physiopraxis 2025; 23(04): 22-27
DOI: 10.1055/a-2518-6416
Therapie

Von der Spastik zum UMNS – Kritische Reflexion des Spastik-Begriffs

Martin Huber
 

Studien belegen, dass die klassische Spastik-Definition und daraus abgeleitete Tests weder klinisch noch funktionell relevant sind. Ein Plädoyer für die Nutzung des Begriffs „Upper-Motor-Neuron-Syndrom“ – denn nur die Gesamtschau aller Symptome ist zielführend.


Zoom
Hintergrund: © solvod/stock.adobe.com

Verwenden Sie in Ihrem Alltag den Begriff „Spastik“? Welche klinischen Symptome möchten Sie damit im Detail beschreiben? Sie haben sicherlich schon eine Person nach einem Schlaganfall beobachtet, die beim Aufstehen den Ellenbogen auf der betroffenen Seite gebeugt hat. Aber ist es korrekt, diese Flexion als Spastik zu bezeichnen?

Spastik: eine inflationäre Worthülse

Der Spastik-Begriff ist stark mit Neurorehabilitation assoziiert und wird im klinischen Alltag (allzu) oft verwendet. Manche Autor*innen bezeichnen ihn sogar als „overused“ [1]. Auf PubMed, der weltgrößten medizinischen Datenbank, waren für den Zeitraum 1919 bis 2019 insgesamt 3592 Publikationen zum Stichwort „Spasticity“ gelistet [2]. Bis heute dürfte sich die Zahl um hunderte Arbeiten erhöht haben. Durch die fast schon inflationäre Nutzung des Begriffs in Literatur und Klinik hat dieser an Definitionsschärfe und Aussagekraft verloren. Marilyn Pacheco, Leiterin der Neurorehabilitation am Edward-Hines-Junior-Hospital in Illinois, bringt es auf den Punkt. Sie sagt, dass „eine klare Definition fehlt“ [3]. Spastik wird häufig als ein „Sammelbegriff“ verwendet [4]. Die Neurologin Marjolaine Baude spricht von einer „Übervereinfachung“, bemängelt ebenfalls die Nutzung als „One-name-fits-all-Begriff“ und rät von der Verwendung ab [1].

Vor diesem Hintergrund kann man sich fragen, wie „Spastik“ überhaupt definiert ist. Welche klinische Bedeutung hat Spastik, oder sollte Spastik umfassender eingeordnet werden, um ihre klinische Relevanz einzuschätzen?


Spastik als Teil des UMNS

Einen Perspektivwechsel bietet das „Upper-Motor-Neuron-Syndrom“ (UMNS, NEUROANATOMIE UND -PHYSIOLOGIE DES UMNS, S. 26). Das UMNS beinhaltet motorische Symptome, die nach Läsionen des 1. motorischen Neurons (oberes Motoneuron) typischerweise auftreten [5]. Eine Verletzung des oberen Motoneurons in Gehirn oder bei Rückenmarkstraumata verändert das Verhalten und die Eigenschaften der Muskulatur. Ursachen sind zum Beispiel Schlaganfälle, Multiple Sklerose, Schädel-Hirn-Trauma oder Rückenmarksverletzungen. Für Betroffene bedeutet dies – je nach Schwere der Läsion mehr oder minder ausgeprägte – Einschränkungen ihrer Bewegungskontrolle. Das UMNS ist ein hilfreiches Modell, um die Veränderungen (auf Körperfunktions-/-strukturebene) differenziert zu beschreiben. Es setzt sich aus drei Symptomen zusammen: Minussymptome, Plussymptome und adaptive Phänomene [6], [7]. Zu den Minussymptomen zählen unter anderem die Kraftminderung, die verminderte Kontraktions- und Dekontraktionsgeschwindigkeit und die verminderte Geschicklichkeit. Plussymptome werden in afferente Symptome wie Spastik und Klonus sowie in efferente Symptome wie assoziierte Reaktionen und spastische (aktionsinduzierte) Dystonie eingeteilt. Adaptive Phänomene umschreiben hingegen intrinsische Veränderungen im Muskelgewebe, also eine veränderte Viskosität, den Verlust an Sarkomeren oder den Umbau von Muskelfasern.

