Psychiatr Prax 2025; 52(02): 68-69
DOI: 10.1055/a-2515-5669
Debatte: Pro & Kontra

Psychiatrische Vorsorgedokumente – schafft Digitalisierung die erhoffte Akzeptanz? – Kontra

Authors

  • Florian Wurster

 

Kontra

Unabhängig von den dargestellten Argumenten, welche für die Digitalisierung psychiatrischer Vorsorgedokumente (engl. “Psychiatric Advance Directive”, kurz: PAD) und eine Anbindung an die elektronische Patientenakte (ePA) der gesetzlichen Krankenversicherungen sprechen, offenbart eine tiefergehende Betrachtung jedoch zum jetzigen Zeitpunkt, dass bestehende Herausforderungen, z. B. beim Erstellen, dem Zugang und der tatsächlichen Berücksichtigung des PADs im akuten Behandlungsfall, auch im digitalen Format weitestgehend bestehen bleiben [1].

Diese Aspekte würden mit der Integration von PADs in die ePA jedoch zusätzlich ergänzt um technische oder rechtliche Hürden, die den ohnehin schon herausfordernden Umgang mit PADs unnötig komplexer machen würden.

Psychische Erkrankungen sind nach wie vor mit einem außerordentlichen Stigmatisierungsrisiko verbunden. Anders als bei allgemeinen medizinischen Daten kann die Offenlegung einer möglichen psychischen Erkrankung unbeabsichtigte nachteilige Folgen für die Betroffenen haben. Hier sei insbesondere auf das Phänomen des Overshadowings hingewiesen, also das Überlagern der dominanten psychischen Diagnose bei der Gesamtperspektive auf eine Person und die abgeleitete Behandlung. Die Offenbarung der psychischen Erkrankung bedingt daher das Risiko einer möglichen Fehlversorgung in der somatischen Versorgung [2].

Anders als z. B. für Laborwerte, die automatisch in der ePA gespeichert werden sollen, gilt für die behandelnden Berufsgruppen im psychiatrischen Kontext daher eine besondere Belehrungspflicht über das Widerspruchsrecht von Nutzenden (NU), ob Dokumente, die auf einen psychiatrischen Behandlungskontext schließen lassen, in der ePA hinterlegt werden sollen.

Diesbezüglich ist es gegenwärtig jedoch nicht möglich, spezifische in der ePA hinterlegte Dokumente wie ein PAD nur für einzelne Akteure, wie den behandelnden Psychiater oder behandelnden Psychotherapeuten, freizugeben. Diese mangelnde Granularität bedeutet im Umkehrschluss, dass die in der ePA hinterlegten PADs für alle Akteure im Gesundheitswesen freigegeben werden müssen, die potentiell Einsicht in die ePA nehmen können, mit den einhergehenden beschriebenen Risiken. Anders als analoge PADs würde die Digitalisierung dieser Dokumente daher ein Abwägen der NU erzwingen, zwischen dem Wunsch nach einem PAD mit der Möglichkeit der Einflussnahme auf die Behandlung im Falle eines psychiatrischen Notfalls und dem bedingungslosen Offenlegen der psychiatrischen Erkrankung, was im direkten Widerspruch zum Prinzip der informationellen Selbstbestimmung steht.

Hat sich nun eine NU dafür entschieden, die psychische Erkrankung vollumfänglich offenzulegen, ist damit jedoch nicht gesichert, dass das in der ePA hinterlegte PAD im akuten psychiatrischen Notfall auch tatsächlich Beachtung findet. Dieser Umstand ist zumindest in Teilen bedingt durch die aktuell noch mangelnden technischen Standards und Interoperabilität [3]. So sieht die ePA sogenannte Medizinische Informationsobjekte (MIO) vor, die z. B. die Struktur, den Inhalt und das Format eines Dokuments vorgeben. MIOs basieren auf dem international zum Austausch von Gesundheitsdaten etablierten Standard FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources). Dies ermöglicht eine standardisierte Anzeige des entsprechenden Dokuments in der vorgegebenen Ordnerstruktur der ePA und eine automatisierte Erfassung der hinterlegten Informationen durch verschiedenste Software. Entsprechend schnell auffindbar und interpretierbar sind Dokumente, die als MIO programmiert sind. Ein Beispiel für ein erfolgreich umgesetztes MIO ist der elektronische Medikationsplan, der unter anderem stets die aktuellen Informationen zu verordneten Arzneimitteln, Dosierungen und Behandlungsgründen umfasst. Da der elektronische Medikationsplan als MIO bereitgestellt wird, befindet sich dieser für alle NU, unabhängig der zugrunde liegenden Krankenkasse oder Erkrankung an der gleichen Stelle der Ordnerstruktur, formuliert die verordnete Medikation stets im einheitlichen Format, etc.

