Definition und Klassifikationen
Schulabsentismus stellt a priori keine psychische Störung dar. Schulabsentismus ist
jedoch häufig mit
psychischem Leiden und in mittel- bis schwergradigen Fällen auch mit psychischen Störungen
assoziiert oder
durch eine solche Erkrankung bedingt. Der Oberbegriff Schulabsentismus lässt sich
nach Verhalten,
Schulrecht, Funktion sowie Fehltagen unterteilen (z. B. [2]).
Klassifikation nach Verhalten
Kategorien, die Schulabsentismus in Hinblick auf Verhalten, aber auch damit einhergehende
emotionale
Zustände beschreiben, sind Zurückhalten, Schulverweigerung, Schulschwänzen und die
gemischte Gruppe.
Zurückhalten (engl.: School Withdrawal)
Fehlzeiten in der Schule können auf der expliziten oder impliziten elterlichen Aufforderung
an das
Kind beruhen, nicht die Schule zu besuchen. Hier gibt es vielfältige Gründe: religiöse
Praktiken,
kulturell bedingte negative Haltung gegenüber dem Bildungssystem, Urlaub außerhalb
der Ferienzeiten,
Verheimlichen von Informationen vor den Mitarbeitenden der Schule (z. B. Kindesmisshandlung
oder
psychische Erkrankungen), dem Kind übertragene Haushalts-, Pflege- oder sonstige Arbeiten,
fehlende
elterliche Kontrolle bis hin zur Vernachlässigung. Manchmal wird auch direkt oder
indirekt an das
Verantwortungsgefühl des Kindes appelliert, z. B. ein psychisch oder somatisch erkranktes
Elternteil
zuhause nicht alleine zu lassen.
Schulverweigerung (engl.: School Refusal)
Schulverweigerung beschreibt Schüler, die aufgrund von emotionalen Problemen u. a.
in Hinblick auf die
Schule den Besuch einstellen. Hier stehen internalisierendes, nach „innen“ gerichtetes
Verhalten und
Emotionen im Vordergrund: Ängste vor Prüfungen, vor sozialen Kontakten, vor Mobbing
oder vor der
Trennung von den Eltern, psychosomatische Beschwerden, depressive Gefühle, Rückzug
etc.
Unter dem Terminus Schulverweigerung subsumiert man außerdem traditionellerweise die
Begriffe
„Schulangst“ und „Schulphobie“. Schulangst umfasst Prüfungsängste sowie soziale Ängste.
Schulphobie
beschreibt die Angst der Kinder vor Trennung von den Eltern.
Bei gegebenen Schweregrad der Symptomatik können die entsprechenden psychischen Störungen,
z. B.
Generalisierte Angststörungen, depressive Störungen, Soziale Phobie etc. diagnostiziert
werden. In der
Regel wissen die Eltern von der emotionalen Problematik und von dem Fernbleiben aus
der Schule und
versuchen das Kind zum Schulbesuch zu bewegen. Im häuslichen Rahmen kann es so zu
oppositionellem
Verhalten kommen, welches in der Regel jedoch nicht außerhalb der Familie gezeigt
wird. Einige
deutschsprachige Autoren kritisieren den Terminus „Verweigerung“ und ersetzen ihn
z. B. durch den
Begriff „angstbedingtes Meidungsverhalten“ (z. B. [3]).
Schulschwänzen (engl.: School Truancy)
Unlustbedingtes Fehlen, welches nicht selten mit externalisierendem, nach „außen“
gerichtetem
Verhalten und Emotionen einhergeht, wird als Schulschwänzen bezeichnet. Externalisierende
Symptome wie
oppositionell-regelbrechendes Verhalten, Lügen, Delinquenz, hyperkinetisches Verhalten
oder
Aggressivität können auftreten. Hyperkinetische Störungen des Sozialverhaltens,
Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) oder Anpassungsstörungen mit
gestörtem
Sozialverhalten sind assoziierte psychiatrische Diagnosen bei mittel- bis schwergradigem
Absentismus.
Die Eltern wissen in der Regel nichts vom Fernbleiben des Kindes aus der als aversiv
empfundenen
Schule zugunsten einer angenehmeren Aktivität.
Gemischte Gruppe (engl.: Mixed Group)
In einer großen repräsentativen Studie zu Schulabsentismus und assoziierten Verhaltensauffälligkeiten
fanden Egger et al. eine Gruppe von Schülern, die der Schule fernblieben und in- sowie
externalisierende Symptome zeigten [4]. Teilweise fehlten die
Schüler mit, teilweise ohne das Wissen der Eltern. In der gemischten Gruppe wiesen
Egger und Kollegen
die höchste Rate an psychischen Störungen nach. Zu den assoziierten Diagnosen gehören
z. B. die
kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, Anpassungsstörungen mit
Belastungsgefühlen
und Problemen im Sozialverhalten.
Diese „holzschnittartige“ Unterteilung des Schulabsentismus in diese 4 Idealtypen
findet sich in
ähnlicher Art in pädagogischen, soziologischen, psychologischen oder medizinischen
Studien zum Thema
Schulabsentismus, jedoch mit unterschiedlich nuancierten Definitionen und unterschiedlichen
Benennungen [2]. Die Begriffe Schulverweigerung, Schulschwänzen und
gemischte Gruppe werden auch unter dem Begriff „Schulvermeidung“ subsumiert.
Zusammenfassend und vereinfachend lässt sich auf der Verhaltensebene von Schulabsentismus
bei
Zurückhalten, bei internalisierendem Verhalten, bei externalisiertem und gemischt
in- und
externalisierendem Verhalten sprechen (z. B. [5]).
Die Prävalenz der unentschuldigten Schulvermeidung liegt – je nach untersuchter Stichprobe,
Klassifikation und Definition – bei 5–10 % [1].
Klassifikation nach Schulrecht
Vor dem Hintergrund des Schulrechtes unterscheidet man zwischen entschuldigtem und
unentschuldigtem
Versäumnis. Operationalisierbare Symptome, z. B. eine erhöhte Körpertemperatur, Erbrechen
oder Diarrhö,
lassen eine relativ klare Einordnung als krankheitsbedingtes und damit entschuldigtes
Fehlen zu. Die
Einordnung von „Bauchschmerzen“, allgemeiner „Mattheit“ oder „Kopfschmerzen“ kann
Eltern jedoch vor
Herausforderungen stellen: Somatische oder psychosomatische oder angebliche Erkrankung
zur Vermeidung des
Schulbesuches? Unabhängig von der Genese beeinflusst hier auch die elterliche Haltung
zur Wichtigkeit des
Schulbesuches die Entscheidung, eine Entschuldigung auszustellen oder nicht. Auch
bei Vorstellung des
Kindes beim Haus- oder Kinder- und Jugendarzt können unterschiedliche Bewertungen
zu einem Attest führen
oder eben nicht.
In der Praxis ist die Differenzierung zwischen illegitimen und legitimen Schulabsentismus
nicht
trennscharf.
Der Vollständigkeit halber ist des Weiteren der Begriff der Schulsuspendierung zu
nennen. Als
Disziplinarmaßnahme bedeutet die Suspendierung einen temporären Ausschluss aus der
Schule oder vom
Unterricht, in der Regel im Rahmen einer Ordnungsmaßnahme.
Aufgrund der Kulturhoheit können sich die Bestimmungen zur Schulpflicht sowie Konsequenzen
und Maßnahmen
bei Schulabsentismus zwischen den deutschsprachigen Staaten und deutschen Bundesländern
unterscheiden.
Verstöße gegen die Schulpflicht werden in der Regel als Ordnungswidrigkeit mit einem
Bußgeld geahndet.
Die praktische Handhabung kann jedoch von Stadt zu Stadt oder Schule zu Schule variieren.
Klassifikation nach Funktion
Kearney fokussiert auf die behaviorale Sicht des Schulabsentismus [6].
Im Rahmen der Entwicklung eines Fragebogens postulieren die Autoren 4 lerntheoretische
Funktionen des
Fernbleibens von der Schule, die sich aus den positiven bzw. negativen Konsequenzen
des Absentismus
ergeben:
-
Die erste Funktion bezieht sich auf Schüler, die dem Unterricht fernbleiben, um negativen
Affekten
(z. B. deprimierte Stimmung, Frustrationen) aus dem Weg zu gehen.
-
Bewertungssituationen in der Schule zu vermeiden, stellt eine andere Funktion dar.
Als Beispiel
lassen sich hierfür soziale Ängste nennen.
