|
|
1
|
|
1
|
|
|
|
1
|
|
1
|
|
|
|
2
|
|
2
|
|
Fehlendes Wissen über spezialisierte Leistungserbringende
|
2
|
1
|
1
|
4
|
Zugangsrisiko Symptomerkennung
|
2
|
1
|
4
|
7
|
Barrieren durch Ängste/Verdrängung der Diagnose
|
|
|
|
|
|
bei Ärzt:innen
|
|
|
1
|
1
|
|
bei Patient:innen
|
1
|
2
|
|
3
|
|
bei Mitarbeitenden in Wohn- und Arbeitsstätten
|
|
|
2
|
2
|
|
bei informell Betreuenden/Angehörigen
|
1
|
4
|
1
|
6
|
Zugangsrisiko Versorgungsbereitschaft von LE
|
|
|
|
|
|
Eingeschränkte Bereitschaft des Umgangs mit Menschen mit
intellektueller Beeinträchtigung
|
2
|
1
|
|
3
|
|
Zweifel an der Umsetzbarkeit der Versorgung
|
|
1
|
|
1
|
|
Zweifel an der Notwendigkeit der Versorgung
|
|
3
|
2
|
5
|
Zugangsrisiko Verfügbarkeit von LE
|
|
|
|
|
|
Fehlende Assistenz für MmDS für Aufsuchen von
Leistungserbringenden
|
2
|
|
1
|
3
|
|
Fehlende regionale Verfügbarkeit von MZEBs/Spezialambulanzen
und eingeschränkte Behandlungsberechtigung
|
2
|
2
|
|
4
|
|
Fehlende Verfügbarkeit von Heilmittel-Erbringenden
|
3
|
2
|
2
|
7
|
Zugangsrisiko Fehlende Zusammenarbeit und Steuerung
|
|
|
|
|
|
Fehlende Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringenden
|
2
|
1
|
|
3
|
|
Fehlende Lotsenfunktion für Betreuende
|
|
2
|
|
2
|
Zugangsrisiko Information
Die Interviewpartner:innen aus allen Befragungsgruppen waren sich darüber
einig, dass das erhöhte Risiko einer frühen Demenz der Zielgruppe kaum oder
zu wenig bekannt ist, und zwar sowohl bei den medizinischen
Leistungserbringenden als auch bei den Betreuenden, so eine Vertreterin
eines MZEB: „Das Thema Trisomie 21 Demenz ist überhaupt nicht aufgeklärt in
der Regelversorgung. Null. Wirklich Null. Also wenn ich irgendwo damit
anfange (…), schauen mich immer alle an, als ob ich gerade ein Geheimnis
erzähle, was man nirgends lesen kann.“
Wie schon aus der Beschreibung der Praxis der Patient Journey
ableitbar, fehlen auch Informationen über den Standort spezialisierter
medizinischer Leistungserbringender; hier die Aussage einer
Patientenvertreterin: „Naja, die große Hürde ist vor allem, wer weiß, wo die
Diagnostik stattfinden kann? Gibt es bestimmte Fachstellen, qualifizierte
Stellen? Wer kümmert sich darum, speziell im Hinblick auf Erwachsene mit
Down-Syndrom?“
Aus hausärztlicher Perspektive wurde beschrieben, dass die Existenz und
Funktion von MZEBs noch häufig unbekannt ist.
Zugangsrisiko Symptomerkennung
In allen Gruppen von Interviewpartner:innen wurde auch über Schwierigkeiten
von Betreuenden in der Symptomerkennung in Abgrenzung zu typischen
Verhaltensmustern im Rahmen des Down-Syndroms berichtet. Von ärztlicher
Seite wurde dabei noch auf die zusätzliche Schwierigkeit des relativ kurzen
Kontakts gerade bei Neuvorstellungen von Patient:innen hingewiesen. Von
institutionell Betreuenden wurden auch Unsicherheiten in der Abgrenzung,
z.B. zu Symptomen der Depression, angegeben.
Barrieren durch Ängste und Verdrängung der Diagnose
Alzheimer-Demenz
Auch Ängste und Verdrängung der möglichen Diagnose Alzheimer-Demenz wurden
als Hindernisse auf dem Weg in die Versorgung beschrieben. Erwähnung fanden
sie in allen Gruppen von Interviewpartner:innen. Dabei wurden besonders
häufig Ängste der Angehörigen beschrieben, die verhindern, dass Symptome der
Demenz wahrgenommen werden. „…und als Eltern, glaube ich, will man das als
Allerletztes sehen. So würden wir im Nachhinein sagen“, aber auch
Mitarbeitende in Wohneinrichtungen berichteten, davon betroffen zu sein.