Für PADs existiert ein solches MIO zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht. Zwar ist mittelfristig die Entwicklung eines MIO Notfalldatensatzes geplant, der unter anderem auch Informationen zu relevanten psychiatrischen Vorerkrankungen, aktuell verordneten Psychopharmaka oder bekannten Allergien enthalten soll. Der Notfalldatensatz soll jedoch keine expliziten, die psychiatrische Versorgung betreffende Informationen, wie mögliche präferierte Ausprägungen von Zwangsmaßnahmen bei akuter Selbstgefährdung, etc. enthalten.

Zwar ist es sowohl den behandelnden Berufsgruppen, als auch den NU sehr wohl möglich, auch Dokumente, die nicht als MIO bereitgestellt werden können, in der ePA zu hinterlegen. So könnten klinikspezifische PADs als PDF o.ä. in der ePA hinterlegt werden. Diese würden jedoch im akuten Anwendungsfall manuell von den Behandelnden in der Ordnerstruktur gesucht werden müssen, da ohne MIO die einheitliche Ablage nicht gewährleistet wäre. Auch müssten die im PAD aufgrund der fehlenden Standardisierung ungeordneten, ggf. als Fließtext enthaltenen Informationen im Detail gelesen und interpretiert werden.

Weiterhin gibt es für die ePA keine so genannte anlasslose Ausforschungspflicht für die behandelnden Berufsgruppen. Psychiater und Psychotherapeuten sind bei der akuten Behandlung eines psychiatrischen Notfalls also nicht verpflichtet, sämtliche in der ePA ungeordnet hinterlegten Dokumente zu durchsuchen und daraufhin zu prüfen, ob ggf. für die Behandlung relevante Informationen vorliegen. Da PADs aktuell nicht als MIO bereitgestellt werden, ist die Wahrscheinlichkeit daher hoch, dass entsprechende Dokumente nicht direkt als solche ersichtlich sind, oder in der akuten, zeitkritischen Behandlungssituation schlicht übersehen werden.

Wenn das PAD trotz widriger Umstände im akuten Anwendungsfall nun Anwendung finden soll, so wird der rechtlich verbindliche Charakter des Dokuments aufgrund der o.g. fehlenden Standards auf den ersten Blick jedoch nicht eindeutig feststellbar sein. Unterschiedliche Dokumente wie Krisenpässe, Behandlungsvereinbarungen oder Patientenverfügungen könnten subsumiert als PAD in der ePA hinterlegt werden und unter Zeitdruck ggf. nicht direkt voneinander abgrenzbar sein. Zwar zielen alle genannten Dokumente darauf ab, das Selbstbestimmungsrecht der NU in einer psychiatrischen Krise bestmöglich zu gewährleisten. Als für die Behandler rechtlich verbindlich kann jedoch nur das in einer (psychiatrischen) Patientenverfügung Festgehaltene erachtet werden [4].

Dass unter Umständen auch eine Behandlung gegen den in einer Patientenverfügung dokumentierten Willen eines NU bei akuter Fremd- oder Eigengefährdung notwendig und rechtlich zulässig sein kann, sei aus Gründen der Komplexitätsreduktion an dieser Stelle ausgeklammert. Der ohnehin herausfordernde Umgang mit diesen Dokumenten im akuten Anwendungsfall wird jedoch erschwert um den Umstand, dass eine Patientenverfügung nur mit eigenständiger Unterschrift des NU Gültigkeit besitzt. So wird weiterhin empfohlen, digitale Dokumente auszudrucken, händisch zu unterschreiben und als Scan erneut zu digitalisieren. Entsprechend zeitaufwändig und fehleranfällig kann das Prüfen dieser digitalen Dokumente hinsichtlich der Rechtskräftigkeit ausfallen. Zwar können auch bestimmte qualifizierte elektronische Signaturen unter Umständen rechtlichen Bestand haben. Aus der Literatur ist jedoch bekannt, dass NU mit vorangegangener, unfreiwilliger psychiatrischer Behandlung häufig nur eingeschränkten Zugang zu den notwendigen technischen Voraussetzungen haben und ihnen häufig auch die entsprechende Digitalkompetenz fehlt [5], anspruchsvolle qualifizierte elektronische Signaturen umzusetzen.

Als abschließendes Urteil ist es zum aktuellen Zeitpunkt fraglich, ob die Integration psychiatrischer Vorsorgedokumente in die ePA den erhofften Mehrwert tatsächlich gerecht werden kann. Bestehende Herausforderungen analoger Dokumente werden nicht vollumfänglich gelöst, vielmehr ergeben sich weitere Aspekte, die den sicheren Umgang mit PADs für alle beteiligten Akteure erschweren. Ein zumindest paralleles Festhalten am analogen Format scheint zum aktuellen Zeitpunkt daher noch unverzichtbar.


Florian Wurster

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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Florian Wurster, M.Sc.
Universität zu Köln
Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft
Lehrstuhl für Qualitätsentwicklung und Evaluation in der Rehabilitation
Eupener Str. 129
50933 Köln
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
12. März 2025

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