-
Eine weitere Funktion beschreibt die Schüler, denen aufgrund ihres Fernbleibens vermehrt
Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zum Beispiel erhalten trennungsängstliche Kinder durch
die Eltern
oft noch mehr Aufmerksamkeit, wenn sie die Schule nicht mehr besuchen. Auch oppositionelles
Verhalten kann einen ähnlichen positiv verstärkenden Effekt haben.
-
Aus Sicht des Schülers attraktivere Aktivitäten außerhalb der Schule wirken ebenfalls
verstärkend
(4. Funktion).
Kearneys Verdienst ist es, Schulabsentismus unter lerntheoretischer Perspektive zu
analysieren und die 4
Funktionen in einem klinisch gut nutzbaren Fragebogen, dem School Refusal Assessment
Scale, revidierte
Form (SRAS-R; [6]) zusammenzufassen. Eine aktuelle deutschsprachige
Version des SRAS-R haben Walter und Kollegen validiert [7].
Im Bestreben eine umfassende Erhebung von mit Schulabsentismus assoziierten Faktoren
vorzunehmen
entwickelten Knollmann und Kollegen das Inventory of School Attendance Problems (ISAP)
[8]. Insgesamt 13 Faktoren reflektieren 8 internalisierende und
externalisierende Symptome bzw. Verhaltensweisen sowie 5 Problembereiche. Die Befragten
können im Rahmen
der Selbstauskunft das allgemeine Vorliegen dieser Faktoren negieren oder bejahen:
Depression, soziale
Angst, Leistungsangst, Agoraphobie/Panik, Trennungsangst, somatische Beschwerden,
Aggression,
Schulaversion/attraktive Alternativen, Probleme mit Lehrern, Ablehnung der Heimatschule,
Probleme mit den
Peers, der Familie, den Eltern. Der ISAP deckt somit alle Verhaltensweisen (ex-, und
internalisierend)
des individuellen Schülers und seine psychosozialen Lebensbereiche (Schule, Lehrer,
Peers, Familie)
ab.
Die beiden Instrumente – deutsche Version des SRAS-R und ISAP – zeigen in Bezug auf
die interne
Konsistenz, die konvergente und diskriminante Validität gute teststatistische Kennwerte.
Aufgrund
ihrer Praktikabilität finden sie ein weites Anwendungsgebiet.
Klassifikation nach Fehlzeiten: Jeder Schultag zählt!
Der Schweregrad des Schulabsentismus lässt sich durch das Ausmaß der Fehlzeiten operationalisien.
Verschiedene Studien aus den USA, Australien oder Europa zeigen, dass eine zunehmende
Dauer der
Fehlzeiten zu zunehmend schlechteren Schulleistungen führt. Der Befund „jeder Tag
zählt“ ist
grundsätzlich unabhängig von der Art des Absentismus (legitim/illegitim/Schulexklusion).
Jeder Fehltag
bedeutet für den Schüler weniger Zeit und Möglichkeiten, sich im psychosozialen Umfeld
der Schule zu
erproben, sich zu entwickeln und sozial wie akademisch zu lernen. Der Effekt in Hinblick
auf die
Schulleistung ist bei sozioökonomisch benachteiligten Familien relativ stärker (z.
B. [9]). Schüler, die zwischen dem Kindergarten und der 8. Klasse
unentschuldigte und/oder entschuldigte Fehlzeiten akkumulierten, berichteten im Alter
von 22 bis 23
Jahren häufiger über schlechtere Schulnoten und größere ökonomische Schwierigkeiten
[10].
Da sich Fehlzeiten also unabhängig vom Typ akkumulierend auf den späteren schulischen
und beruflichen
Erfolg auswirken, hat eine Kategorisierung nach Schweregrad-Klassen gemäß Fehlzeitendauer
und die damit
verbundene Einführung von Klassengrenzen eher praktische als wissenschaftliche Gründe.
Schulen und Schulaufsichtsbehörden in den USA schlagen häufig vor, jegliches Fehlen
von mehr als 5–10
Schultagen oder umgerechnet ca. 5 % der Tage pro Schuljahr als Frühwarnzeichen einzustufen.
Jegliche
Fehlzeiten von 10 % oder mehr Tagen pro Schuljahr gelten als chronischer Schulabsentismus
(z. B. [11]). Aus wissenschaftlicher Sicht argumentieren Skedgell und Kearny,
dass bei Schülern mit 10 % oder mehr Fehlzeiten die Zahl der negativen Risikofaktoren
zunimmt [12]. Zusammenfassend und mit praxisorientiertem Blick lässt sich eine
Schweregradeinteilung vornehmen ([
Tab. 1
]).
Tab. 1
Schweregradeinteilung nach Fehlzeiten-Anteil pro Schuljahr.
Schulabsentismus
|
Fehltage pro Schuljahr [%]
|
Bemerkung
|
Kein bis leichtgradig
|
0 bis ≤ 5 %
|
regulärer Schulbesuch bis Frühwarnzeichen
|
Mittelgradig
|
> 5 % und < 10 %
|
beginnender Schulabsentismus
|
Schwergradig
|
≥ 10 %
|
chronischer Schulabsentismus
|
Mit dieser Einteilung in 3 Klassen auf Basis einer prozentualen Relation von Fehltagen
zu Schultagen
lässt sich das Ausmaß des Schulabsentismus auch für den Schüler, die Familie und die
Mitglieder des
Hilfesystems (Schule, Jugendamt, psychiatrisch-psychotherapeutisches System etc.)
anschaulich darstellen.
Diese Klasseneinteilung kann außerdem als Indikation für Interventionen, ggf. mit
angepassten
Grenzwerten, herangezogen werden.
Pathogenetische Faktoren
Schulabsentismus als Prozess und Frühwarnzeichen
Wie dargestellt reduzieren jegliche Abwesenheitszeiten die Möglichkeit des Schülers,
positive Erfahrungen
zu machen. Besondere Aufmerksamkeit erfordert Absentismus, der mit einem zunehmenden
Rückzug des Schülers
vom Unterricht und/oder aus sozialen Bindungen in der Schule einhergeht. Knollmann
und Kollegen gehen von
einer Überforderungssituation des Schülers aus, die je nach Risikofaktoren Stressreaktionen
inklusive
dysfunktionalem Coping, ex- oder internalisierender Symptomatik und Vermeidungsverhalten
auslösen kann
[1].
Entsprechende Frühwarnzeichen können auftreten: überdauernde Frustration, schlechte
Schulleistungen,
Stören im Unterricht, häufiger Wunsch, den Unterrichtsraum zu verlassen, Probleme,
an bestimmten
Unterrichtsfächern teilzunehmen, soziale Isolation gegenüber Mitschülern, erste angstbedingte
psychosomatische Beschwerden vor dem Unterricht oder übermäßige Ausdehnung von Fehlzeiten
bei leichten
oder Bagatellerkrankungen (z. B. [3]). In der Folge entstehen erste
Fehlzeiten durch Zuspätkommen oder Fernbleiben zu den Randstunden.
Risikofaktoren
Je nach Konstellation der individuellen, Schul-, Lehrer-, Peer- und Familien-bedingten
Risikofaktoren
kommt es zu weiteren Konflikten, reduzierter Schulleistung und Frustrationen. Mit
zunehmendem Druck
verstärkt sich die psychische Symptomatik, ggf. bis hin zur störungsäquivalenten Ausprägung;
die
Fehlzeiten nehmen weiter zu.
Ein metaanalytischer Review von Gubbels und Kollegen, basierend auf 75 Studien, zeigt
ein breites
Spektrum an Risikofaktoren auf, die zur Gefährdung des regelmäßigen Schulbesuches
beitragen ([
Tab. 2
]) [13].
Tab. 2
Risikofaktoren für Schulabsentismus nach psychosozialem Lebensbereich inklusive Effektstärken
[13] sowie weitere Risikofaktoren.
psychosozialer Lebensbereich
|
Beispiele (Auswahl)
|
r
|
individuelle Faktoren
|
negative Einstellung zur Schule
|
Kind lehnt Schule ab, versteht nicht den Sinn der Schule, fühlt sich nicht als Teil
der
Schule, kann keine schulischen Ziele benennen, Zu-spät-Kommen, fehlende Motivation
|
0,503
|
anti-soziales Verhalten/Kognitionen
|
aggressives/regelbrechendes/störendes Verhalten, Aufmerksamkeitsprobleme, disziplinarische
Probleme, Kind zeigt Wut etc.
|
0,428
|
Substanzkonsum
|
Rauchen, Drogen- und Alkoholmissbrauch
|
0,336–0,311
|
internalisierende Probleme außer Angst/Depression
|
geringes Selbstwertgefühl, negative Kognitionen, Rückzug, lebensmüde Gedanken, Z.
n.