Zugangsrisiko Versorgungsbereitschaft der medizinischen
Leistungserbringenden
Die Interviewpartner:innen berichteten auch über Einschränkungen in der
Versorgungsbereitschaft der medizinischen Leistungserbringenden gegenüber
Patient:innen mit DS und Demenz. Zwei der ärztlichen Interviewpartner:innen
und eine Angehörige sehen ein Problem in der grundsätzlichen Einstellung zur
Behandlung des Personenkreises bei manchen Ärzt:innen: „…so ist es im Umgang
mit behinderten Menschen. Ist auch eine Einstellungssache. Aber zum Teil ist
(es) ja schon schlecht, weil man auch ein Stück Angst davor hat“.
In einem Interview mit einer Patientenvertreterin werden Erfahrungen
berichtet, dass eine Versorgung aufgrund von Zweifeln an der Compliance der
Patient:innen verweigert wurde.
Häufiger wird aus der Perspektive der Betreuenden berichtet, dass Zweifel am
Behandlungserfolg von den Ärzt:innen formuliert werden. Dabei werden auf den
Personenkreis von MmDS bezogene Argumente genannt, so eine Angehörige: „Ich
müsste ja bedenken, in seinem Alter…, da war er 48 oder 47 gerade noch, …er
wäre ja schon ein alter Mann…“. Die meisten genannten Begründungen seitens
diverser Interviewpartner:innen beziehen sich jedoch generell auf die bisher
noch geringen medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten der
Alzheimer-Demenz.
Zugangsrisiko Verfügbarkeit von Leistungserbringenden
Von Interviewpartner:innen aus der Perspektive von Patientenvertretungen und
ärztlicher Leistungserbringender wurde die fehlende Verfügbarkeit von MZEBs
und/oder spezialisierten Ambulanzen in ihrer Region beklagt. Dabei wurde von
ärztlicher Seite auch eine restriktive und dazu regional unterschiedliche
Behandlungsberechtigung der MZEBs kritisiert, „Mitversorgung hört sich toll
an, die Überschrift im SGB V Paragraph 119c, was MZEB bedeutet, heißt
Behandlungszentrum. Wir dürfen aber in ganz NRW nicht behandeln. Wir dürfen
nur eine Lotsenfunktion erfüllen, was natürlich völliger Quatsch ist. Wir
dürfen nur mit den Menschen irgendwohin fahren, so nach dem Lotsenprinzip.
An sich eine gute Sache, das machen wir auch, aber das reicht nicht. Und wir
dürfen Diagnostik machen“. In Interviews mit allen Gruppen von
Interviewpartner:innen wird auch die fehlende Verfügbarkeit von für den
Personenkreis qualifizierten Heilmittelerbringenden beklagt. „… was
Ergotherapie, Logopädie angeht, da wissen wir jetzt so von Angehörigen (…),
dass es manchmal nicht so einfach ist, jemanden zu finden, der mit älteren
Menschen auch arbeitet oder eben mit demenziell veränderten Menschen“.
Schließlich wurde von einigen Ärzt:innen und Vertreter:innen von
Wohneinrichtungen das Problem fehlender Assistenz bei der Inanspruchnahme
von Versorgungsleistungen thematisiert als Voraussetzung, dass der/die
Leistungserbringende überhaupt erreicht wird.
Zugangs- und Schnittstellenrisiko fehlende Zusammenarbeit und
Steuerung
Eine fehlende Zusammenarbeit zwischen den einzelnen an der Versorgung
beteiligten Leistungserbringenden, z.B. in der Umsetzung von Empfehlungen
aus den MZEBs oder in der Zusammenarbeit zwischen Haus- und Fachärzt:innen,
wurde von Interviewpartner:innen aus Patienten- und
Leistungserbringendenperspektive benannt. Besonders Patientenvertreter:innen
berichten von einer Patient Journey, die fast ausschließlich auf der
Eigeninitiative von Angehörigen beruht, anstelle eines zielgerichteten
Lotsens der Patient:innen durch Leistungserbringende. „Und dann fing die
Odyssee an. Von Pontius zu Pilatus und der hat die Meinung, der hat die
Meinung“. „Ich fühle mich auch ziemlich alleine gelassen bei vielen Sachen,
weil ich bin ja eben keine Medizinerin.“
Best Practice und Verbesserungsvorschläge
Die Interviewpartner:innen wurden gebeten, Vorschläge zur Verbesserung der
Versorgungssituation zu machen. Außerdem wurden ihre Berichte über eine
besonders gelungene Gestaltung des Versorgungszugangs und der Patientensteuerung
als Best Practice bei der Auswertung der Interviews in Hinblick auf
Verbesserungsmöglichkeiten berücksichtigt. [Abb. 2] gibt einen Überblick über
die genannten Aspekte.