Es ist zeitgemäß, diese verschiedenen Symptome in ihrer Gesamtheit (UMNS) zu betrachten, um im klinischen Kontext ihre relative Bedeutung zu bewerten und daraus abgeleitet geeignete Interventionen auszuwählen. Denn: „Die negativen, die positiven Symptome und die Veränderungen der Viskoelastizität interagieren miteinander“, sie „[…] hängen alle eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig“ [4]. Richtungsweisend hierbei ist der Gedanke, dass Spastik als eine Art Kompensation für Muskelschwäche interpretiert werden kann [8].


Unschärfe der klassischen Definition

Bis heute ist keine Definition des Begriffs „Spastik“ allgemein anerkannt. Angesichts dessen ist sich die Fachwelt der Vagheit und Unschärfe des Begriffs bewusst und versucht, mehr Klarheit zu schaffen. Zwar gibt es die klassische Definition von James W. Lance aus dem Jahr 1980, nach der Spastik folgendermaßen beschrieben wird: „eine motorische Störung, die durch einen geschwindigkeitsabhängigen Anstieg des Tonus gekennzeichnet ist (…), der aus der Übererregbarkeit des Dehnungsreflexes resultiert“ [9]. Der daraus abgeleitete Test ist die schnelle passive Dehnung der Muskulatur. Zur Bewertung der Spastik wird in Praxis und Forschung häufig die Modifizierte Ashworth Scale (MAS) genutzt. Die MAS differenziert lediglich die Reaktion auf das passive Dehnen in sechs Schweregrade (0 = Kein erhöhter Tonus, 6 = Die betroffene Extremität ist rigide in Flexion oder Extension).

Der Nachteil dieser Definitionsart (sogenannte Spastik sensu stricto = Spastik im strengen Sinne) liegt darin, dass die Reaktion des Muskels auf eine schnelle passive Dehnung funktionell und klinisch nicht relevant ist [3]. Deshalb gibt es Vorschläge, den Begriff Muskelüberaktivität oder Plussymptom zu verwenden [4]. Diese Worte beschreiben nicht nur verschiedene Formen der Muskelüberaktivität, sie lassen auch Raum, um sie differenzierter zu betrachten.


Alternativen und Diskrepanzen

2018 schlug die Interdisciplinary Working Group for Movement Disorders vor, zwischen Spastik sensu stricto, Steifheit, Dystonie und Spasmen zu unterscheiden [10]. Ein Jahr später unterteilten der Spastik-Experte Jean-Michel Gracies und sein Team von der Universität Paris-Est den Begriff in spastische Dystonie, spastische Kokontraktion, Spastizität und dehnungssensitive Parese [1]. J. C. van den Noort et al. vom University Medical Center in Amsterdam sprachen 2017 vom „Hyperwiderstand“ – einem spür- und mitunter auch sichtbar erhöhten Spannungszustand der Muskulatur [11]. Diesen Hyperwiderstand unterteilten die Forschenden in:

  • neural bedingt, geschwindigkeitsabhängig („Spastik“)

  • neural bedingt, nicht geschwindigkeitsabhängig („unwillkürliche muskuläre Hintergrundaktivität“)

  • nicht neural bedingt („Muskelsteifheit durch mangelnde Viskoelastizität oder Verkürzung“).

Keiner der drei Ansätze gilt als allgemein akzeptiert, obwohl alle Arbeiten den Begriff Spastik umfassender betrachten als die klassische Definition [1], [10], [11]

Physiotherapeut*innen sollten aufhören, der Spastik übermäßige Aufmerksamkeit zu schenken.