Suizidversuch
|
0,307
|
psychische Erkrankungen und Symptome
|
Autismus, Ängste, Depressionen, emotionale Instabilität und andere persönlichkeitsassoziierte
Probleme
|
0,303
|
Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit
|
Bisexualität, Homosexualität oder Unsicherheit bezüglich der sexuellen Identität
|
0,273
|
Depression
|
depressives Syndrom, aktuell oder in der Vorgeschichte
|
0,237
|
geringes schulisches Leistungsniveau
|
schlechter Schulnotendurchschnitt (möglicherweise auch bei ausgeprägtem Medienkonsum),
schlechte schulische Vorbildung
|
0,232
|
Ausgeprägte sexuelle Aktivität
|
früh beginnende Pubertät/sexuelle Aktivität, promiskes Verhalten, ungeschützter
Geschlechtsverkehr, Schwangerschaft
|
0,229
|
Risikoverhalten
|
im Straßenverkehr
|
0,226
|
somatische Probleme/Erkrankungen
|
chronische Erkrankungen, Insomnie, Kopfschmerzen, Über-/Untergewicht, fehlende/nicht
ausreichende sportliche Betätigung etc.
|
0,178
|
weitere Faktoren
|
delinquentes Verhalten, dysfunktionale Problembewältigungsstrategien, höheres Alter,
Ängste,
Klassenwiederholung, geringer Intelligenzquotient und Lernschwierigkeiten
|
|
schulische und Lehrer-bedingte Faktoren
|
schlechte Schüler-Lehrer-Beziehung
|
Interaktionsstörung Schüler-zu-Lehrer/Lehrer-zu-Schüler
|
0,286
|
geringe Qualität der Schule/(Aus-)Bildung
|
suboptimales Schul-Management, mangelnde (personelle) Ausstattung der Schule, hohe
Schülerzahlen in der Klasse und/oder Schule, wenig engagierte Schulmitarbeiter, unfaire
Disziplinarmaßnahmen, „schlechte“ Lehrer aus Perspektive der Schüler, wenig Möglichkeit,
sich
am Unterricht zu beteiligen etc.
|
0,229
|
schlechtes Schul- oder Klassenklima
|
Schüler fühlt sich unsicher/bedroht, unklare Verhaltensregeln, kompetitive Atmosphäre,
geringes Niveau der schulischen Ordnung und Organisation, diskriminierendes Verhalten
etc.
|
0,183
|
Peer-Faktoren
|
Zugehörigkeit zu einer Subkultur
|
ist assoziiert mit Schluschwänzen, körperlichen Auseinandersetzungen und geringen
schulischen
Leistungen
|
0,060
|
weitere
|
Mobbing, Kontakt zu devianten Peers, Isolation etc.
|
|
Familiäre Faktoren
|
fehlendes elterliches Engagement für die Schule
|
keine Unterstützung bei Hausarbeiten, fehlender Kontakt zu den Lehrern, geringe schulische
Ansprüche an das Kind, Eltern lesen nicht gemeinsam mit dem Kind etc.
|
0,272
|
Vorgeschichte mit Kindesmissbrauch
|
physischer/emotionaler/sexueller Missbrauch des Kindes, Kind wurde Zeuge häuslicher
Gewalt,
Konflikte in der Familie
|
0,257
|
gering ausgeprägte Bindung an die Eltern
|
bei geringer elterlicher Sensitivität
|
0,220
|
Fehlen einer Kernfamilie
|
Trennung, Scheidung, alleinerziehendes Elternteil, fehlende familiäre Kohäsion
|
0,187
|
psychische/somatische Probleme eines Elternteils
|
Suchterkrankungen oder andere
|
0,186
|
wenig Unterstützung/Akzeptanz des Kindes
|
Eltern zeigen dem Kind gegenüber ablehnendes Verhalten, wenig positive Verstärkung,
Autonomie
wird nicht gefördert
|
0,182
|
Weitere Faktoren
|
niedriges elterliches Bildungsniveau/sozioökonomischer Status, ineffektives Familiensystem,
fehlende elterliche Kontrolle
|
|
Ein weiterer Risikofaktor, der wesentlich zu Schulabsentismus beitragen kann und der
auch bei der
Reintegration des Schülers in die Schule berücksichtigt werden sollte, sind Transitionsphasen.
Hierzu
zählt der Wechsel eines Schülers in eine andere Klasse, Schule oder Schulform. Für
Schüler mit mittel-
bis schwergradigen Fehlzeiten, die den Weg in die Schule wieder zurückgefunden haben,
kann die Rückkehr
schon nach kurzen schulfreien Phasen, z. B. (verlängerte) Wochenenden oder Schulferien
Stress auslösen.
Das Risiko für erneute Fehlzeiten ist damit erhöht.
Transitionsphasen wie Wechsel in eine andere Klasse, Schule oder Schulform stellen
einen Risikofaktor
für Schulabsentismus dar und sind bei der Reintegration zu berücksichtigen.
Die Unterteilung der Risikofaktoren in auslösende und aufrechterhaltende Faktoren
des Absentismus kann
unter anderem der Therapieplanung dienen. Zum Beispiel kann eine akute körperliche
Erkrankung als
Auslöser für Schulabsentismus fungieren, welcher durch überprotektiv-schonendes Verhalten
der Eltern oder
hohen Medienkonsum perpetuiert wird. Diese von Fall zu Fall inhaltlich unterschiedlichen
Faktoren sollten
im Störungsmodell aufgenommen und entsprechend bearbeitet werden.
Diagnostik und Interventionen
Allgemeines Rahmenmodell
Die im vorangehenden Kapitel genannten auslösenden oder aufrechterhaltenden Faktoren
sind in den
verschiedenen psychosozialen Lebensbereichen verwurzelt: Individuum, Schule, Lehrer,
Peers, Familie.
Verschiedene ätiopathologische Modelle berücksichtigen die o. g. Risikofaktoren und
Bereiche und erklären
Schulabsentismus aus einer Kombination auslösender und aufrechterhaltender Faktoren,
die sich im Verlauf
gegenseitig aufschaukeln und zu einer allmählichen Steigerung der Fehlzeiten von einer
„inneren
Kündigung“ der Beziehung zur Schule, ersten Verspätungen bis zu chronischem Absentismus
führen (z. B.
[1], [14]). Walter und Döpfner
betonen in ihrem Modell als zusätzlichen Faktor gesellschaftlich einwirkende Bedingungen,
wie einen
allgemeinen (schulischen) Leistungsdruck, der sich ggf. negativ auswirken kann [15].
Bei dysfunktionaler Entwicklung in diesen Lebensbereichen liefern verschiedene wissenschaftliche
Fächer
Konzepte und Interventionen zur Korrektur. Hierzu zählen z. B.:
-
die Pädagogik für Probleme, die Schule und Lehrer betreffen, z. B. Anti-Bullying-Programme
-
die (Schul-)Sozialarbeit für familiäre Probleme, u. a. Multisystemische Therapie (MST)
-
die (Schul-)Psychologie/Psychiatrie/Psychotherapie, z. B. kognitive Verhaltenstherapie
(KVT) MST
etc.
-
die Pädiatrie, z. B. das Medical Advice for Sick reported Students (MASS) Programm
für Individuen,
mit psychischen und/oder körperlichen Auffälligkeiten oder Störungen
Kearney und Kolleginnen schlagen ein allgemeines Rahmenmodell für Schulabsentismus
auf der Basis des aus
der Pädagogik und der Psychologie bekannten Modells „Multi-tiered, multi-domain system
of supports“
(MT-MDSS) vor [14]. Dieses integrative Modell können alle
Fachdisziplinen, die mit dem Phänomen Schulabsentismus arbeiten, übergreifend nutzen.
Das MT-MDSS besteht
aus 3 Hauptelementen:
-
Das Konzept der Response-to-Intervention (RtI) sieht vor, dass die Anwesenheitszeiten
der Schüler
regelmäßig erfasst werden. Bei Beobachtung von auffälligen Fehlzeiten bei einem individuellen
Schüler, einer bestimmten Klasse oder einer bestimmten Schüler-Untergruppe erfolgt
eine
Intervention mit dem Ziel, die Fehlzeiten zu reduzieren. Der Erfolg wird auf Basis
des
nachfolgenden kontinuierlichen Fehlzeiten-Monitorings bewertet und die Interventionen
ggf.
angepasst.
