Geburtshilfe Frauenheilkd 2025; 85(03): 265-281
DOI: 10.1055/a-2490-2876
GebFra Science
Guideline/Leitlinie

Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bei Frauen mit Querschnittlähmung

Leitlinie der DGGG und der DMGP (S2k-Level, AWMF-Registernummer 179/002, August 2024 Article in several languages: English | deutsch
Markus Schmidt
1   Gynecology & Obstetrics, Sana Kliniken Duisburg GmbH, Duisburg, Germany
,
Anke Jaekel
2   Department of Neuro-Urology, Johanniter Neurological Rehabilitation Center Godeshoehe GmbH, Bonn, Germany
3   Department of Neuro-Urology, Clinic for Urology, University Hospital Bonn, Bonn, Germany
,
Sue Bertschy
4   Swiss Paraplegic Research (SPF), Nottwil, Switzerland
,
Ute Lange
5   Department of Nursing-, Midwifery- and Therapeutic Sciences, University of Applied Health Sciences Bochum, Bochum, Germany
,
Simone Kues
6   Department of Psychology, BG Clinic Hamburg, Hamburg, Germany
,
Kai Fiebag
7   Department of Neuro-Urology, BG Clinic Hamburg, Hamburg, Germany
,
Gesa Cohrs
8   Pediatric Neurosurgery, Campus Virchow Klinikum, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Ulrich Mehnert
9   Department of Neuro-Urology, Balgrist University Hospital, University of Zürich, Zürich, Switzerland
,
Doris Knorr
10   Department of Obstetrics, Community Hospital Herdecke, University Witten Herdecke, Witten, Germany
,
Marlies Onken
11   Charité – Universitätsmedizin Berlin, Corporate Member of Freie Universität Berlin and Humboldt-Universität zu Berlin, Institute of Clinical Pharmacology and Toxicology, Embryotox Center of Clinical Teratology and Drug Safety in Pregnancy, Berlin, Germany
,
Amke Baum
12   Association for the Promotion of Paraplegics in Germany, Lüneburg, Germany
,
Barbara Schilcher
13   D-A-CH Association of Urotherapy e. V., Wülfrath, Germany
,
Ines Kurze
14   Department for Paraplegia and Neuro-Urology, Centre of Spinal Cord Injuries and Diseases, Bad Berka, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Die Leitlinie zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bei Frauen mit Querschnittlähmung (QSL) beinhaltet übergreifende Themen zu Kinderwunsch und Schwangerschaft verbunden mit einer QSL, sie wurde federführend von der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie (DMGP) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) erstellt. Da eine allgemein zugängliche Darstellung dieser komplexen Problematik auf einem evidenzbasierten Level bisher nicht existiert, trägt die neue Leitlinie zu einer Vereinheitlichung dieser Thematik auf der Basis eines strukturierten Expertenkonsensus bei. Das Ziel ist die Etablierung allgemeiner interdisziplinärer Standards und praxisorientierter Hilfen zur Betreuung und Beratung von Frauen mit Kinderwunsch/Schwangerschaft bei QSL, um die festgestellten Lücken in den Bereichen medizinische Versorgung, Information, Zusammenarbeit und Forschung zu schließen.


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I  Leitlinieninformationen

Leitlinienprogramm der DGGG, OEGGG und SGGG

Informationen hierzu finden Sie am Ende der Leitlinie.


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Zitierweise

Pregnancy, Childbirth and Puerperium in Women with Spinal Cord Injury. Guideline of the DGGG and DMGP (S2k-Level, AWMF Registry No. 179/002, August 2024. Geburtsh Frauenheilk 2025; 85: 265–281


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Leitliniendokumente

Die vollständige deutsche Langfassung dieser Leitlinien sowie eine Aufstellung der Interessenkonflikte aller Autoren befinden sich auf der Homepage der AWMF: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/179-002


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Leitliniengruppe

Siehe [Tab. 1] und [2].

Tab. 1 Federführender und/oder koordinierender Leitlinienautor.

Autor

AWMF-Fachgesellschaft

Dr. Ines Kurze

DMGP

Prof. Dr. Markus Schmidt

DGGG

Tab. 2 Beteiligte Leitlinienautoren/-innen.