In der Definition von James Lance ist zudem die Rede vom Anstieg des „Tonus“ – einem Begriff, der oft im selben Atemzug mit Spastik verwendet werden. Auch hier stellt sich die Frage: Was bedeutet „Tonus“? Expert*innen definieren den Muskeltonus als Widerstand bei passiver Bewegung [12]. Folglich bewegen Therapeut*innen in der Praxis die Extremitäten und beurteilen damit den Tonus. Allerdings kann ein Hypertonus auch bei aktiven Bewegungen auftreten [13]. Diese Diskrepanz verwischt ebenfalls die Bedeutung des Begriffs „Tonus“. Dazu bleibt unklar, ob die vom Schlaganfall betroffene Extremität aktiv, passiv, schnell oder langsam bewegt werden soll, um ihren Tonus zu prüfen.


UMNS zur Einschätzung der klinischen Relevanz

UMNS bringt Ordnung in das Begrifflichkeitschaos. Alle genannten Worte lassen sich leicht in die UMNS-Kategorien integrieren. Einige können unter Plussymptome, andere unter den adaptiven Phänomenen subsummiert werden. In der Literatur wird UMNS selten verwendet, Kliniker*innen nutzen diese Definition jedoch häufig ([TAB. 1]).

TAB. 1 Die UMNS-Differenzierung in Minus- und Plussymptomatik und adaptive Phänomene ermöglicht die Integration aktueller Ansätze zum Begriff „Spastik“.

UMNS

IAB Working Group [10]

Gracies et al. [1]

van den Noort et al. [11]

Plussymptome

efferent:

  • assoziierte Reaktion

  • spastische Dystonie

  • Kokontraktion

  • Dystonie

  • Spasmen

  • spastische Dystonie

  • spastische Kokontraktion

  • neural bedingter nicht geschwindigkeitsabhängiger erhöhter Widerstand (unwillkürliche muskuläre Hintergrundaktivität)

afferent:

  • Spastik

  • Klonus

  • Spastik im engeren Sinn (Spastik sensu stricto)

  • Spastizität

  • neural bedingter geschwindigkeitsabhängiger erhöhter Widerstand

Adaptive Phänomene

intrinsische Veränderungen des Muskelgewebes:

  • veränderte Viskoelastizität

  • Sarkomerverlust

  • Verkürzung

  • Steifheit

  • nichtneural bedingter erhöhter Widerstand (Muskelsteifheit durch mangelnde Viskoelastizität oder Verkürzung)

Minussymptome

  • Kraftminderung (Muskelschwäche)

  • verminderte Kontraktions- und Dekontraktionsgeschwindigkeit

  • verminderte Geschicklichkeit

  • (dehnungssensitive) Parese

Laut Segal „hängen alle [Anteile des UMNS] eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig“ [4]. Und erst in ihrer Gesamtheit beeinflussen sie die motorische Kontrolle eines Menschen. Um eine Bewegungsstörung also umfassend zu verstehen, müssen die einzelnen Anteile des UMNS – d. h. Plus- und Minussymptomatik sowie adaptive Phänomene – in Relation zueinander gesetzt werden. Wird in Diagnose und Behandlung ausschließlich auf die „Spastik sensu stricto“ fokussiert, bleibt der Behandlungserfolg unvollkommen. So führt eine Therapie der Spastik mit Botulinumtoxin Typ A (Botox-Therapie) nicht per se zu funktionellen Verbesserungen [10], [12]. Denn Muskelschwäche und adaptive Veränderungen sind Hauptfaktoren für Aktivitätseinschränkungen [5], [14]–[16]. Nicht zuletzt deshalb sollten Therapierende damit „aufhören, der Spastik übermäßige Aufmerksamkeit zu schenken“, und stattdessen die funktionell relevanten Impairments behandeln [17].