Das Fehlzeiten-Monitoring ist grundlegend im schulischen und im klinischen
psychiatrisch-psychotherapeutischen Setting. Ohne eine Rückkoppelung zu den Fehlzeiten
und damit
zum Erfolg der schulischen oder psychiatrisch-psychotherapeutischen Interventionen
lässt sich die
Beratung oder auch Therapie nicht sinnvoll steuern.
-
Das zweite Element betrifft den Schweregrad der Fehlzeiten, der als eine wesentliche
Indikation für
allgemein-präventive, klinische und intensivierte Interventionen genutzt wird (eine
entsprechende,
für das MT-MDSS allgemein empfohlene Einteilung wurde im vorangegangenen Abschnitt
bereits
besprochen; siehe [
Tab. 1
]).
-
Das dritte Element betrifft die eingesetzten Interventionen für das Individuum und
seine
unterschiedlichen psychosozialen Lebensbereiche oder Dimensionen. In der ursprünglichen
Version des
MDSS fasste man unter dem Begriff „School-wide positive Behavior and Support“ (SWPBS)
Interventionen an und für Schulen zusammen, die eine positive, wertschätzende Schulkultur
fördern
und herausfordernde Verhaltensweisen, wie ex- oder internalisierendes Verhalten von
Schülern
reduzieren. Zu den SWPBS-Prinzipien gehören datenbasierte Entscheidungen, der multiprofessionelle
Einbezug aller Interessenträger in Interventionen oder die Berücksichtigung des kulturellen
Schülerkontextes. Häufig reicht bei Schülern mit mittel- bis schwergradigem Absentismus
der Fokus
auf die Dimension Schule und sein Verhalten in der Schule nicht aus. Zusätzliche Interventionen
in
Hinblick auf die Dimensionen psychisches Befinden, familiäre Situation, Peers oder
in anderen
Bereichen können somit indiziert sein.
Kearney und Kolleginnen versinnbildlichen ihr Modell als Pyramide mit 3 Schweregradstufen
und je nach
Anzahl der Interventions-Dimensionen, 3, 4 oder mehr Seitenkanten [14]; siehe [
Abb. 1
]). Im Folgenden orientieren wir uns bei der Darstellung möglicher Interventionen
an der
Schweregradeinteilung, also den drei „Stufen“ der Pyramide. Dabei wird vorwiegend
auf die klinische
psychiatrisch-psychotherapeutische Perspektive und entsprechende Interventionen fokussiert.
Die Themen
der präventiv-pädagogischen Maßnahmen sollen der Vollständigkeit halber im Rahmen
dieses Artikels nur
kurz angerissen werden.
Abb. 1 Das MT-MDSS als Pyramidenmodell [14].
Das MT-MDSS („Multi-tiered, multi-domain system of supports“) ist ein integratives
Rahmenmodell für
Schulabsentismus und besteht aus 3 Hauptelementen: Fehlzeiten-Monitoring, Schweregradeinteilung
und
schulweit-präventive sowie individuelle Interventionen.
Stufe 1 – Diagnostik und Interventionen bei leichtgradigem Schulabsentismus
Die unterste Stufe der Pyramide bildet die Kategorie der Schüler mit keinem oder leichtgradigem
Absentismus ab, z. B. mit Fehlzeiten ≤ 5 % des Schulhalbjahres. Diese Schülergruppe
zeigt einen relativ
zufriedenstellenden Schulbesuch. Abwesenheiten treten in der Regel entschuldigt und
krankheitsbedingt
auf. Optimalerweise sollte das Ziel angestrebt werden, dass die überwiegende Mehrzahl
der Schüler (z. B.
≥ 80 %) in diese „Klasse“ fallen.
Maßnahmen für Schüler mit keinen oder geringen Fehlzeiten sind universell präventiv,
vorwiegend in der
Schule angesiedelt und werden klassen- oder schulübergreifend angeboten:
-
präventive Maßnahmen zur Verbesserung der somatischen und psychischen Gesundheit: Inhaltlich
beziehen diese sich z. B. auf Bewegungsangebote, Stressreduktion, Ernährung, Substanzkonsum
und
andere Gesundheitsthemen.
-
Verbesserung des Schulklimas: Hierzu zählen die Schaffung einer geordneten Lernumgebung und
lernunterstützende Orientierung auf der Basis eines guten Lehrer-Schüler- sowie
Schüler-Schüler-Verhältnisses (z. B. SWPBS).
-
Aufbau sozialer Kompetenzen/Schaffung einer sicheren Schulatmosphäre: Dies erfolgt z. B. im
Rahmen von Anti-Bullying-Programmen.
-
Einbezug und Involvierung der Eltern in schulische Aktivitäten und das Schulleben: Dies
geschieht durch systematischen, kultursensiblen und frühen Einbezug über schulische
Planung,
Kommunikation und Beziehungsaufbau zu den Eltern.
Basis der schulischen Maßnahmen ist das kontinuierliche Monitoring der Fehlzeiten
der Schüler.
Idealerweise erfolgt das Monitoring jeglicher Fehlzeiten (inklusive Zu-spät-Kommens)
durch die Lehrer.
Elektronische Erfassungssysteme (Apps) mit hohen Datenschutzstandards bieten die Möglichkeit,
in Echtzeit
zusätzliche Auswertungen vorzunehmen. Eltern, Schüler oder Lehrer können in Hinblick
auf die oben
genannten weiteren Themen z. B. fragebogengestützt Auskunft über den jeweiligen Status
an der Schule
geben (z. B. zur Wahrnehmung des Klassenklimas). Diese Informationen lassen sich dann
als Indikation für
oder zur Verbesserung der jeweiligen Interventionen nutzen. Findet sich z. B. in einer
Klassenstufe nur
ein geringer Anteil von Schülern in der Kategorie Stufe 1 gepaart mit einem suboptimalen
Klassenklima
könnten entsprechende Interventionsprogramme das Klassenklima und damit auch die Anwesenheitszeiten
verbessern.
Stufe 2 – Diagnostik und Interventionen bei mittelgradigem Schulabsentismus
In der mittleren Stufe der Pyramide findet sich die Kategorie für Schüler mit mittelgradigem
Absentismus,
z. B. mit Fehlzeiten > 5 % und < 10 % des Schulhalbjahres. Diese Schüler weisen einen
beginnenden
Absentismus auf. Zu den entschuldigten Abwesenheiten kommen Verspätungen und/oder
das Fehlen in
Randstunden hinzu. Im Verlauf können auch ganze Fehltage anfallen und ein nicht-regelhafter,
intermittierender Schulbesuch entwickelt sich. Unter diese „Klasse“ sollten idealerweise
nur relativ
wenige Schüler fallen (z. B. ≤ 15 %).
Die Interventionen zur Reduktion des Anteils von Schülern mit mittelgradigem Schulabsentismus
zielen auf
den individuellen durch das Fehlzeiten-Monitoring identifizierten Schüler ab. Sie
sind im pädagogischen,
allgemeinmedizinisch-pädiatrischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Feld verortet.
Mittelgradiger Schulabsentismus ist nicht selten mit somatischen, psychosomatischen
und/oder psychischen
Gesundheitsproblemen assoziiert. Daher empfiehlt sich die Kooperation der Schule mit
den entsprechenden
Gesundheitsservices. Bei Schülern im Übergang von beginnendem zu chronischem Absentismus
sollte zunehmend
das erweiterte regionale Netzwerk zur Reduktion von Schulabsentismus einbezogen werden
(siehe auch Stufe
3 – Kooperation im Netzwerk).
Im Setting der Schule lassen sich verschiedene Maßnahmen ergreifen, die beginnenden
Schulabsentismus
adressieren. Auf diese soll hier nur beispielhaft und kursorisch eingegangen werden.
Nachfolgend wird ein
mögliches Vorgehen bei häufigem Auftreten von entschuldigten Fehlzeiten durch vordergründig
somatische
Erkrankungen beschrieben, wie es für Lehrer, Eltern oder Mitglieder des professionellen
Hilfesystems
relevant sein kann. Das Schulabsentismus-spezifische Procedere bei Verdacht auf eine
psychische Störung
rundet diesen Abschnitt ab.