Autor*in

Mandatsträger*in

DGGG-Arbeitsgemeinschaft (AG)/
AWMF/Nicht-AWMF-Fachgesellschaft/
Organisation/Verein

Mandatsträger

Prof. Dr. Ute Lange

Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi)

PD Dr. Ulrich Mehnert

Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)

Doris Knorr

Deutscher Hebammenverband (DHV)

PD Dr. Gesa Cohrs

Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus (ASBH)

Amke Baum

Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland

Barbara Schilcher

D-A-CH Vereinigung der Urotherapie e. V.

Dr. Marlies Onken

Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Autoren

Dr. Kai Fiebag

Neurourologie

Dr. Anke Jaekel

Neurourologie

Dr. Sue Bertschy

Versorgungsforschung

Simone Kues

Psychologie/Patientensicht

Die folgenden Fachgesellschaften/Arbeitsgemeinschaften/Organisationen/Vereine haben Interesse an der Mitwirkung bei der Erstellung des Leitlinientextes und der Teilnahme an der Konsensuskonferenz bekundet und Vertreter dafür benannt.


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II  Leitlinienverwendung

Fragestellung und Ziele

Die Leitlinie zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bei Frauen mit Querschnittlähmung (QSL) beinhaltet übergreifende Themen zu Kinderwunsch und Schwangerschaft verbunden mit einer QSL. Da eine allgemein zugängliche Darstellung dieser komplexen Problematik auf einem evidenzbasierten Level bisher nicht existiert, trägt die neue Leitlinie zu einer Vereinheitlichung dieser Thematik bei. Das Ziel ist die Etablierung allgemeiner interdisziplinärer Standards und praxisorientierter Hilfen zur Betreuung und Beratung von Frauen mit Kinderwunsch/Schwangerschaft bei QSL, um die festgestellten Lücken in den Bereichen medizinische Versorgung, Information, Zusammenarbeit und Forschung [1], [2] zu schließen.


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Versorgungsbereich

ambulante und (teil)stationäre Versorgung


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Anwenderzielgruppe/Adressaten

Diese Leitlinie thematisiert paraplegiologische, neurourologische wie auch gynäkologische und geburtshilfliche Aspekte, die Einfluss auf die Nutzung und die Qualität der Versorgung haben. Dementsprechend richtet sich die Leitlinie an alle Berufsgruppen, die in der Versorgung von Frauen mit Querschnittlähmung involviert sind


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Verabschiedung und Gültigkeitsdauer

Die Gültigkeit dieser Leitlinie wurde durch die Vorstände/Verantwortlichen der beteiligten medizinischen Fachgesellschaften, Arbeitsgemeinschaften, Organisationen und Vereine sowie durch den Vorstand der DGGG sowie der DGGG-Leitlinienkommission im August 2024 bestätigt und damit in ihrem gesamten Inhalt genehmigt. Diese Leitlinie besitzt eine Gültigkeitsdauer vom 14.08.2024 bis 13.08.2029. Diese Dauer ist aufgrund der inhaltlichen Zusammenhänge geschätzt. Bei dringendem Bedarf kann eine Leitlinie früher aktualisiert werden, bei weiterhin aktuellem Wissensstand kann ebenso die Dauer verlängert werden.


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III  Methodik

Grundlagen

Die Methodik zur Erstellung dieser Leitlinie wird durch die Vergabe der Stufenklassifikation vorgegeben. Das AWMF-Regelwerk (Version 1.0) gibt entsprechende Regelungen vor. Es wird zwischen der niedrigsten Stufe (S1), der mittleren Stufe (S2) und der höchsten Stufe (S3) unterschieden. Die niedrigste Klasse definiert sich durch eine Zusammenstellung von Handlungsempfehlungen, erstellt durch eine nicht repräsentative Expertengruppe. Im Jahr 2004 wurde die Stufe S2 in die systematische evidenzrecherchebasierte (S2e) oder strukturelle konsensbasierte Unterstufe (S2k) gegliedert. In der höchsten Stufe S3 vereinigen sich beide Verfahren.

Diese Leitlinie entspricht der Stufe: S2k


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Empfehlungsgraduierung

Die Evidenzgraduierung nach systematischer Recherche, Selektion, Bewertung und Synthese der Evidenzgrundlage und eine daraus resultierende Empfehlungsgraduierung einer Leitlinie auf S2k-Niveau ist nicht vorgesehen. Es werden die einzelnen Statements und Empfehlungen nur sprachlich – nicht symbolisch – unterschieden (siehe [Tab. 3]).

Tab. 3 Graduierung von Empfehlungen (deutschsprachig).