In der klinischen Praxis hilft also das UMNS beim Abwägen der Einzelsymptome und beim Beurteilen ihrer Relevanz. Das Differenzieren in efferente und afferente Plussymptome erleichtert die Auswahl geeigneter Behandlungsmaßnahmen. In der Praxis ergeben sich unterschiedliche Behandlungsansätze, wenn die Muskelspannung geschwindigkeitsabhängig oder -unabhängig steigt. Im ersten Fall liegt ein afferentes Plussymptom vor, im klinischen Bild imponieren Spastik oder Klonus. Im zweiten Fall zeigt sich hingegen ein efferentes Plussymptom, das sich klinisch als aktionsinduzierte spastische Dystonie oder assoziierte Reaktion manifestiert. Dieser praxisrelevante Unterschied verdeutlicht, warum pauschal nicht mehr von Spastik gesprochen werden sollte, wenn es um die Beschreibung von muskulärer Hyperaktivität, Hypertonus oder Hyperwiderstand geht.


Five-Step-Check und Tardieu-Skala

Im klinischen Alltag lassen sich die Aspekte des UMNS mit relativ wenig Aufwand untersuchen. Nach wie vor am häufigsten in Studien zur Botox-Behandlung eingesetzt wird die erwähnte MAS [18]. Weil die MAS durch das schnelle passive Dehnen lediglich die afferenten Plussymptome wie Spastik und Klonus untersucht, ist sie wenig empfehlenswert. Um sämtliche Gesichtspunkte des UMNS zu analysieren und ins richtige Verhältnis zueinander zu setzen, schlägt Jean-Michel Gracies ein praktikables Fünf-Schritte-Verfahren vor ([TAB. 2]) [19].

TAB. 2 Der praktische Fünf-Schritte-Plan von Jean-Michel Gracies dient als Orientierung bei der Untersuchung des UMNS.

Schritt

Intervention

Untersuchungsgegenstand

Aussage über

1

langsame passive Bewegung

Bewegungsausmaß

adaptive Phänomene (nicht neural bedingt, geschwindigkeitsunabhängig)

2

schnelle passive Bewegung

Spastik, Klonus

afferente Plussymptome (neural bedingt, geschwindigkeitsabhängig)

3

aktive Bewegung

willkürliche Muskelkraft/-aktivierung

Minussymptome

4

schnelle, alternierende Bewegungen

Koordination zwischen Muskelgruppen

5

Tests auf Aktivitätsebene

sitzen, stehen, gehen, reichen, greifen, manipulieren

zielorientierte Aktivitäten

In dieser Aufzählung fehlen Tests für die efferenten Plussymptome (neural bedingt, nicht geschwindigkeitsabhängig). Im klinischen Alltag schließt man diese häufig durch Beobachtungen ein. Typisch sind beispielsweise die assoziierte Reaktion beim Aufstehen und Gehen mit gebeugtem Ellenbogen oder das Überstrecken der Kniegelenke beim Stehen.

Die Tardieu-Skala, als Alternative zur MAS, beurteilt adaptive Phänomene und afferente Plussymptome. Dabei werden das Bewegungsausmaß beim passiven Bewegen in zwei Geschwindigkeiten sowie der dabei auftretende Widerstand untersucht [20]. Im ersten Schritt wird die Muskulatur so langsam wie möglich bewegt, um intrinsische Veränderungen des Muskelgewebes (adaptive Phänomene) zu identifizieren. Anschließend erfolgt die passive Bewegung mit Maximalgeschwindigkeit, um Plussymptome wie Spastik oder Klonus zu provozieren. Für ein vollständiges Bild sollte die Tardieu-Skala um die Testung der Minussymptome ergänzt werden.