Pädagogische Diagnostik und Interventionen
Die schulische Basisdiagnostik in dieser wie in allen Stufen besteht in dem kontinuierlichen
Monitoring der Fehlzeiten. Bei hohem Anteil von Schülern mit mittelgradigem Absentismus
können die
oben erwähnten weiterführenden Befragungen von Eltern, Schülern oder Lehrern Aufschluss
über
schulische Risikofaktoren geben, die zu einem hohen Anteil an Schülern mit mittelgradigem
Absentismus
führen können.
Bei Verdacht auf eine psychische Symptomatik sollte man eine Vorstellung beim Facharzt
für Kinder-
und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie vorschlagen.
Im Folgenden können nur einige pädagogische Interventionen stichwortartig aufgeführt
werden. Die
Umsetzung erfolgt in der Regel durch Lehrer und/oder Schulsozialarbeit, ggf. mit Unterstützung
aus der
Schulpsychologie:
-
individuelle akademische Förderung der Schüler: Die jeweiligen Schulministerien der
Länder fördern die Schüler mit entsprechenden Programmen, die i. d. R. diagnostische
Elemente,
didaktische Konzepte und kommunikative Ansätze zur Verbesserung der schulischen Leistung
beinhalten.
-
Mentoring Programme: Geschulte, ältere Schüler, Studenten oder Lehrer übernehmen die
strukturierte Betreuung von Schülern mit Fehlzeiten.
-
Einsatz von lerntheoretisch fundierten Trainings und Verhaltensplänen: Ziel dieser
Verfahren ist die Verbesserung der Anwesenheit und des Verhaltens des Schülers in
der Klasse
durch Verstärkerpläne und damit einhergehenden hochfrequenten Treffen zwischen Lehrer
und
Schüler während des Schultages.
Die Fortführung des Anwesenheitsmonitorings und der Stufe-1-Prävention im schulischen
Setting
stellt die Basis der pädagogisch-schulischen Maßnahmen für Stufe-2-Schüler dar.
Allgemeinmedizinisch-pädiatrische Diagnostik und Interventionen
Fällt beim Monitoring des Schulbesuches bei einzelnen oder mehreren Schülern eine
hohe Anzahl
entschuldigter Fehltage auf, kann die Kooperation der Schule mit einem Pädiater oder
Allgemeinmediziner sinnvoll sein. Eltern fällt eine sichere Differenzierung vorgetragener
angstbedingter psychosomatischer Beschwerden von somatisch bedingten Symptomen morgens
vor Schulbeginn
oft nicht leicht. Lehrer können (gemäß Schulgesetz vieler Bundesländer) in begründeten
Einzelfällen
ein ärztliches Attest einfordern (z. B. häufige durch Krankheit begründete Abwesenheiten,
außergewöhnlich lange Fehlzeit bei gegebener Erkrankung). Vanneste und Kolleg*innen
schlagen für
solche Situationen eine strukturierte Unterstützung von Schülern mit hohen entschuldigten
Fehlzeiten
durch die enge Kooperation von Schule, Ärzten und den Familien der Betroffenen vor
[16]. Das „Medical Advice for Sick reported Students” (MASS) Programm
basiert auf verschiedenen Prinzipien: MASS ist Teil der offiziellen Schulstrategie
gegen
Schulabsentismus und wird schulweit kommuniziert. Basis ist eine gute Kooperation
der Schule mit einem
Arzt (z. B. Schularzt, Pädiater, Allgemeinmediziner, Kinder- und Jugendpsychiater
und
-psychotherapeut). Die Interventionen basieren auf einer gemeinsamen Verantwortung
aller Beteiligten
und gemeinsamen Entscheidungen bei gleichzeitiger fürsorglicher statt kontrollierender
Haltung.
Nach Überschreiten einer Fehlzeitenschwelle nehmen die Schulmitarbeiter mit den Eltern
und der
Schülerin oder dem Schüler Kontakt auf und diskutieren die Problematik. Dabei sprechen
sie die
Empfehlung einer ärztlichen Konsultation aus. Der Arzt stellt eine Diagnose und analysiert
das Problem
aus bio-psycho-sozialer Perspektive. Ein Handlungsplan wird gemeinsam mit der Schülerin
oder dem
Schüler, den Eltern, der Schule und anderen Beteiligten erstellt, z. B. mit der Empfehlung
zur
weiterführenden Diagnostik oder der Überweisung in eine fachspezifische Behandlung.
Im MASS implementieren und überwachen die Familie und die Schulmitarbeiter den Handlungsplan.
Als Triggerschwelle, die den beschriebenen Prozess auslöst, gelten für den Sekundarbereich
mehr als 6
aufeinanderfolgende Krankheitsfehltage oder mehr als 3 krankheitsbedingte Fehlzeitenperioden
in 12
Schulwochen. Für den Primar-Bereich werden mehr als 9 aufeinanderfolgende Krankheitsfehltage
oder mehr
als 4 krankheitsbedingte Fehlzeitenperioden in 12 Schulwochen diskutiert. Die AutorInnen
konnten in
einer niederländischen Studie für den Sekundarbereich nachweisen, dass MASS zu einer
deutlichen
Reduktion der schulweiten Fehlzeiten führt.
Psychotherapeutisch-psychiatrische Diagnostik und Interventionen
Bei ausgeprägter psychischer Belastung des fehlenden Schülers oder bei Verdacht auf
eine psychische
Störung ist eine kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik herbeizuführen.
Eine frühzeitige Diagnostik und Therapie ist wesentlich, um eine Chronifizierung des
Schulabsentismus zu vermeiden.
Diagnostik
Grundlegend für die Diagnostik ist die Anamneseerhebung mit Kind, Eltern, Schule und
ggf. mit weiteren im
psychosozialen Umfeld des Schülers angesiedelten Personen. In [
Tab. 3
] sind spezifische auf den Schulabsentismus zugeschnittene Anamnese-Themen zusammengestellt,
die
sich an den Kategorien des Schulabsentismus und an den o. g. Risikofaktoren orientieren.
Tab. 3
Anamnese bei Schulabsentismus.
Thema
|
Beispiele
|
Entwicklung des Absentismus
|
Beginn?
|
Dauer und Fehlzeitenmuster
|
Fehlzeiten in Relation zum Schul(halb)jahr [%]? Unregelmäßig vs. durchgängiges Fehlen?
|
zeitliche Zusammenhänge
|
Problematik z. B. nach Wochenende verschärft? Kritische Lebensereignisse?
|
psychische Symptomatik
|
externalisierend/internalisierend/gemischt?
|
Wer weiß Bescheid?
|
Mit oder ohne Wissen der Eltern? Entschuldigtes vs. unentschuldigtes Fehlen? (Unbewusstes)
Zurückhalten durch die Eltern?
|
Beschäftigung während Fehlzeiten
|
Aufrechterhaltende Bedingungen für den Absentismus?
|
Ursachen
|
Subjektiv wahrgenommene „Ursachen“ oder „Auslöser“?
|
Stressoren und Risikofaktoren im Umfeld Schule
|
Leistungsstand und Lernschwierigkeiten? Andere schulische Stressoren? Vermeidung bestimmter
Situationen (z. B. Schulweg), Menschen etc.? Disziplinarmaßnahmen von Seiten der Schule?
Transitionsphasen: Neue Klasse, Schule, Ferien?
|
Stressoren und Risikofaktoren im Umfeld Lehrer
|
Beziehung zum Lehrer? Welche Sicht haben die Lehrer/Schulsozialarbeiter?
|
Stressoren und Risikofaktoren im Umfeld Peers
|
Deviante Peers im sozialen Umfeld? Mobbingerfahrungen?
|
Stressoren und Risikofaktoren im Umfeld Familie
|
Auswirkungen des Absentismus des Kindes auf die Familie, den Tagesablauf? Morgendliche
Situation? Transport des Kindes zur Schule? Haltung der Eltern zu Lehrern und Bildung?
Kulturelle Barrieren? Unterstützer für den Schüler/die Familie aus dem sozialen Umfeld?
|
Der Einsatz von testpsychologischen Mitteln (IQ-Testung und weitere Tests je nach
Verdachtsdiagnose) und
die Abklärung somatischer Störungen inklusive zerebraler Bildgebung bei Ersterkrankung
ist allgemeiner
medizinischer Standard. Des Weiteren sollten die bereits kurz beschriebenen Schulabsentismus-spezifischen
Fragebögen eingesetzt werden.