Beschreibung der Verbindlichkeit

Ausdruck

starke Empfehlung mit hoher Verbindlichkeit

soll/soll nicht

einfache Empfehlung mit mittlerer Verbindlichkeit

sollte/sollte nicht

offene Empfehlung mit geringer Verbindlichkeit

kann/kann nicht


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Statements

Sollten fachliche Aussagen nicht als Handlungsempfehlungen, sondern als einfache Darlegung Bestandteil dieser Leitlinie sein, werden diese als „Statements“ bezeichnet. Bei diesen Statements ist die Angabe von Evidenzgraden nicht möglich.


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Konsensusfindung und Konsensusstärke

Im Rahmen einer strukturierten Konsenskonferenz nach dem NIH-Typ (S2k/S3-Niveau) stimmen die berechtigten Teilnehmer der Sitzung die ausformulierten Statements und Empfehlungen ab. Der Ablauf war wie folgt: Vorstellung der Empfehlung, inhaltliche Nachfragen, Vorbringen von Änderungsvorschlägen, Abstimmung aller Änderungsvorschläge. Bei Nichterreichen eines Konsensus (> 75% der Stimmen) Diskussion und erneute Abstimmung. Abschließend wird abhängig von der Anzahl der Teilnehmer die Stärke des Konsensus ermittelt (siehe [Tab. 4]).

Tab. 4 Einteilung zur Zustimmung der Konsensusbildung.

Symbolik

Konsensusstärke

prozentuale Übereinstimmung

+++

starker Konsens

Zustimmung von > 95% der Teilnehmer

++

Konsens

Zustimmung von > 75 – 95% der Teilnehmer

+

mehrheitliche Zustimmung

Zustimmung von > 50 – 75% der Teilnehmer

kein Konsens

Zustimmung von < 51% der Teilnehmer


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Expertenkonsens

Wie der Name bereits ausdrückt, sind hier Konsensusentscheidungen speziell für Empfehlungen/Statements ohne vorige systemische Literaturrecherche (S2k) oder aufgrund von fehlenden Evidenzen (S2e/S3) gemeint. Der zu benutzende Expertenkonsens (EK) ist gleichbedeutend mit den Begrifflichkeiten aus anderen Leitlinien wie „Good Clinical Practice“ (GCP) oder „klinischer Konsensuspunkt“ (KKP). Die Empfehlungsstärke graduiert sich gleichermaßen wie bereits im Kapitel Empfehlungsgraduierung beschrieben ohne die Benutzung der aufgezeigten Symbolik, sondern rein semantisch („soll“/„soll nicht“ bzw. „sollte“/„sollte nicht“ oder „kann“/„kann nicht“).


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IV  Leitlinie

1  Einführung

In Deutschland leben ca. 140 000 Menschen mit einer Querschnittlähmung (QSL) [3]. Die Anzahl der QSL bei Frauen im geschlechtsspezifischen Vergleich in Deutschland ist deutlich geringer (Frauen 25,2%, Männer 74,8%), die jährliche Inzidenz der QSL bei Frauen beträgt 7,5/1 Mio. [4]. In einer explorativen Beobachtungsstudie durch 8 Querschnittzentren in Deutschland aus dem Jahr 2017 waren 65/1475 Teilnehmer*innen Frauen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren (4,4%) und weitere 62/1475 Teilnehmer*innen Frauen im Alter zwischen 41 und 50 Jahren (4,2%) von einer Querschnittlähmung betroffen [5]. Studien aus den USA und der Schweiz berichten, dass schätzungsweise 14 – 18% der Frauen im reproduktiven Alter nach einer Rückenmarksverletzung Kinder gebären [6] [7] [8]. Frauen mit QSL gebären im Schnitt 5 Jahre später als der Durchschnitt in der Normalbevölkerung. Während der Schwangerschaft suchen Frauen mit QSL vermehrt ambulante und stationäre medizinische Einrichtungen auf [1], [3]. Antenatale Komplikationen, wie verstärkte Spastik (38%) und Harnwegsinfekte (24%), sind häufig [9].

Vorgeburtliche stationäre Hospitalisierungen bei schwangeren Frauen mit QSL kommen etwa 5-mal häufiger als in der Normalbevölkerung vor (73% vs. 14%) und betreffen nahezu die Hälfte der schwangeren Frauen mit QSL [10]. Die Hauptursache für die stationäre Versorgung ist die Pyelonephritis [10], [11]. Weitere Indikationen zur stationären Aufnahme sind Bluthochdruck, Pneumonie, Präeklampsie, vorzeitige Wehen und Tachykardie [11].