Praktische Relevanz und therapeutische Konsequenz

Um die praktische Relevanz und therapeutische Konsequenz, die sich aus dem Begriff „UMNS“, besser zu verstehen, sei vorab erwähnt, dass es viele Belege gibt, die darauf hinweisen, dass die bloße Behandlung der Spastik (sensu strictu) der oberen Extremität mit Botulinumtoxin Effekte bezogen auf die Verringerung des Widerstands gegen passive Bewegungen des Handgelenks und der Finger zeigt [18]. Knackpunkt: Die Botox-Therapie mindert zwar die Spastik, hatte funktionell aber keine Auswirkungen auf die Arm-Hand-Kapazität auf der Aktivitätsebene der ICF. Ähnliches gilt für die Botox-Therapie der unteren Extremität und die Spastikreduzierung für das Gehen [21].

Die aktuelle Forschung weist darauf hin, dass eine Spastik sensu stricto nicht entscheidend für das Durchführen von Aktivitäten ist. Stattdessen wurde gezeigt, dass gezieltes Krafttraining eine Spastik günstig beeinflussen kann [22], [23]. Selbst wenn Simone Dorsch und ihr Team von der Australian Catholic University in ihrer Übersichtsarbeit resümieren, dass eine erhöhte Kraft nicht automatisch zu Verbesserungen auf Aktivitätsebene führt [24], bleibt Kraftaufbau ein wichtiges Element der modernen Neurorehabilitation. Dieser Ansatz sollte abhängig vom aktuellen Kraftniveau und Therapieziel individuell umgesetzt werden. Für die Praxis bedeutet dies, die vermeintliche Bedeutung der Spastik nicht überzubewerten und geeignete Therapieschwerpunkte zu setzen. Basis hierfür bilden der Clinical-Reasoning-Prozess und die individuelle Zielsetzung. Die Behandlungsziele reichen von der Wiederherstellung der Beweglichkeit und muskulärer Flexibilität über muskuläre Aktivierung und Kraftzuwachs bis hin zur aufgabenorientierten Therapie auf Aktivitätsebene, auch mit der Absicht, sinnvolle Bewegungsmuster zu üben, um dadurch eine geeignete Muskelaktivierung und Bewegungskontrolle zu ermöglichen [25].


Kurz zusammengefasst

Eine Fokussierung auf die Spastik entspricht nicht dem State-of-the-Art. Die Verwendung des Begriffs ist mit Vorsicht zu genießen. Zielführender ist eine Beurteilung der klinischen Relevanz der Spastik im Rahmen des UMNS. Die Therapie folgt dem Top-down-Ansatz „From spasticity to activity“ [8], orientiert sich dabei an individuellen Zielen und adressiert primär Minussymptome und adaptive Phänomene sowie die Therapie auf Aktivitäts-/und Partizipationsebene.

Neuroanatomie und -physiologie des UMNS

Wie bereits beschrieben, ist es sinnvoll, die Symptome in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Im vorigen Text stand dazu: „Die negativen, die positiven Symptome und die Veränderungen der Viskoelastizität interagieren miteinander“, sie „[…] hängen alle eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig“ [4]. In der aktuell erschienenen Leitlinie zum spastischen Syndrom der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) werden diese Zusammenhänge ebenfalls angesprochen und noch spezifischer formuliert: So gibt es „Hinweise, dass Therapien, die aktive motorische Funktionen nach Schädigungen des ZNS fördern, auch mit einer geringeren Entwicklung bzw. einer Reduktion einer spastischen Bewegungsstörung einhergehen. Der umgekehrte Sachverhalt, dass eine Behandlung von Spastizität ,automatisch‘ auch eine Verbesserung von aktiven Funktionen bewirkt, scheint nicht zuzutreffen […]“ [26]. Das bedeutet, dass die Minussymptome einen starken Einfluss auf die Entwicklung der Plussymptome haben, aber nicht umgekehrt.