Abb. 2 Verbesserungsmöglichkeiten und Best Practice-Ansätze im
Zugang / bei Übergängen in der Patient Journey, eigene Darstellung.
[Tab. 3] zeigt zudem die Anzahl
der jeweiligen Interviews in den einzelnen Gruppen von Befragten, in denen
bestimmte Ansätze erwähnt wurden. Die Verbesserungsansätze konzentrierten sich
auf die Zugangsrisiken Information und Symptomerkennung, auf eine verbesserte
Verfügbarkeit und einen verbesserten Zugang zu Leistungserbringenden sowie auf
die Stärkung von interdisziplinärer Zusammenarbeit und gezielter Steuerung durch
das Versorgungssystem.
Tab. 3 Zugangs- und Schnittstellenrisiken: Anzahl der
Interviews mit Benennung von Verbesserungsansätzen
|
Ärzt:innen n=5
|
Patientenvertretungen n=4
|
Wohn- und Arbeitsstätten n=5
|
Total n=14
|
Verbesserte Information
|
Verzeichnis mit relevanten medizininschen
Leistungserbringenden/Anlaufstelle
|
1
|
3
|
|
4
|
Verbesserte Symptomerkennung
|
Schulungen zur Symptomerkennung
|
|
|
3
|
3
|
Verbesserte Verfügbarkeit und verbesserter Zugang zu med.
LE
|
|
|
|
|
|
Assistenz für MmDS für Aufsuchen von medizinischen
Leistungserbringenden
|
|
|
3
|
3
|
|
Mobile Leistungserbringung
|
|
|
|
|
|
|
|
|
1
|
1
|
|
|
|
1
|
3
|
4
|
|
Verbesserte (regionale) Verfügbarkeit und erhöhter
Versorgungsumfang von MZEBs/Spezialambulanzen
|
3
|
1
|
1
|
5
|
Verbesserte Zusammenarbeit und Steuerung
|
|
|
|
|
|
(interdisziplinäre) Zusammenarbeit zwischen
Leistungserbringenden
|
|
|
|
|
|
|
|
|
2
|
2
|
|
|
1
|
1
|
|
2
|
|
Lotsenfunktion für Betreuende durch medizinische
Leistungserbringende
|
1
|
1
|
2
|
4
|
Verbesserte Information
Sowohl von Patient:innenvertretungen als auch von ärztlicher Seite wurde die
Erstellung und Verfügbarkeit eines Verzeichnisses mit spezialisierten
Leistungserbringenden, ggfs. zur Verfügung gestellt von einer zentralen
Anlaufstelle, vorgeschlagen. „…ich würde mir halt eben wünschen, dass es so
ein Verzeichnis, so wissen Sie, wie so ein Pflegefinder auch für Menschen,
älter werdende Menschen mit Down-Syndrom, auch so Therapeuten- und
Ärztefinder gäbe. Wer macht denn zum Beispiel eine Schluckuntersuchung bei
Menschen mit Down-Syndrom und Verdacht auf Alzheimer?“.
Verbesserte Symptomerkennung
Von Seiten der Wohn- und Arbeitseinrichtungen wurden insbesondere Schulungen
zu einer verbesserten Symptomerkennung einer Alzheimer-Demenz bei MmDS
gewünscht und in einigen Einrichtungen schon systematisch durchgeführt. „Du
musst sensibel sein natürlich. Deswegen auch regelmäßig Fortbildung für alle
Mitarbeiter, damit sie wirklich ihre Antennen aufgestellt haben, damit die
das frühzeitig erkennen können.“
Verbesserte Verfügbarkeit von und verbesserter Zugang zu
Leistungserbringenden
Als Best Practice nannten die Interviewpartner:innen aus den
Wohneinrichtungen einerseits die regelmäßige Begleitung der Patient:innen
bei Arztbesuchen durch Mitarbeiter:innen, aber auch – in einigen
Einrichtungen – regelmäßige Hausbesuche sowohl von Fachärzt:innen als auch
von Heilmittelerbringenden.
Jedoch wurde besonders von Ärzt:innen eine erhöhte regionale Verfügbarkeit
von MZEBs gewünscht. Dabei wurde auch eine Aufhebung der Reduktion der
Befugnisse der MZEBs auf die Diagnostik, die bisher in einigen Regionen mit
den Krankenkassen vertraglich vereinbart ist, als hilfreich gesehen.