Die Herausforderungen in der ambulanten und stationären Versorgung von Frauen mit QSL sind für die betreuenden Fachpersonen deutlich spürbar [6]. Ein effektives Behandlungsmanagement erfordert spezifisches Fachwissen im Bereich der Geburtshilfe und Gynäkologie, der Paraplegiologie sowie der Neurourologie. Optimal ist daher die enge Anbindung an ein Querschnittgelähmten-Zentrum, in dem ein interdisziplinäres und interprofessionelles Team die Frauen oft auch schon vor Eintritt der Schwangerschaft betreut und mit Eintritt der Schwangerschaft frühzeitig die Kommunikation mit Gynäkologen und Geburtshelfern aufnehmen kann. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Patientin mit QSL aktiv in die Behandlungsentscheidungen einzubeziehen, da sie oft über ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz verfügt [12].

Alle u. a. Empfehlungen erreichten einen starken Konsens.


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1  Zusammenfassung der Empfehlungen und Statements

2.1  Medizinische Versorgung und Komplikationen während einer Schwangerschaft bei Frauen mit QSL

2.1.1  Harnwegsinfektionen

Das Blasenmanagement soll im Schwangerschaftsverlauf überprüft und ggf. angepasst werden, beispielsweise:

  • Verkürzung der Katheterisierungsintervalle

  • in Einzelfällen Harndauerableitung, Wechselintervall: individuell, max. 4 Wochen

Eine Harnableitung mittels Ureterschiene oder Nephrostomie sollte bei Harntransportstörung erfolgen, wenn folgende Kriterien bestehen:

Neu aufgetretene und/oder progrediente Harnstauung des Nierenbeckenkelchsystems (per Ultraschall diagnostiziert) in Kombination mit Flankenschmerzen, Nierenfunktionsverschlechterung, Fieber, verstärkter Spastik und/oder erhöhten Entzündungsparametern, denen keine andere Ursache zugeordnet werden kann.


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2.1.2  Autonome Dysreflexie

Reize/Stimulationen im gelähmten Bereich (Wehen, Manipulationen vor/während der Entbindung, vaginale/rektale Untersuchung, Sectio) können eine autonome Dysreflexie auslösen.

Cave: Der Blutdruck kann im Rahmen einer autonomen Dysreflexie sehr rasch sehr hohe Werte erreichen, ohne von der Patientin bemerkt zu werden.

Bei Schwangeren mit einer Lähmungshöhe oberhalb T6 und bei anamnestisch bekannter AD bei tieferer Lähmungshöhe soll in AD-provozierenden Situationen ein Monitoring erfolgen.

Therapie der autonomen Dysreflexie

1. Ursache beseitigen

Ausschalten des triggernden Reizes (Abbrechen der Manipulation, Entleeren der Harnblase oder des Darms). Unter Wehen/Geburt: Periduralkatheter (PDK) bzw. Patient-Controlled Epidural Analgesia (PCEA) mit Ausschaltung der neurologischen Segmente bis T10 einschließlich (siehe 3.1).

2. Antihypertensive Medikation

Bei Persistenz der AD trotz Durchführung der Maßnahmen wie unter Punkt 1 beschrieben:

In allen Phasen der Schwangerschaft vorzugsweise Einsatz von Nifedipin oral initial 5 (10) mg, ggf. Wiederholung nach 20 min. Als Mittel der 2. Wahl alternativ Urapidil initial 6,25 mg langsam i. v., danach 3 – 24 mg/h über Perfusor. Reservemedikament: Dihydralazin 5 mg langsam i. v., danach 2 – 20 mg/h über Perfusor. Eine akute Senkung des Blutdruckes sollte ab Lebensfähigkeit des Kindes unter CTG-Kontrolle erfolgen [13].

Bei fortbestehender maternaler vitaler Gefährdung sollte eine Dosiseskalation von Urapidil auf 10 – 50 mg langsam i. v. erfolgen oder schnell wirkende Nitropräparate.

Die autonome Dysreflexie muss differenzialdiagnostisch von der Präeklampsie abgegrenzt werden ([Tab. 5]).

