Psychiatr Prax 2025; 52(04): 181-183
DOI: 10.1055/a-2517-5778
Editorial

Psychiatrische Begriffe werden populär – mit Folgen?

Psychiatric Terms are Getting Popular – with Implications?
Stefan Priebe
 

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ schrieb Wittgenstein [1] und deutete damit an, dass all unser Denken und Erleben eng mit der Bedeutung der Wörter verbunden ist, die wir in unserer Sprache benutzen. Was bestimmte Wörter bedeuten, ist allerdings nicht für alle Zeiten festgelegt, sondern kann sich ändern. Um noch einmal Wittgenstein zu zitieren: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ [2]. Wenn Begriffe mit der Zeit anders gebraucht werden, dann bedeuten sie eben auch etwas anderes, ob das der Sprachgemeinschaft insgesamt oder einzelnen Sprechern nun gefällt oder nicht.

Eine häufige Veränderung ist die Bedeutungserweiterung: Wörter, die eine relativ enge Bedeutung hatten, werden quasi inflationär benutzt, erweitern ihre Bedeutung und verdrängen andere Wörter aus dem Gebrauch. Ein Beispiel ist das Wort ‚lieben‘. Während man in der weiteren Vergangenheit vorrangig seinen Partner, seine Eltern und Kinder und ggf. vielleicht auch sein Vaterland ‚liebte‘, kann man heute auch seinen Morgenkaffee, eine bestimmte Buslinie oder eine Duftkerze ‚lieben‘, eine Veränderung, die im Englischen ‚love‘ wohl noch deutlicher ist als im Deutschen. Die Differenzierung zwischen ‚mögen‘ oder ‚gefallen‘ und ‚lieben‘ verblasst, und wer sein Wohlgefallen für Morgenkaffee oder Duftkerze mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen möchte, ‚liebt‘ halt diese Dinge.

Was hat das mit der Psychiatrie zu tun? Auch einige unserer (Fach-)Begriffe zeigen eine ähnliche Tendenz. Sie werden inflationär gebraucht, erweitern ihre Bedeutung und drängen in die Alltagssprache. So werden im täglichen Sprachgebrauch Menschen seltener als niedergeschlagen, betrübt, gedrückter Stimmung oder traurig bezeichnet, sondern eher als ‚depressiv‘. Wer von seiner Arbeit müde, ausgelaugt oder erschöpft ist oder sein Interesse an seinem Job verloren hat und unmotiviert geworden ist, ist in der Alltagssprache in der Regel ‚burnt out‘ (und sehr selten ‚ausgebrannt‘, was deutsch und vor allem kein psychiatrischer Fachbegriff ist). Und von unangenehmen Ereignissen fühlen sich Menschen weniger verletzt, beleidigt oder angegriffen, sondern häufig ‚traumatisiert‘. Auch der Begriff des Traumas selbst, in den ersten Definitionen der Post-Traumatischen Belastungsstörung noch lebensbedrohenden oder schwer verletzenden Erlebnissen vorbehalten, wird heutzutage viel weiter verwendet und kann auch nicht-verletzende Berührungen oder unerwünschte Komplimente bezeichnen [3]. Dass Wörter in solch inflationärer Weise ihre Bedeutung verändern, ist ein wertfrei zu konstatierender Fakt. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Wörter übrigbleiben, um die frühere, viel engere Bedeutung von lieben, depressiv oder traumatisiert wiederzugeben und ob die Sprache in ihren Differenzierungsmöglichkeiten und ihrer Präzision verarmt.

Insbesondere psychiatrische Diagnosebegriffe scheinen populärer geworden zu sein. In weitem Sprachgebrauch sind Personen nicht nur depressiv, sondern ‚haben‘ eine Depression. Sie haben nicht etwas Schlimmes erlebt und leiden darunter, sondern ‚haben‘ eine Post-Traumatische Belastungsstörung. Sie sind nicht nur ängstlich und übervorsichtig, sondern ‚haben‘ eine Angststörung. Sie sind nicht ruhelos und können sich schlecht konzentrieren, sondern ‚haben‘ eine Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung. Diese Begrifflichkeit folgt dem Modell der somatischen Medizin, so als wären eine Depression und eine Angststörung materielle Entitäten, wie etwa ein Tumor oder ein Entzündungsprozess, die man ‚haben‘ und dann eventuell auch entfernen oder zumindest ‚loswerden‘ könnte.

