NOTARZT
DOI: 10.1055/a-2644-7557
Konsensuspapier

Prähospitaler Einsatz von Blutprodukten

Ein Positionspapier der DIVI-Sektionen „Klinische Hämotherapie und Hämostasemanagement“ und „Trauma“Prehospital Use of Blood ProductsA Position Paper of the DIVI Sections "Clinical Haemotherapy and Haemostasis Management" and "Trauma"

Authors

  • Dietmar Fries

    1   Klinische Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin, Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich (Ringgold ID: RIN27280)
    2   DIVI-Sektion “Klinische Hämotherapie und Hämostasemanagement“, Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V.,
  • Uwe Hamsen

    3   Klinik für Allgemeine- und Unfallchirurgie, BG-Universitätsklinikum Bergmannsheil, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
    4   DIVI-Sektion “Trauma“, Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V.,
 
Hinweis

Diese Publikation wurde weiterhin durch die Präsidien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie (DGAI), des Berufsverbandes deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten (BDA) und der Interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft für Klinische Hämotherapie (IAKH) konsentiert.

1.0 Einleitung

Die Transfusion allogener Blutprodukte stellt derzeit die einzige Möglichkeit dar, eine blutungsbedingte schwere Anämie und Thrombozytopenie zu behandeln. Im prähospitalen Rettungsdienst legen Studien – insbesondere Beobachtungsstudien, retrospektive Analysen und Kohortenstudien – nahe, dass eine prähospitale Transfusion möglicherweise in besonderen Situationen von Vorteil sein könnte [1] [2] [3] [4]. Dabei wird angenommen, dass eine Vorverlegung des Transfusionszeitpunkts von der Klinik in den prähospitalen Bereich die Morbidität und Letalität durch die Verfügbarkeit allogener Blutprodukte verbessern kann. Die prähospitale Transfusion allogener Blutprodukte soll dazu beitragen, die Sauerstoffversorgung zu steigern und eine traumaassoziierte Koagulopathie frühzeitig zu behandeln. Solide Evidenz aus prospektiven, randomisierten, kontrollierten Studien, die den klinischen Nutzen einer solchen prähospitalen Verabreichung allogener Blutprodukte für den europäischen, zivilen Bereich belegen, steht derzeit noch aus [5].


2.0 Herausforderungen

2.1 Logistik

Die prähospitale Transfusion wird in Europa bislang nur sehr begrenzt angewendet. Neben dem Vorteil einer frühzeitigen Gabe von Erythrozytenkonzentraten (EK) sind in der Theorie jedoch auch Plasma- bzw. Gerinnungsfaktorenkonzentrate und Thrombozytenkonzentrate erforderlich, um eine Gerinnungsstörung potenziell zu verhindern bzw. zu therapieren [6] [7]. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass es zu einer Verzögerung der präklinischen Versorgungszeit kommen könnte [8].

Die Bereitstellung von EK für Rettungsdienste ist weitaus anspruchsvoller als die von lyophilisiertem Plasma. Eine Blutbank muss eingebunden sein und die Rettungsleitstellen und Träger des Rettungsdienstes benötigen speziell geschultes Personal, um die korrekte Lagerung und die Einhaltung der Kühlketten zu überwachen. Der regelmäßige Austausch der vorgehaltenen EK muss zwingend gewährleistet werden, auch wenn diese nicht transfundiert werden. Der damit verbundene Aufwand muss sich an den gesetzlichen Vorgaben der Anwendung von Blutprodukten der Richtlinie Hämotherapie der Bundesärztekammer (BÄK) orientieren [6]. Die Vorhaltung und das Mitführen von allogenen Blutprodukten ist zudem nicht nur kostenintensiv, sondern auch arbeitsaufwendig. Eine angemessene Lagerung, Kühlung und Dokumentation sowie die Möglichkeit, vor Ort Tests am Patienten durchzuführen (zum Beispiel Kontrolle des Hämoglobinwerts [Hb]), sind dabei wichtige Voraussetzungen.


2.2 Produktspezifische Besonderheiten

Frischplasma (FFP) hat aufgrund der notwendigen Kühllagerung und Aufwärmzeit erhebliche Nachteile für die prähospitale Anwendung. Die Nutzung von lyophilisiertem (gefriergetrocknetem) Plasma als Trockensubstanz hat zwar prinzipiell Vorteile, allerdings muss es vor der Verwendung zeitaufwendig rekonstituiert werden. Zudem wird lyophilisiertes Plasma in Glasflaschen gelagert. Dadurch ist eine Druckinfusion nicht möglich [9] [10]. Das Plasma müsste erst wieder in Infusionsbeutel umgefüllt werden, die eine Druckinfusion zulassen. Bei der Transfusion größerer Mengen an Blutprodukten kann das enthaltene Citrat zu einer Hypokalzämie führen, was die Gerinnung zusätzlich beeinträchtigen kann. Auch kann es je nach Alter der EK zu einem Anstieg des Kaliumspiegels kommen. Frischplasma wird zur Behandlung eines Fibrinogenmangels nicht empfohlen [6]. Ein Fibrinogenmangel stellt jedoch in der Regel die erste Gerinnungsstörung bei einer traumaassoziierten Blutung dar [11].