Tab. 5 Differenzialdiagnose autonome Dysreflexie/Präeklampsie.

autonome Dysreflexie

Präeklampsie

Lähmungshöhe

meist oberhalb des neurologischen Segments T6, selten darunter

unabhängig von der Lähmungshöhe

Blutdruck

sehr rasche extrem hohe Steigerung (innerhalb weniger Sekunden)

typischerweise langsam kontinuierlich steigend, rasche Steigerung innerhalb von Stunden in seltenen Fällen möglich

Herzfrequenz

meist bradykard, in der frühen Phase tachykard

meist normofrequent

Proteinurie

nein

ja (> 300 mg/24 h)

Klinik

„Flushing“, Schwitzen, Gänsehaut, pochende Kopfschmerzen, gesteigerte Reflexe

Ödeme, kontinuierlicher Kopfschmerzen, Augenflimmern, Oberbauchschmerzen, gesteigerte Reflexe

serologische Auffälligkeiten

untypisch

möglich bei z. B. gleichzeitigem HELLP-Syndrom (Harnsäure ↑, Transaminasen ↑, Thrombozyten ↓, Haptoglobin ↓)


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2.1.3  Darmfunktionstörungen

Das Darmmanagement soll aufgrund einer möglichen veränderten Stuhlkonsistenz, einer veränderten Kolontransitzeit und eingeschränkter Mobilität während der Schwangerschaft regelmäßig überprüft und individuell angepasst werden. Gegebenenfalls ist eine Assistenz zur Durchführung des Darmmanagements zu organisieren. Eine stationäre Aufnahme sollte bei Koprostase und mehrtägigem Stuhlverhalt zu kontrollierten, intensivierten Abführmaßnahmen erfolgen.


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2.1.4  Hautveränderungen

Es sollen regelmäßige Hautkontrollen und ggf. Sitzdruckmessungen (ab dem 3. Trimenon 2 – 4 wöchentlich) durchgeführt und ggf. die entsprechenden Hilfsmittel angepasst werden.


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2.1.5  Gewichtsveränderungen

Zusätzlich zu den 4-wöchentlichen Gewichtskontrollen entsprechend den Mutterschafts-Richtlinien sollen bei querschnittgelähmten Schwangeren regelmäßige, mindestens jedoch 2-malige paraplegiologische und neurourologische Verlaufskontrollen im 2. und 3. Trimenon in einem Querschnittgelähmten-Zentrum erfolgen.


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2.1.6  Veränderungen der Mobilität/Statik

Zur Sicherstellung der Mobilität soll frühzeitig für Alternativen, z. B. Rutschbrett, mobilen Lifter oder eine (weitere) Hilfskraft gesorgt werden.


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2.1.7  Thrombose

Da Thrombosen bei schwangeren Frauen mit QSL häufiger auftreten als bei Frauen ohne QSL, soll eine Thromboseprophylaxe unter Berücksichtigung der Risikofaktoren erfolgen (siehe Abschnitt 2.6. in der Langfassung der Leitlinie).


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2.1.8  Atmung

Da bei Tetraplegie und hoher Paraplegie das Risiko einer respiratorischen Insuffizienz im 2. und 3. Trimenon steigt, sollte frühzeitig mit einer individuellen, physiotherapeutisch unterstützten Atemtherapie gegengesteuert werden. Der Einsatz von Atemtherapiegeräten, mechanischen Abhusthilfen (In-/Exsufflatoren) und einer nicht invasiven Atemunterstützung/Beatmung während der Schwangerschaft sollte in Betracht gezogen werden.


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2.1.9  [Tab. 6] gibt eine Übersicht möglicher Komplikationen im Schwangerschaftsverlauf und deren Management

Tab. 6 Komplikationsmanagement im Schwangerschaftsverlauf.