Therapieplanung und Therapie
In diesem Abschnitt soll zunächst auf die Studienlage zu Interventionen bei Schulabsentismus
eingegangen
werden, um dann einen Einblick in die therapeutische Praxis zu geben. Zur Studienlage
lässt sich
grundsätzlich formulieren, dass Psychotherapie, Psychopharmakotherapie und psychosoziale
Interventionen
in einer Symptomreduktion und in einer Verbesserung des Schulbesuches resultieren.
Weitere Studien zur stationären KVT weisen ebenfalls einen positiven Effekt auf den
Schulbesuch nach (z.
B. [23]). Die meisten Studien ermitteln – je nach Studienstichprobe –
Reintegrationsraten zwischen 60 und 80 %.
In der therapeutischen Praxis fokussiert die Planung und Durchführung der Behandlung
gleichzeitig und
gleichwertig auf die beiden Schwerpunkte:
Dies spiegelt sich in der Fallkonzeption wider, in der der Zusammenhang zwischen psychischer
Symptomatik
und Schulbesuch aufgeschlüsselt wird.
Die Fallkonzeption ist Teil der Therapieplanung und beinhaltet neben den o. g. anamnestischen
Informationen differenzialdiagnostische Überlegungen, die Verhaltensanalyse (Makro-
und Mikroanalyse),
Analyse der Motive und der Motivation des Patienten. In einem nächsten Schritt erfolgt
die Erstellung
eines multidimensionalen, ggf. multiprofessionellen Problemmodells aus den Vorinformationen.
Berücksichtigung finden hier nicht nur die verschiedenen psychosozialen Lebensbereiche
des Schülers,
sondern auch die Perspektive verschiedener beteiligter Professionen, z. B. Schulsozialarbeit,
Lehrer,
Sozialdienst des Jugendamtes etc. Eine grafische Darstellung des Modells lässt sich
in der Einzel- oder
Familientherapie nutzen, um ein gemeinsames Lösungsmodell, welches einen gemeinsamen
Therapieplan
beinhaltet, zu erstellen ([
Abb. 2
]).
Abb. 2 Fallbeispiel: Multiprofessionelles Problem- und Lösungsmodell für Niklas, 13 Jahre,
Patient mit der Diagnose Soziale Phobie.
Datenlage für randomisiert kontrollierte Studien mit Fokus auf Psychotherapie zur
Behandlung des
Schulabsentismus als primärem Outcome
-
Ein Abwarten (z. B. Wartelistenbedingung) führt im Vergleich mit einer verhaltenstherapeutischen
Behandlung nicht zu einer Verbesserung des Schulbesuches [17].
-
In einer Studie von Last und Kollegen fand sich für einen psychoedukativen Behandlungsansatz
sowie für einen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatz eine Verbesserung des Schulbesuches,
jedoch kein Unterschied zwische
-
n den beiden Behandlungsgruppen [18].
-
Die Effektivität von KVT nur für Schüler im Vergleich zur ausschließlichen
verhaltenstherapeutischen Beratung der Eltern ist ähnlich hoch [19].
-
Im Ein-Jahres-Beobachtungszeitraum zeigte die KVT nach Manual [20] – ähnlich wie die Standardbehandlung – signifikante Verbesserung des Schulbesuches
für psychisch Erkrankte. Bezüglich der Psychopathologie war die KVT der Standardbehandlung
überlegen [21].
-
In einer dänischen Schul-Stichprobe erbrachte die Standardbehandlung wie die
KVT-Manualbehandlung über den Beobachtungszeitraum von 3 Monaten gleichermaßen eine
Reduktion
der Fehlzeiten. Unter KVT besserte sich die Psychopathologie und die Selbstwirksamkeitserwartung
vergleichsweise ausgeprägter [22].
Limitationen der bisher vorliegenden randomisiertkontrollierten Studien zu Interventionen
bei
Schulabsentismus: Vorwiegend finden sich Studien mit kleinen Stichproben, zu Schülern
mit vorwiegend
angstbedingtem Absentismus (Schulverweigerern), im ambulanten Therapiesetting.
Für die Behandlung der psychischen Störung auf Basis des gemeinsamen Lösungsmodells
stehen verschiedene
störungsspezifische, primär verhaltenstherapeutische Manuale zur Verfügung (z. B.
zur Behandlung einer
sozialen Phobie, einer Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung etc.).
Bei der Behandlung gilt es, die störungsspezifische Therapie immer wieder in Hinblick
auf den Fokus
Reintegration in die Schule abzugleichen und anzupassen, z. B. im Rahmen des Expositionstrainings.
Im Folgenden sollen verschiedene übergreifende therapeutische Elemente aufgeführt
werden, die die
Schulreintegration fördern. Hierzu zählen:
Ordnungswidrigkeitenverfahren
Die Schule hat nach erfolgloser Ausschöpfung der pädagogischen Maßnahmen in der Regel
die Möglichkeit der
Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens. Dies soll dem Schüler und manchmal
auch den Eltern die
Konsequenzen seines Absentismus vor Augen führen. In den Fällen, wo dies nicht gegeben
ist, der
Leidensdruck des Patienten zur Veränderung sehr gering ist oder bei fehlender Motivation
zur Bearbeitung
der eigenen Probleme, kann es sinnvoll sein, mit den zuständigen Lehrern der Heimatschule
in den
Austausch zu gehen und eine solche Maßnahme zu diskutieren.
Bei Verhängung von Geldbußen für die Jugendlichen sollten die Eltern dahingehend beraten
werden, diese
nicht für ihr jugendliches Kind auszugleichen. Bei Zahlungsunfähigkeit des Jugendlichen
ist ggf. die
Umwandlung der Geldstrafe in Sozialstunden möglich.
Plan A-B-C
Nicht selten ist die Motivation zu einer (stationären) Therapie – vorwiegend bei Jugendlichen
– gering
ausgeprägt. In diesen Fällen empfiehlt sich mittels „Plan A-BC“ in Hinblick auf den
Schulbesuch,
einerseits therapeutische Grenzen zu setzen, andererseits die Autonomiebestrebungen
in diesem Alter in
die Behandlung mit einzubeziehen.
Indikation: Der Schüler bzw. Patient ist nicht bereit, eine von der Therapeutin als indiziert
gesehene, für den Betroffenen hochschwellige Behandlung in Anspruch zu nehmen (z.
B. stationäre
Therapie).
Vorgehen: Besprechen Sie mit dem Schüler die rechtliche Verpflichtung zum Schulbesuch und
versuchen Sie, seine intrinsische Motivation zur Rückkehr zu steigern. Bei Widerstand
gegen eine von
Ihnen vorgeschlagene hochschwellige Maßnahme vereinbaren Sie mit dem Schüler die Inanspruchnahme
niederschwelligerer, für ihn akzeptablerer Hilfen unter der Bedingung, dass er in
einem bestimmten
Zeitraum die Heimatschule wieder (regelmäßig) aufsucht (Plan A). Hierfür empfiehlt
sich auch das Angebot
einer Reduzierung der Belastung durch den Schulbesuch, z. B. über ein Attest über
vorerst reduzierte
Schulstunden und weitere Erleichterungen (siehe unten: Dosierung der Belastung). Bei
Nicht-Erreichen
dieses Schulbesuchsziels verpflichtet sich der Schüler per Therapievertrag zu Plan
B, der Umsetzung einer
höherschwelligeren Therapiemaßnahme. Diese ist bei oft erheblichen Wartezeiten für
eine (teil-)stationäre
Behandlung frühzeitig vorauszuplanen. Grundlegend bei diesem Vorgehen ist das kontinuierliche
Fehlzeitenmonitoring durch die Schule und/oder durch die Eltern sowie eine Rückkoppelung
zur
fallführenden Behandlerin.
Plan A-B-C
Idealziel bei Niklas, einem 13-jährigen Patienten mit deutlicher sozialer Phobie und
multiplen
familiären und schulischen Problemen, ist eine 80 %ige Anwesenheit in der Heimatschule
innerhalb der
nächsten 2 und 90 % Anwesenheit innerhalb der nächsten 3 Monate. Niklas hat vor Kurzem
eine ambulante
Behandlung begonnen. Die Therapeutin hat jedoch den Eindruck, dass diese nicht ausreicht.