2.3 Kompatibilität von Blutprodukten

Ein Bedside-Test (auch AB0-Sicherungs- oder Patientenidentifikationstest genannt) ist in der Regel immer unmittelbar vor einer Bluttransfusion erforderlich, um Verwechslungen und lebensgefährliche Transfusionsreaktionen zu vermeiden. Dennoch gibt es einige wenige Ausnahmesituationen, in denen kein Bedside-Test durchgeführt wird oder werden kann: Wenn eine sofortige Transfusion nötig ist und keine Zeit für eine prätransfusionelle Testung bleibt, wird beispielsweise 0 RhD-negatives Blut (Universalspender) ohne vorherigen Bedside-Test transfundiert [6]. Da eine Blutgruppenbestimmung prähospital nicht möglich ist, muss nichtsdestotrotz unbedingt eine prätransfusionelle Kreuzblutentnahme erfolgen, um eine nachträgliche Blutgruppenbestimmung zu ermöglichen, sodass perspektivisch dann blutgruppenkompatibel transfundiert werden kann.


2.4 Ausbildung

In klinischen Situationen, in denen ein stark blutender Patient unter herausfordernden Bedingungen stabilisiert und schnellstmöglich transportiert werden muss, ist ein eingespieltes, speziell und fundiert ausgebildetes Rettungsdienstteam für die prähospitale Hämotherapie erforderlich. Dadurch können zeit- und personalintensive Verfahren auf ein Minimum reduziert werden, sodass der Fokus auf die Maßnahmen zur Stabilisierung der Vitalfunktionen und Herstellung der Transportstabilität gelegt werden kann. Die Einführung neuer prähospitaler Verfahren erfordert eine umfassende Schulung des gesamten Personals, um sicherzustellen, dass Blutprodukte – insbesondere in Notfallsituationen – sachgerecht verwendet werden. Dies betrifft in Bezug auf die Indikationsstellung und Anwendung der Blutprodukte das ärztliche Personal, aber auch Notfallsanitäter, die meist keine Erfahrung im Umgang mit Blutprodukten (Lagerung, Dokumentation) haben und entsprechend geschult werden müssen [12].


2.5 Kosten

Aufgrund der logistischen und inhaltlichen Anforderungen sind flugmedizinische Stützpunkte oder Medical Intervention Cars (MIC) am besten geeignet, um prähospitale Blutprodukte bereitzustellen und anzuwenden. Kostenschätzungen für prähospitale Plasmatransfusionen deuten darauf hin, dass hierfür bis zu 30 000 € pro Stützpunkt und Jahr aufgebracht werden müssen [13]. In einer anderen Studie variieren die durchschnittlichen Kosten pro Einheit Plasma zwischen 40 € und 200 € [12]. Aufwendiger gestaltet sich jedoch die Transfusion von EK, da hierfür nach wie vor eine Anbindung an eine Blutbank erforderlich ist. Laut Berechnungen von Bodnar et al. betragen die effektiven Kosten für jedes transfundierte EK 550,– € [14]. Die Deutsche Rettungsflugwacht (DRF) rechnet mit Kosten von 500,– € bis 1000,– € pro Patient (persönliche Mitteilung des leitenden Hubschrauberarztes).


2.6 Versorgungsicherheit

Bereits jetzt kommt es im klinischen Alltag zu regionalen und saisonalen Versorgungsengpässen bei der Bereitstellung von EK und FFP im klinischen Alltag. In der Klinik steht jederzeit geschultes Personal sowie die notwendige Diagnostik für die sichere Anwendung von Blutprodukten zur Verfügung. Dennoch kommt es zu Fehltransfusionen und Fehlanwendungen, beispielsweise in Form von Übertransfusionen sowie zu Verwurfraten von ca. 2–7 % [15]. In Deutschland liegt die Rate an AB0-inkompatiblen Fehltransfusionen im Vergleich zu Frankreich und England um ein Vielfaches höher (anstelle von 2–10 Fällen gibt es 14–39 Fälle) [16]. Ähnlich wie bei der innerklinischen Hämotherapie muss auch im prähospitalen Einsatz ein Anstieg des Verwurfs von Blutprodukten und der Fehltransfusionsraten vermieden werden.