1. Trimenon

2. Trimenon

3. Trimenon

Management

Vegetativum

autonome Dysreflexie

autonome Dysreflexie

autonome Dysreflexie

  • Triggerreiz beseitigen

  • Oberkörperhochlagerung

  • Antihypertonika

  • ggf. PDA peripartal

Harntrakt

Harnwegsinfektionen

Harninkontinenz

Harnwegsinfektionen

Harninkontinenz

Pyelonephritis

Harnsteinbildung

Harnwegsinfektionen

Harninkontinenz

Pyelonephritis

Harnsteinbildung

  • HWI-Prophylaxe nach Pyelonephritis

  • ggf. häufigeres Selbst- oder Fremdkatheterisieren

  • ggf. (vorübergehend) Dauerkatheter

Darm

Obstipation

Obstipation

  • Obstipation

  • Beeinflussung von Häufigkeit der Darmentleerung durch Druck auf den Darm

  • erschwerte Positionierung zur Defäkation

  • Anpassung der Ernährung/Flüssigkeitszufuhr

  • Darmmanagement medikamentös und nach Stuhlkonsistenz anpassen

  • ggf. Assistenz notwendig

Haut

↑ Dekubitusgefahr

↑ Dekubitusgefahr

  • ↑ Gewichtsverlagerung/Entlastung

  • regelmäßige Hautkontrolle

  • ↓ Transfers

  • Hilfsmittelanpassung (Kissen, Matratze, Duschstuhl, ggf. Lifter)

Gewicht

↑ Gewicht

↑ Gewicht

  • ausgewogene Ernährung

Mobilität

  • eingeschränkte Beweglichkeit und veränderte Balance durch veränderte Körperproportionen

  • Müdigkeit, geringere Belastbarkeit

  • Einstellungsanpassungen am manuellen Rollstuhl (Position der Achse, Rückenlehne, ggf. Stützräder)

  • evtl. (leihweise) Elektrorollstuhl oder andere Motorunterstützung an den manuellen Rollstuhl (z. B.: WheelDrive, Smoov etc.) sinnvoll

Spastik

↑ Spastik

  • intensive Physiotherapie zur Kontrakturprophylaxe

  • Vermeidung von Spastik-Auslösern

Lungenfunktion

Einschränkung von Atemzugvolumen und Vitalkapazität

Dyspnoe

Abnahme des effektiven Hustenstoßes

  • Atem-/Physiotherapie

  • Atemunterstützung durch Überdruckinhalation, CPAP-Anwendung oder einer nicht invasiven Beatmung (NIV)

  • Einnahme von Sekretolytika

tägliche Aktivitäten

eingeschränkte Selbstständigkeit bei Transfers, Anziehen etc.

  • tägliche Aktivitäten mit Babybauch vorher üben (Ball unter dem T-Shirt)

  • mehr Zeit einplanen

  • Hilfsmittel organisieren bzw. anpassen


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3  Beratung

3.1  Kontrazeptionsberatung

Empfehlung Kontrazeption bei QSL:

  • Desogestrel 75-Mikrogramm-Präparate

  • hormonhaltige intrauterine Pessare

  • gestagenhaltige Stäbchen (Implantate)

  • in Einzelfällen kombinierte Kontrazeptiva


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3.2  Präkonzeptionelle Beratung

Die präkonzeptionelle Beratung sollte durch eine*n Gynäkolog*in in enger Abstimmung mit dem/der behandelnden Paraplegiolog*in bzw. Neurourolog*in koordiniert werden. Eine unmittelbare Anbindung an ein Querschnittgelähmten-Zentrum soll frühzeitig erfolgen (siehe Checkliste [Tab. 7])

Tab. 7 Präkonzeptionelle Checkliste.

präkonzeptionell:

1. neurologische und orthopädische Stabilität

2. Überprüfung/ggf. Pausieren von Medikamenten

3. Folsäuregabe

4. Harnblasenmanagement

5. Darmmanagement

6. Vorhandensein von Implantaten beachten

Schwangerschaft:

7. Vorbeugung Thrombose

8. Hilfsmittelanpassung

9. Vorbeugung Dekubitus

10. Achtung: autonome Dysreflexie

11. Achtung: Harnwegsinfekte

12. Schulung: Erkennen von Wehenzeichen und Komplikationen

13. Geburtstermin anpassen

Neben folatreicher Ernährung soll eine Folsäuresubstitution möglichst 2 – 3 Monate präkonzeptionell erfolgen und sollte während des 1. Trimenons beibehalten werden.

Dosierung bei Frauen mit Querschnittlähmung: 0,4 mg Folsäure/d.

Dosierung bei Frauen mit Spina bifida oder Neuralrohrdefekten: 5 mg Folsäure/d.