Ihrer
Empfehlung einer stationären Therapie möchte Niklas nicht nachkommen. Sie vereinbart
mit ihm und den
Eltern vertraglich:
Plan A – Fortführung der ambulanten Behandlung bei gleichzeitigem Besuch der Regelschule
(80 %;
regelmäßiges Feedback vom Lehrer). Falls Niklas dieses Ziel nach einem Monat nicht
erreicht, tritt
Plan B in Kraft.
Plan B – Teilstationäre Aufnahme, Besuch der Krankenhausschule, Reintegration in die
Heimatschule. Falls das morgendliche pünktliche Erscheinen in der Tagesklinik trotz
Hilfestellungen
innerhalb von 2 Wochen nicht gelingt, verpflichtet sich Niklas zu Plan C.
Plan C – Vollstationäre Behandlung, Besuch der Krankenhausschule, Rückführung in die
Heimatschule.
Da Niklas im weiteren Verlauf mehr als 20 % Fehlzeiten aufweist, bespricht die Therapeutin
unter
Rückgriff auf den Therapievertag mit ihm und seinen Eltern die teilstationäre Aufnahme.
Weil Niklas
bereits vorsorglich auf der Warteliste der Tagesklinik angemeldet war, erhält er zeitnah
einen
Platz.
Eine solche oder ähnliche Rahmenplanung gibt Optionen vor; das übergeordnete Ziel
der Schulreintegration
bleibt gleichzeitig klar im Fokus. Das Prinzip „Autonome Wahlmöglichkeit innerhalb
klarer Grenzen“ kann
entsprechend den Bedürfnissen der unterschiedlichen Patienten angepasst werden.
Auswahl der Schule
In den meisten Situationen sollte die Reintegration in die Heimatschule angestrebt
werden. Bestimmte
Gründe können jedoch zu einem Abweichen von diesem Ziel führen:
-
In der Heimatschule erfahrenes massives, mit körperlichen Angriffen einhergehendes
Mobbing.
-
Vorliegen einer Diskrepanz zwischen der Schulform und dem Leistungs- und Intelligenzniveau
des
Schülers.
-
Mit der Schulform divergierendes soziales und emotionales Verhalten.
Schulersetzende sozialpädagogische Maßnahmen sind als Mittel der letzten Wahl zu beurteilen,
z. B. bei
überdauerndem, deutlich dissozialem Verhalten oder chronischen affektiven Störungen.
Rückkehrszenario
Der erste Schultag nach längerer Abwesenheit ist aus der subjektiven Sicht des Schülers
oft eine große
Hürde. Entsprechende Ängste und Sorgen sollten bearbeitet werden: Wie werden die Schüler/Lehrer
reagieren? Werde ich als Schulschwänzer runtergemacht? Wie kann ich meine Abwesenheit
erklären?
Ab Beginn der Behandlung sollte die Schulrückkehr thematisiert werden und im Lösungsmodell
identifizierte, den Schulbesuch beeinflussende Organismus-Variablen bearbeitet werden.
Die genaue Planung dieses ersten Tages für einen Patienten mit internalisierender
Störung, z. B.
sozialer Phobie, sollte im Rahmen des Expositionstrainings gemeinsam mit dem Schüler
und dem Lehrer
erfolgen, um Ängste zu reduzieren. Die Interaktionen mit Schülern/Lehrern in der ersten
Schulstunde
oder in der ersten Pause am ersten Tag können im Rollenspiel eingeübt werden.
Dosierung der Belastung
In der Regel empfiehlt sich eine gestufte Rückführung in die Schule im Rahmen eines
Expositionstrainings.
Die Belastung lässt sich insbesondere durch die Dauer der Anwesenheit des Schülers
in der Schule steuern.
Der Steuerung dienen auch „Auszeiten“ vom regulären Unterricht bei Verbleib in der
Schule (z. B.
zusätzliche Freiarbeit, Auszeit im Büro der Schulsozialarbeiterin). Ein ähnliches
Mittel stellen
„Joker“-Tage oder -Stunden dar. Der „Joker“ ist eine Erlaubnis, in einem begrenzten
Zeitraum für eine
begrenzte Zahl von Tagen oder zu speziellen Schulstunden der Schule fernbleiben zu
können. Eine
Aussetzung der Benotung kann insbesondere bei Leistungsängsten ein Schritt beim Expositionstraining
darstellen. Weiterhin haben sich hier bewährt: die Freistellung von angstbesetzten
mündlichen
Leistungsüberprüfungen (Referate; aufgerufen werden, ohne vorher aufgezeigt zu haben),
anderen
angstbesetzten schulischen Aktivitäten („Klassiker“: Schwimm- oder Sportunterricht)
oder die per Attest
festgehaltene Möglichkeit, den Klassenraum bei (psycho-) somatischen Beschwerden kurzzeitig
verlassen zu
können, ohne sich vorher zu melden, um sich in einem separaten Raum auszuruhen und
dann wieder in den
Unterricht zurückzukehren.
Die genannten Maßnahmen sind immer im Rahmen des verhaltenstherapeutischen Therapieplanes
verortet und
sollten bei bestehenden Vermeidungstendenzen gut abgewogen werden.
Die Kommunikation und Kooperation nicht nur mit den Lehrer*innen „auf Augenhöhe“ zu
Themen wie
Ausfallzeiten, Vorgehen am ersten Schultag nach Absentismus, Monitoring des Schulbesuches
etc. erfordert
Ressourcen, ist aber wesentlich für den dauerhaften Erfolg der Therapie.
Psychopharmakotherapie
Bei Vorliegen von Schulabsentismus aufgrund einer mittel- bis schwergradigen psychischen
Störung und
bei Nichtansprechen auf eine psychotherapeutische Behandlung ist oft eine Medikation
erforderlich. Die
Wahl und Dosierung des Psychopharmakons erfolgt ärztlicherseits entsprechend der jeweiligen
Leitlinie
zur vorliegenden psychischen Erkrankung. Die Pharmakotherapie erfolgt unabhängig vom
Stufenmodell von
Kearney und Kolleginnen [14], findet sich aber häufiger bei
Schülern, die sich in Stufe 2 oder 3 einordnen lassen.
Während die Effektivität z. B. eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI)
bei einer
gegebenen Störung, z. B. Depression, gut belegt ist, finden sich nur wenige Studien,
die den Effekt
speziell auf den Schulbesuch untersuchen. In Hinblick auf den Zielparameter Schulabsentismus
demonstrieren einige Studien für Patienten mit Angst- bzw. depressiver Störung eine
Reduktion des
Phänomens durch einerseits die Behandlung durch KVT (plus ggf. Placebo) und anderseits
die Kombination
von KVT mit Fluoxetin. Ein signifikanter Unterschied zwischen diesen beiden Behandlungsgruppen
konnte
jedoch nicht gefunden werden. In diesem Zusammenhang verweisen die Autoren auf die
geringe Fallzahl
dieser Studien, methodologische Probleme und weiteren Forschungsbedarf [24].
Bei einer mit Schulabsentismus einhergehenden psychischen Erkrankung erfolgt die Indikation
für
eine Medikation gemäß Leitlinien. Eine medikamentöse Behandlung des Schulabsentismus
ohne das
Vorliegen einer psychischen Störung entbehrt einer medizinischen und wissenschaftlichen
Grundlage.
Stufe 3 – Diagnostik und Interventionen bei schwergradigem Schulabsentismus
Die oberste Stufe bzw. Spitze der Pyramide des MT-MDSS-Modells repräsentiert Schüler
mit schwergradigem
Absentismus, z. B. mit Fehlzeiten ≥ 10 % des Schuljahres. Diese Schüler weisen einen
chronischen
Schulabsentismus auf, einige von ihnen haben bereits seit Monaten die Schule nicht
mehr besucht.
Idealerweise sollten nur relativ wenige Schüler (z. B. ≤ 5 %) einer Klasse oder Schule
in diese Kategorie
fallen.
Man kann davon ausgehen, dass der Hilfebedarf mit zunehmender Dauer des Absentismus
zunimmt, und zwar in
Hinblick auf die Anzahl der betroffenen psychosozialen Dimensionen und in Hinblick
auf den Schweregrad
der zum Absentismus beitragenden Probleme. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon
auszugehen, dass der
überwiegende Anteil der Schüler mit schwergradigem Schulabsentismus unter einer psychischen
Störung
leidet und zusätzlich in den weiteren Dimensionen (Schule, Lehrer, Peers, Familie)
deutliche Probleme
auftreten. Entsprechend werden alleinige schulische Interventionen nicht zum Erfolg
führen.