„Hoffentlich, indem wir bis dahin behandeln dürfen und das gut verfolgen
dürfen. Weil …das wäre extrem wichtig, nicht nur bei Trisomie 21, aber
besonders da, weil es früher beginnt mit der Demenz, muss gut verfolgt sein.
Und man kann es nicht als Hausarzt oder eine große Klinik … Man muss
unterstützte Kommunikation beherrschen. Man muss wissen, wie man mit den
Menschen …auch die Dinge raus bekommt und eine Vertrauensbasis haben.“
Verbesserte Zusammenarbeit und Steuerung
Eine verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit wurde sowohl innerhalb der
Wohneinrichtungen als auch zwischen den medizinischen Leistungserbringenden
als wünschenswert genannt. Entsprechende Wünsche werden auch aus der
hausärztlichen Versorgung heraus geäußert: „Also wichtig wären
Multi-Professionalität…Wird immer so getan, aber da sind wir noch weit weg
von gut. Und das ist ja so, dass sich Teams bilden, um die Patienten zu
versorgen. Und das würde im Bereich der Behindertenmedizin… auch sehr gut zu
Gesicht stehen.“
Von Interviewpartner:innen aus allen vertretenen Perspektiven wurde eine
verbesserte Lotsenfunktion durch das medizinische System gewünscht, wobei
jeweils sehr unterschiedliche mögliche Anlaufstellen genannt werden, hier
eine Patientenvertreterin: „Klar, so Beratungsstellen sind unheimlich
wichtig bei der Lebenshilfe oder bei anderen, beim Deutschen Roten Kreuz
oder an Krankenhäusern.“
Diskussion
Hürden und Hemmnisse im Rahmen der Patient Journey im Zugang und an
Schnittstellen in der medizinischen Versorgung von MmDS und einer Alzheimer Demenz
sind nach Aussagen der Interviewpartner:innen einerseits bei der Verfügbarkeit
geeigneter Leistungserbringender zu verorten. Der zweite Schwerpunkt liegt beim
Informationszugang im weitesten Sinne, sei es zu Informationen zum
Erkrankungsrisiko, zur Symptomerkennung oder zum Auffinden geeigneter
Leistungserbringender. Schließlich ist die fehlende Steuerung an
Versorgungsschnittstellen zu nennen.
Diese Hürden entsprechen weitgehend den in der internationalen Literatur genannten
Problembereichen für die Versorgung von MmDS und Demenz. Gerade im Bereich der
Symptomerkennung wird das Problem des „Diagnostic Overshadowing“ bezüglich typischer
Verhaltensmuster im Rahmen des DS im Zusammenhang mit fehlender Aufklärung häufig
genannt und die Notwendigkeit von Schulungen im Bereich formell und informell
Pflegender betont [9]. Aus mehreren
Gesundheitssystemen wird auch über das Fehlen von medizinischen
Leistungserbringenden mit entsprechender Spezialisierung berichtet [10]. Ebenso werden Probleme aufgrund
der Notwendigkeit der Begleitung zu Terminen benannt [11]. Die Steuerung an Schnittstellen
wird mehrfach als problematisch beschrieben [12].
Das deutsche Gesundheitssystem wird generell bzgl. der Versorgungssteuerung und der
bedarfsgerechten Gestaltung von Schnittstellen kritisch diskutiert [13] . Umso schwieriger gestaltet sich
die Steuerung der Versorgung von Patientengruppen mit spezifischen Bedürfnissen. So
wird aus den Interviews auch klar, dass spezialisierte Institutionen wie z.B. die
MZEBs bei den Hausärzt:innen nur unzureichend bekannt sind, was dann eine gezielte
Weiterverweisung von vornherein unmöglich macht.
Der globale Aktionsplan der World Health Organization (WHO) zu Public Health
Reaktionen auf die Indikation Demenz betont auch den Equity-Aspekt der Inklusion
aller vulnerablen Gruppen und nennt spezifisch Menschen mit Behinderung [14]. Die Demenzstrategie der
Bundesregierung enthält jedoch keine spezifischen Maßnahmen oder
Problembeschreibungen für die besonders von Demenz betroffene Gruppe der Menschen
mit Intelligenzminderung und spezifisch mit DS [15], obwohl es sich um eine Gruppe mit
hohem Erkrankungsrisiko und besonderen Herausforderungen der Versorgung handelt. Auf
einem internationalen Gipfel zu Intelligenzminderung und Demenz wird entsprechend
auch die Inklusion der speziellen Versorgungsthematik dieser betroffenen Gruppe
gefordert [16].