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4  Schwangerschaftsplanung

4.1  Medikamentöse Therapie

Prinzipiell ist die regelmäßige engmaschige Überprüfung der Indikation der medikamentösen Therapie durch den/die Gynäkolog*in bzw. Paraplegiolog*in erforderlich. Unabhängige Beratung durch Charité „Embryotox“, Tel. 030/450-525700 oder www.embryotox.de

Es sollten 4 – 8-wöchentliche Urinkontrollen inklusive Urinkultur via Katheter-Urin erfolgen. Zusätzlich sollten Sonografie des Harntraktes und ggf. laborchemische Untersuchungen erfolgen.

Zur Vermeidung einer Pyelonephritis sollte eine testgerechte antibiotische Therapie bei querschnittgelähmten Schwangeren auch bei asymptomatischer signifikanter Bakteriurie und Leukozyturie erfolgen. Damit soll einer infektinduzierten Frühgeburtlichkeit vorgebeugt werden, insbesondere da Symptome einer Pyelonephritis lähmungsbedingt reduziert bzw. nicht vorhanden sein können.

Prinzipiell soll eine länger dauernde (7 – 10 d) und höher dosierte antibiotische Therapie durchgeführt werden. Eine Kurzzeittherapie bei Schwangeren mit QSL soll nicht erfolgen.

Eine antibiotische Dauerprophylaxe bei Schwangeren mit QSL sollte bei fehlender Evidenz und bei Gefahr der Verschlechterung der Resistenzlage nicht erfolgen. Nach Pyelonephritis oder rezidivierenden Harnwegsinfektionen sollte eine antibiotische Dauerprävention eingeleitet werden.

Die Entscheidung, eine antibiotische Therapie einzuleiten, ist in jedem Fall streng und individuell zu stellen. Immer soll vor einer Antibiotikatherapie eine Urinkultur mit Antibiogramm angelegt werden. Nach der Therapie einer Pyelonephritis in der Schwangerschaft soll eine Urinkultur zur Sicherung des Therapieerfolgs durchgeführt werden.

Als Mittel der 1. Wahl sollen Betalaktam-Antibiotika zum Einsatz kommen. Am besten untersucht sind Penicilline und Cephalosporine auch in Kombination mit einem Betalaktamase-Hemmer.

Als Antibiotika der 2. Wahl sollte Nitrofurantoin angewendet werden. Am Ende der Schwangerschaft sollte eine Therapie mit Nitrofurantoin möglichst vermieden werden.

Anticholinergika sollten bei tolerablen vesikalen Druckverhältnissen – insbesondere im 1. Trimenon – abgesetzt werden.

Bei strenger Indikationsstellung ist eine anticholinerge Therapie aber möglich, vorzugsweise mit Oxybutynin.

Alternative: präkonzeptionelle Botulinumtoxin-Injektion in den Detrusor vesicae.

Antispastika sollten schrittweise reduziert und abgesetzt werden.

Kurzfristiger Einsatz von Diazepam ist möglich.

Bei bereits vor der Schwangerschaft bestehender schwer einstellbarer bzw. therapierefraktärer pflege- und therapiebehindernder spinaler Spastik kann die Implantation einer Medikamentenpumpe zur intrathekalen Applikation vor Eintritt der Schwangerschaft in Erwägung gezogen werden (siehe auch Abschnitt 2.4.4. in der Langfassung der Leitlinie).

Paracetamol gilt als Analgetikum und Antipyretikum der 1. Wahl in allen Phasen der Schwangerschaft. Maximale Tagesdosis: 3 g.

Pflanzliche Abführmittel wie Anthrachinon-Derivate (Senna, Rhabarberwurzel, Faulbaumrinde, Aloe), Paraffinum und Rizinusöl sollten nicht verwendet werden.

Die Darmpassage unterstützend sollten ballaststoffreiche Kost, ggf. zusätzlich Lactulose als „Weichmacher“ eingesetzt werden. Bei hartnäckiger Obstipation kann Natriumpicosulfat kurzfristig angewendet werden.

Die digitale Stimulation und ggf. digitale Ausräumung sollten primär zur Entleerung der Ampulle eingesetzt werden. Zur Unterstützung der rektalen Entleerung sind CO2-haltige Zäpfchen unbedenklich.

Sekretolyse sollte durch Inhalation mit hyperosmolarer Kochsalzlösung (NaCl 5 – 10%) mit ausreichender Flüssigkeitszufuhr als Mittel der 1. Wahl erfolgen.

Der Einsatz von Bronchodilatatoren und Sekretolytika unterliegt einer strengen Indikationsstellung unter sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung. Mittel der Wahl sind Salbutamol und Ipratropiumbromid bzw. Ambroxol und Acetylcystein. Hypoxien und Atemnot sind strikt zu vermeiden.