Diese Aussagen beruhen nicht nur auf klinischen Beobachtungen, sondern sie lassen sich auch neuroanatomisch und neurophysiologisch erklären. Denn die gemeinsame Grundlage der Symptome des UMNS ist die absteigende Kontrolle. Das ist die Gesamtheit der efferenten Bahnen aus dem Gehirn und dem Hirnstamm, die ins Rückenmark projizieren. Von dort aus aktivieren und kontrollieren sie über die peripheren Nerven die Muskeln. Dazu gehört der Tractus corticospinalis (ventralis und lateralis), der den Kortex (primär motorischen Kortex M1, primär sensorischen Kortex S1 und den prämotorischen Kortex PMA) mit dem Hirnstamm und dem Rückenmark verbindet. Dieses Bahnsystem wird auch als Pyramidenbahn bezeichnet. Des Weiteren gehören folgende absteigenden Systeme aus dem Hirnstamm dazu: Tractus rubrospinalis, Tractus reticulospinalis und Tractus vestibulospinalis. Häufig werden diese Systeme als extrapyramidale Bahnen bezeichnet. Das kann durchaus irreführend sein: Es klingt so, als wäre das ein von der Pyramidenbahn getrenntes System. Das ist lediglich anatomisch betrachtet der Fall, funktionell hängen die kortikalen Bahnen und die subkortikalen Bahnen aus dem Hirnstamm eng miteinander zusammen.


Die absteigenden Bahnen haben unterschiedliche „Aufgaben“ ([ABB. 1]):

Zoom
ABB. 1 Schematische Darstellung der absteigenden Bahnen und ihrer Aufgaben© solvod/stock.adobe.com

Tractus corticospinalis:

  • willkürliche Motorik

  • wird durch taktile, visuelle und propriozeptive Informationen beeinflusst

  • direkte und indirekte Verbindung vom Kortex ins Rückenmark

  • wichtig für die Feinmotorik

  • wichtig zur Kraftsteuerung

  • Jede bewusste Bewegung hängt mit diesem Bahnsystem zusammen

  • gekoppelt mit der unbewussten/automatischen Motorik (Hirnstamm)

  • Inhibition spinaler Reflexe


Tractus rubrospinalis:

  • unwillkürliche Motorik

  • gekoppelt an Willkürmotorik

  • beteiligt an der Kontrolle von Hand- und Armbewegungen, fördert die Flexion in der oberen Extremität

  • einziges System im Hirnstamm, das die distale Muskulatur steuert und somit den Tractus corticospinalis unterstützt

  • bewirkt nur rudimentäre Bewegungen


Tractus reticulospinalis:

  • unbewusste / automatische Motorik

  • gekoppelt an „willkürliche“ Motorik

  • beteiligt an der posturalen Kontrolle (v. a. proximal/axial, antizipatorische und reaktive Haltungsanpassungen)

  • beeinflusst die Muskelaktivierung:

    • Tractus reticulospinalis lateralis (wird kortikal vom PMS beeinflusst): fördert die proximale Flexion, Inhibition spinaler Reflexe

    • Tracrus reticulospinalis medialis (steht nicht unter kortikalem Einfluss): fördert proximale EXT, Exzitation spinaler Reflexe


Tractus vestibulospinalis:

  • unwillkürliche Motorik

  • gekoppelt an Willkürmotorik

  • beteiligt an der Haltungskontrolle/posturalen Kontrolle (antizipatorische und reaktive Haltungsanpassungen)

  • Anpassung der Körperhaltung in Relation zu Kopfbewegungen, Kopfstabilisation, Kopf-Augen-Koordination (vestibulookkulärer Reflex)

  • fördert Extension der unteren Extremitäten, Exzitation spinaler Reflexe

  • wird kortikal vom vestibulären Kortex beeinflusst


Die absteigenden Bahnen arbeiten also eng zusammen. Sie gewährleisten das geeignete Zusammenspiel von willkürlicher und automatischer Bewegung. Das ist sehr wichtig, denn jede willkürliche Bewegung (z. B. Armhebung im Stehen) benötigt eine Stabilität (gewährleistet durch die posturale Kontrolle), damit bei der Bewegung der Körperschwerpunkt über der Unterstützungsfläche kontrolliert werden kann. Besonders in den Hirnstammbahnen herrscht hierzu eine ausgewogene Balance zwischen Systemen, die einerseits die proximale und axiale Extension und andererseits die Flexion fördern. In Summe führt das dazu, dass wir das Gleichgewicht gut halten können.