Man kann – zurecht – wissenschaftlich darauf hinweisen, dass psychiatrische Diagnosen eben nicht materielle Entitäten abbilden, sondern – hilfreiche und vielleicht notwendige – soziale Konstrukte von Fachleuten sind, um das Verhalten und Erleben von psychisch leidenden Menschen zu erklären, einzuordnen und eventuell zu beeinflussen [4]. Aber solche Hinweise werden den Vormarsch psychiatrischer Diagnosebegriffe in der Gesellschaft kaum aufhalten.

Die Debatte um die öffentliche Bewertung psychiatrischer Diagnosen war in den letzten Jahrzehnten vom Begriff des Stigmas bestimmt. Natürlich sind verschiedene Diagnosen, wie z. B. die Schizophrenie oder noch mehr die Drogenabhängigkeit, weiterhin äußerst negativ besetzt, und Menschen mit solchen und auch anderen psychiatrischen Diagnosen können Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren. Gleichzeitig scheinen aber zumindest einige Diagnosen auch eine gewisse Attraktivität zu haben und mit einer moralischen Aufwertung verbunden zu sein. Eine psychiatrische Diagnose kann von der Verantwortung für ein mögliches Versagen befreien und davor schützen, dass betroffene Personen wegen ihrer Probleme entwertet werden. Eltern können sich entlastet fühlen, wenn schulische Fehlleistungen oder Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder als Zeichen einer psychischen Störung diagnostiziert werden und somit erklärt zu sein scheinen. Wer eine psychiatrische Diagnose hat, verdient Schutz und Zuwendung, kann zu einer bevorzugten Behandlung in Prüfungssituationen berechtigt sein, und hat natürlich auch Anspruch auf professionelle Hilfe im Gesundheitssystem. Dieser Anspruch scheint sich noch zu erhöhen, wenn man gleich mehrere Diagnosen ‚hat‘ und diese quasi aufaddiert. So wurde in einer politischen Stellungnahme zur Berechtigung der gegenwärtigen psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland damit argumentiert, dass 50% der Psychotherapiepatienten gleich vier oder sogar noch mehr Störungen hätten und 37% immerhin noch zwei oder drei Störungen und nicht bloß eine [5].

Im Gegensatz zu der bisher beschriebenen Tendenz gibt es auch Beispiele dafür, dass psychiatrische Diagnosebegriffe aufgrund einer negativen moralischen Bewertung eine weitere Verbreitung erfahren können und die so diagnostizierten Menschen nicht auf- sondern abwerten. So kann man Äußerungen gegen Fremde, Muslime oder Homosexuelle natürlich aus verschiedenen Gründen unakzeptabel finden und ablehnen. Wenn solche Äußerungen aber als xenophobisch, islamophobisch oder homophobisch bezeichnet werden, erhalten sie auch noch eine quasi krankhafte Note. Sie sind dann nicht nur als falsch, sondern von vornherein als pathologisch disqualifiziert. Der Begriff der Phobie wird dabei großzügig verwendet, obwohl in den meisten Fällen die Kriterien der Diagnose mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gegeben sind und sich ohnehin kaum überprüfen lassen.

Welche Faktoren auch immer eine Rolle spielen, das Phänomen der Popularisierung psychiatrischer Begriffe erscheint deutlich und in den letzten Jahren wohl auch zunehmend. Was bedeutet das nun für die Psychiatrie selbst?