Ausgewählte relevante Medikamente werden in [Tab. 8] aufgezeigt.

Tab. 8 Übersicht ausgewählter relevanter Medikamente.

Medikament

Schwangerschaft

Antihypertonika

Alpha-Methyldopa

selektive β-1-Rezeptorblocker (Metoprolol)

Nifedipin

Diuretika

ACE-Hemmer

Angiotensin AT1-Antagonisten

Mittel der 1. Wahl

einsetzbar

einsetzbar

kontraindiziert

kontraindiziert

kontraindiziert

Antikoagulanzien

Cumarinderivate

Heparine/niedermolekulare Heparine

direkte orale Antikoagulanzien (DOACs)

kontraindiziert

einsetzbar

kontraindiziert


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4.2  Implantate

Trotz fehlender Studienlage, insbesondere bei querschnittgelähmten Schwangeren mit SNM, empfiehlt die Leitliniengruppe die Beibehaltung der Aktivierung des sakralen Neuromodulators während der Schwangerschaft.

Der künstliche Blasenschließmuskel soll vor der vaginalen Geburt und bei Einlage von transurethralen Dauerkathetern immer deaktiviert werden. Ein einfaches Leeren der Manschette reicht nicht aus.

Bei Z. n. urethralem Sphinkterersatz soll die Indikation zur primären Sectio in Ermangelung aussagekräftiger Literaturdaten und einer potenziellen Schädigung von Urethra, Blase und des eingesetzten Sphinkters großzügig gestellt werden.


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4.3  Thromboseprophylaxe

Eine generelle Thromboseprophylaxe sollte ab der 28. SSW bis 6 Wochen nach der Geburt erfolgen. Bei zusätzlichen Risikofaktoren sollte eine Prophylaxe in der gesamten Zeit der Schwangerschaft und im Wochenbett bis 6 Wochen postpartal durchgeführt werden. Niedermolekulare Heparine (NMH) gelten als Medikament der Wahl. Zusätzlich: regelmäßiges Hochlagern der Beine, kalte Beinduschen, vermehrte passive oder aktive Bewegung und Tragen von Stützstrümpfen.


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5  Schwangerschaft und Geburt

Bei Gefahr einer autonomen Dysreflexie soll eine verlängerte Kreißsaal-Überwachung mit engmaschiger Vitalzeichenkontrolle bzw. ein erweitertes kontinuierliches Monitoring unter PDK bzw. PCEA für 48 h erfolgen.

Wenngleich eine QSL per se keine Indikation zu einer Sectio darstellt, sollten die individuelle Situation der Schwangeren, ihre Wünsche, Chancen und Risiken in einem individuellen Geburtsplanungsgespräch in der Geburtsklinik besprochen werden.

Die QSL einer schwangeren Frau stellt per se keine Indikation zur Durchführung einer Sectio dar.


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6  Versorgung im Wochenbett

Bei zwingender Indikation einer in der Stillzeit kontraindizierten Medikation sollte der Rat zum Abstillen erfolgen ([Tab. 9]).

Tab. 9 Medikamentenauswahl in der Stillzeit.

Medikament

Stillzeit

* grundsätzlich unter guter Beobachtung des Kindes

Antispastika

Baclofen

keine Anwendung

Diazepam

relativ kontraindiziert, kurzzeitig als Einzelgaben möglich

Anticholinergika

Oxybutynin (1. Wahl)

Einsatz unter strenger Indikationsstellung

Trospiumchlorid, Propiverin

Einsatz unter strenger Indikationsstellung

Botulinumtoxin

soll nicht eingesetzt werden

Schmerzmedikamente

Paracetamol

Mittel der 1. Wahl

Ibuprofen

Mittel der 1. Wahl

Metamizol

möglichst vermeiden, einzelne Dosen möglich

Antiepileptika

Gabapentin*

Monotherapie möglich

Pregabalin*

niedrig dosierte Monotherapie möglich


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Interessenkonflikt

Die Interessenkonflikte der Autoren sind in der Langfassung der Leitlinie aufgelistet.


Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Markus Schmidt
Sanakliniken Duisburg
Zu den Rehwiesen 3 – 9
47055 Duisburg
Germany   

Publication History

Received: 14 November 2024

Accepted: 25 November 2024

Article published online:
05 March 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany


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