Spätestens mit Beginn eines chronischen Schulabsentismus (Stufe 3) sind folgende Strategien
zusätzlich zu
den bisherigen individuellen Stufe-2-Interventionen von Relevanz:
-
Fortführung der Stufe-2-Maßnahmen
-
Kooperation im Netzwerk durch Berücksichtigung aller und weiterer Interessenträger
(z. B.
Gerichtsbarkeit, Job-Center etc.)
-
Kooperative Arbeit im multiprofessionellen Team inklusive Case-Management
-
Kooperative Abstimmung zusätzlicher multimodaler Maßnahmen, z. B. schulersetzende
Maßnahmen
Zurück in der Heimatschule – der erste Tag
Niklas bereitet sich in der zweiten Hälfte der stationären Therapie auf die Schulrückführung
vor. Beim
sozialen Kompetenztraining hat er gute Fortschritte gemacht. Er besucht regelmäßig
die
Krankenhausschule. Seine Therapeutin spricht mit ihm darüber, wie er sich den ersten
Schultag in der
Heimatschule wünscht. Niklas möchte von der Therapeutin der Station bis kurz vor das
Schultor morgens
unauffällig begleitet werden. Ankunft in der Schule 3 Minuten vor Beginn der Schulstunde.
Mit der
Klassenlehrerin soll besprochen werden, dass er neben seinem besten Freund sitzen
kann. Er traut sich
zu, dass die Lehrerin ihn kurz explizit begrüßt und dass er 3 Sätze zu seinem Wiedererscheinen
in der
Klasse spricht. Dann soll der Unterricht direkt beginnen. Die Lehrerin ist mit dem
Vorgehen
einverstanden. In der großen Pause will Niklas bei seinem Freund stehen. Im Rollenspiel
wird mit
MitpatientInnen sowohl die Situation in der Pause als auch der Beginn der ersten Schulstunde
eingeübt
(„Worst“- bis „Best-Case“-Szenarien). Niklas soll mindestens 4 Stunden in der Schule
verbringen. Der
erste Schultag ist so gelegt, dass in der Klasse keine Leistungsüberprüfungen stattfinden.
An den Folgetagen wird die Belastung für Niklas – je nach Verlauf – sukzessive angepasst.
Möglichkeiten ergeben sich hier bezüglich der Dauer der Schulwegbegleitung, der Zeit
in der Schule,
bezüglich Leistungsüberprüfungen oder der Anzahl und Art der von Niklas initiierten
Sozialkontakte.
Kooperation im Netzwerk
Das Netzwerk der Hilfesysteme, welches zur Unterstützung des Betroffenen herangezogen
wird, richtet
sich nach der individuellen Problematik. Zu den relevanten Akteuren gehören Jugendamt,
Gesundheitsamt,
Jurisdiktion, Schule, Schulpsychologie, Dolmetscherdienste, Kulturvermittler, ambulante
und stationäre
Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie ggf. weitere
Institutionen.
Viele Gemeinden haben solche Netzwerke definiert. Sie veröffentlichen im Internet
entsprechende
Leitfäden für Betroffene, Familien und Fachkräfte. Der Austausch und das Wissen über
regionale oder
überregionale Hilfeangebote für die Betroffenen ermöglichen die Planung über die
psychiatrisch-psychotherapeutischen Bedürfnisse des Patienten hinaus.
Eine multiperspektivisch-multiprofessionelle Perspektive auf die Problematik des Schülers
(und der
Familie) bereitet den Boden für ein gemeinsames Fallverständnis, die strategische
Hilfeplanung
sowie -umsetzung.
Koordinierung im Netzwerk: Multisystemische Therapie als evidenzbasiertes Beispiel
eines
Case-Managements
Um bei gegebener Komplexität zielgerichtet handeln zu können, bedarf es eines Case-Managements.
Dieses
kann unterschiedliche Formen annehmen. Beispielhaft für ein wissenschaftlich evaluiertes
Case-Management-Konzept zur erfolgreichen Reduktion von ex- oder internalisierendem
Verhalten sowie –
im Sinne eines sekundären Outcomes – von Schulabsentismus steht die Multisystemische
Therapie (MST)
[25]. Diese aus den USA stammende Therapieform bezieht das
gesamte soziale Umfeld des Patienten in die familienfokussierte Behandlung mit ein
und koordiniert die
unterschiedlichen Hilfesysteme. Das gesamte Umfeld des Jugendlichen, d. h. Familie,
Freunde, Schule,
Nachbarschaft, stellt den MST-„Klienten“ dar. Die Eltern und Betroffenen sollen befähigt
werden,
gegenwärtige und zukünftige Probleme zu lösen. Grundannahme ist, dass Familien das
Beste für ihre
Kinder wollen und prinzipiell ihr Leben erfolgreich alleine führen können. Daraus
ergibt sich, dass
Unterstützungsleistungen durch die Hilfesysteme sukzessive wieder abgebaut werden
sollen. [
Tab. 4
] zeigt die 9 Prinzipien der MST.
Tab. 4
Prinzipien der Multisystemischen Therapie (MST).
Prinzip
|
Beschreibung
|
Passung
|
Im Rahmen einer multidimensionalen Verhaltensanalyse wird gefragt, wie das Verhalten
des
Patienten Sinn ergibt.
|
Ressourcenorientierung
|
Das MST-Team fokussiert auf Positives und Stärken.
|
Selbstverantwortung
|
Steigerung der Selbstverantwortung aller Teilnehmenden.
|
Interventionen
|
… im Hier und Jetzt, handlungsorientiert, zielgerichtet
|
Analyse
|
Was sind wiederkehrende Interaktionsmuster? Wie können sie geändert werden?
|
Struktur
|
Regeln, Konsequenzen etc. müssen der Entwicklung des Jugendlichen angemessen sein.
|
Familie
|
Familienmitglieder werden kontinuierlich zum Einsatz für ihr Kind motiviert.
|
Monitoring
|
Kontinuierliche Analyse der Behandlungsfortschritte und Anpassung der Therapie durch
die
Therapeutin.
|
Generalisierung
|
Klient und Familie werden trainiert und Werkzeuge auf den Weg gegeben, um in Zukunft
selbstständig Probleme zu lösen.
|
Eine hochstrukturierte, klinische Supervision und Qualitätssicherungsprozesse sichern
das Vorgehen
nach MST ab.
Die Wirksamkeit in Hinblick auf Schulabsentismus ist in US-amerikanischen Studienpopulationen
gut
belegt. Kinder- und Jugendpsychiatrische Behandlungskonzepte berücksichtigen häufig
die
MST-Prinzipien.
Schulersetzende Maßnahmen
Schulersetzende Maßnahmen sind außerschulische Angebote, oft für Jugendliche im letzten
Schulpflichtjahr. Sie zeichnen sich durch eine Kombination aus berufsorientiertem
Schulunterreicht und
sozialpädagogischer Betreuung aus. Die Maßnahmen finden außerhalb des Lernortes Schule
statt.
Schulersetzende Maßnahmen sollten das Mittel der letzten Wahl darstellen. Bei dieser
Intervention
besteht die Gefahr, dass sie den Betroffenen im verhaltenstherapeutischen Sinn die
Möglichkeit zur
Vermeidung aversiver Situationen und Reize bietet, wodurch sich dysfunktionales Verhalten
verstetigt.
Ein ähnliches Phänomen tritt u. U. beim sogenannten „Home-Schooling“, dem Unterricht
zu Hause durch
die Eltern auf, weshalb dieses nicht befürwortet werden kann.
Wenn der Besuch der Stammschule und die Symptomatik sich über den Zeitraum von mehreren
Monaten
stabilisiert, kann man die Psychotherapie ausschleichen und beenden.
Für die Beendigung der Psychopharmakotherapie gelten die störungsspezifischen Grundsätze.
Im Vorfeld der Beendigung empfiehlt es sich, ein Nachsorgekonzept zu entwickeln. Dieses
benennt aus
der Kenntnis der Fallkonzeption und des Therapieverlaufes „Frühwarnzeichen“ und Risikokonstellationen
für ein erneutes Einsetzen des Absentismus. Dieses Konzept wird mit dem Patienten,
Familienmitgliedern
und Lehrer erarbeitet bzw. besprochen und basiert auf einem kontinuierlichen Monitoring
des
Schulbesuches.
Ein Rückfall in dysfunktionales Verhalten indiziert eine zeitnahe Wiederaufnahme der
Therapie und
Netzwerk-Maßnahmen.