Eine ähnlich ausgewogene Balance besteht in der Hemmung und Anregung spinaler Reflexe. Hier gibt es ebenfalls Bahnen, die einerseits die spinalen Reflexe hemmen (Inhibition), und andererseits Bahnen, die diese anregen (Exzitation). Im gesunden Zustand sind die Einflüsse ausgewogen, sodass eine schnelle Muskeldehnung nicht zu einer Spastik führt.


Im Falle einer Schädigung der Pyramidenbahn kommt es zu einer Dysbalance dieser Gleichgewichte. Die Hirnstammbahnen werden hochreguliert, was die Grundlage der efferenten Plussymptome bildet. Bei der oberen Extremität entsteht die Flexorensynergie durch die Hochregulation des Tractus rubro- und reticulospinalis lateralis. In der unteren Extremität durch beispielsweise die spastische Dystonie, verursacht von der Hochregulation des Tractus reticulospinalis medialis und Tractus vestibulospinalis.


Ebenso kann das Gleichgewicht der hemmenden und fördernden Einflüsse auf die spinalen Reflexe gestört sein, was zu den enthemmten spinalen Reflexen führt (afferente Plussymptome). Der spinale Reflex ist die Verbindung der Muskelspindeln (Messen der Längenveränderungen des Muskels) über die 1a-Afferenz zum Alpha-Motoneuron desselben Muskels ([ABB. 2]). Dieser Reflexbogen sorgt dafür, dass der gedehnte Muskel mit einer Anspannung reagiert. Diesen Ablauf testen wir mit dem Reflexhammer. Dabei wird durch den Schlag auf eine Sehne ein Mikro-Stretch auf den Muskel ausgeübt, der die Muskelspindeln aktiviert. Damit kann man eine Hypo- oder Hyperreflexie feststellen. Im physiotherapeutischen Alltag wird der spinale Reflex häufig über eine schnelle passive Dehnung untersucht (z. B. Tardieu-Skala). Im Normalfall werden spinale Reflexe supraspinal, also durch die verschiedenen absteigenden Bahnen, kontrolliert und gehemmt.

Zoom
Abb. 2 Schematische Darstellung des spinalen Reflexes© solvod/stock.adobe.com

Für die Therapie bedeutet das unter anderem, dass es wichtig ist, die absteigende Kontrolle, also den Einfluss der Pyramidenbahn zu fördern. Da die Schädigung der Pyramidenbahn verantwortlich für die Minussymptome ist und gleichzeitig die Enthemmung der spinalen Reflexe bewirkt, wird deutlich, dass eine gelungene Therapie der Minussymptome (durch Aktivierung der Pyramidenbahn) die Spastik günstig beeinflussen kann.

Martin Huber



Martin Huber

Zoom
ist Physiotherapeut, MSc, arbeitet seit 30 Jahren in der stationären und ambulanten Neuroreha. Er unterrichtet im Bachelorstudiengang Physiotherapie an der ZHAW Winterthur und ist als freier Mitarbeiter in einer Praxis in der Schweiz tätig.

Publication History

Article published online:
22 April 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom
ist Physiotherapeut, MSc, arbeitet seit 30 Jahren in der stationären und ambulanten Neuroreha. Er unterrichtet im Bachelorstudiengang Physiotherapie an der ZHAW Winterthur und ist als freier Mitarbeiter in einer Praxis in der Schweiz tätig.
Zoom
Hintergrund: © solvod/stock.adobe.com
Zoom
ABB. 1 Schematische Darstellung der absteigenden Bahnen und ihrer Aufgaben© solvod/stock.adobe.com
Zoom
Abb. 2 Schematische Darstellung des spinalen Reflexes© solvod/stock.adobe.com