Man kann den gesellschaftlichen Vormarsch psychiatrischer Diagnosebegriffe als einen Erfolg psychiatrischer Aufklärung sehen, als ein Zeichen, dass das Stigma psychiatrischer Erkrankungen allmählich überwunden wird, und dass sich der Sprachgebrauch an die Realität anpasst. Schließlich wird seit Jahrzehnten berichtet, dass in methodisch anspruchsvollen epidemiologischen Studien 25% oder mehr der Gesamtbevölkerung eine psychische Erkrankung haben. So berichtet die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) [6], dass in Deutschland zur Zeit in jedem Jahr 27,8% der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Störung betroffen sind, von denen aber nur 18,9% Kontakt zu Behandlern aufnehmen. Wenn dem so ist, dann könnte es nur zu begrüßen sein, dass psychiatrische diagnostische Begriffe sich weiter verbreiten und mehr Menschen bereit sind, eine oder gar mehrere psychiatrische Diagnosen für sich und auch für ihre Kinder zu akzeptieren. Diese positive Interpretation ist legitim und erscheint in sich schlüssig. Ich persönlich habe mich allerdings immer gewundert, wie kritiklos die oben genannten Zahlen zur Prävalenz psychischer Störungen seit Jahren kolportiert werden und wie leicht man dann auf eine Behandlungslücke (‚treatment gap‘) zu schließen glaubt. Was folgt aus den Zahlen, und welche Vision ergibt sich aus ihnen für die Psychiatrie und die Gesellschaft insgesamt? Bedeuten die Zahlen der DGPPN, dass die Kapazität psychiatrischer Versorgung mindestens verfünffacht werden müsste, um den Bedarf an Behandlern zu decken? Und da bei weitem nicht alle Behandlungen zum Erfolg führen und die Erkrankungen beseitigen, welche Folgen hätte eine solche massive Versorgung für die Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung? Was würde sich ändern? Und falls viele der >80% der psychisch Kranken, die zur Zeit keinen Behandler kontaktieren, vielleicht auch ohne Behandlung gut durchs Leben kommen, wer kann dann versichern, dass die 18,9%, die eine Behandlung suchen, das auch tun sollten, und ob wir nicht eher eine Überversorgung haben? Diese Fragen lassen sich kaum beantworten, führen aber zu weiteren Fragen: Sollte man nicht die Zahlen eher zum Anlass nehmen, den Sinn der gängigen psychiatrischen Krankheitskonstrukte und der entsprechenden Erhebungsmethoden für eine gesamtgesellschaftliche Perspektive psychischen Leidens zu hinterfragen? Sollte man die Konstrukte und Methoden nicht vielleicht so überarbeiten, dass sie zu praktikablen und erfolgversprechenden Visionen führen, wie eine Gesellschaft insgesamt psychisches Leiden vermindern kann?

Der inflationäre Gebrauch psychiatrischer Diagnosebegriffe kann aus zumindest zwei Gründen Sorgen machen:

Zum einen kann ein durch moralisch besetzte Begriffe erhobener Anspruch auch immer leicht zu Gegenreaktionen führen. Man muss nur an die hitzigen Debatten zu ‚Wokeness‘ und zur ‚Cancel Culture‘ denken [3], um zu befürchten, dass Menschen mit psychiatrischen Diagnosen vielleicht nicht nur Mitleid und Zuwendung, sondern auch heftige emotionale Ablehnung erfahren könnten, wenn man vermuten sollte, dass sie sich unberechtigt Vorteile verschaffen.

Zum anderen stärkt ein ubiquitärer Gebrauch psychiatrischer Begriffe eine Tendenz, jedes menschliche Leiden als ein Problem psychischer Gesundheit zu sehen. Wenn jedes Elend und jedes Unwohlsein mit psychiatrischen Begriffen beschrieben werden, dann besteht die Gefahr, dass die schwer psychisch Kranken – wieder einmal – vernachlässigt werden, von der Gesellschaft insgesamt und von den professionellen Versorgungseinrichtungen.

Wörter sind selten neutral, und wenn sich die Bedeutung und der Gebrauch psychiatrischer Begriffe ändern, ergeben sich neue Herausforderungen. Die psychiatrische Fachgemeinschaft sollte diese vielleicht diskutieren.


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Stefan Priebe

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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Stefan Priebe
Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universität Hamburg
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Eppendorf
20246 Hamburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
14 May 2025

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