2.7 Qualitätssicherung

Neben den obengenannten patienten- und anwenderseitigen Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Hämotherapie stellt die in Deutschland vorgeschriebene Struktur des Qualitätssicherungssystems laut Transfusionsgesetz eine große Herausforderung für die prähospitale Bereitstellung von Blutprodukten dar. Strukturelle Vorgaben zu den Funktionsträgern und Elementen der Qualitätssicherung (Transfusionskommission, Qualitätsbeauftragter Hämotherapie, Qualitätsbericht an die Landesärztekammern [LÄK]) erfordern eine Rechtsbarkeit des Trägers der Einrichtung und die Einforderung durch die Aufsichtsbehörde. Eine sektorübergreifende und überregionale Regelung existiert derzeit nicht. Die Transfusionsverantwortlichen und Qualitätsbeauftragten Hämotherapie des Rettungsdienstes können die Registrierung und Erfassung von Qualitätskriterien wie Transfusionsreaktionen, Erfolgskontrollen, Prozessfehlern etc. ohne Zugriff auf die Daten der weiterversorgenden Einrichtungen nur mit erheblichem Aufwand erfüllen, da der Rettungsdienst in die stationäre Weiterbehandlung des Patienten nicht mehr involviert ist.

Zusammengefasst wird sich die Einführung eines neuen prähospitalen Versorgungskonzepts mit allogenen Blutprodukten den juristischen Vorgaben zur Konformität mit der geltenden Rechtsprechung stellen müssen.



3.0. Allogene Blutprodukte

3.1 Prähospitale allogene Erythrozytentransfusion

In den letzten Jahren wurden mehrere Studien zur Wirksamkeit der prähospitalen Transfusion von EK veröffentlicht, wobei die meisten dieser Studien retrospektiv durchgeführt wurden. Rehn et al. zeigten 2015 in einer retrospektiven Analyse mit Daten aus dem Großraum London, dass es nach prähospitaler EK-Transfusion sowohl in der adjustierten als auch in der nicht adjustierten Analyse keinen Einfluss auf das Gesamtüberleben gab, aber die prähospitale Transfusion von nur 2 EK die prähospitale Mortalität von 42,2 % auf 27,6 % senken konnte [2].

In einer prospektiven Kohortenstudie an mehreren Hubschrauberstützpunkten stellten Peters et al. ebenfalls keinen Überlebensvorteil durch die prähospitale EK-Transfusion fest. Obwohl der Hb-Wert der transfundierten Patienten bei der Ankunft im Schockraum höher war (8 g/dl vs. 6,5 g/dl), hatte dies keinen Einfluss auf die gemessenen Vitalparameter. Die Transportzeit war in der Transfusionsgruppe relevant verlängert (71 vs. 84 min) [8]. Holcomb et al. zeigten in einer weiteren retrospektiven Analyse, dass die prähospitale Transfusion lediglich einen positiven Effekt auf das Kurzzeitüberleben hatte, jedoch keinen Vorteil für das Gesamtüberleben darstellte [1]. Shackelford et al. berichteten in einer retrospektiven Analyse über eine Reduktion der 24-Stunden- und 30-Tage-Sterblichkeit bei schwer verletzten Patienten während Kampfhandlungen in Afghanistan im Zusammenhang mit der prähospitalen Transfusion von 1 Unit EK mit oder ohne 1 Unit Plasma. Dabei hatten sowohl transfundierte als auch nicht transfundierte Patienten Hb-Werte von über 12 g/dl und lagen somit deutlich oberhalb der üblichen Transfusionsauslöser [3]. Es bleibt also fraglich, welche Relevanz die Transfusion von einer Unit EK bei Nichtvorliegen einer schweren Anämie hat und ob die Ergebnisse aus Kriegsszenarien auf den zivilen Rettungsdienst übertragbar sind, denn in nahezu allen Studien zur prähospitalen Transfusion wurden die empfohlenen Transfusionstrigger von 7–9 g/dl weit überschritten [11].

Es ist anzunehmen, dass der beobachtete Nutzen primär auf den Volumeneffekt zurückzuführen ist und nicht auf die Verabreichung von Blutprodukten an sich. Dabei sind sich alle Fachgesellschaften jedoch einig, dass allogene Blutprodukte nicht zur Volumen- oder Flüssigkeitstherapie eingesetzt werden dürfen.


3.2 Prähospitale allogene Transfusion von gefrorenem Frischplasma

Der Effekt einer prähospitalen Plasmatherapie wurde in mehreren großen Studien untersucht, jedoch sind die Ergebnisse bislang wenig überzeugend. Moore et al. kamen in der COMBAT-Studie zu dem Schluss, dass die prähospitale Plasmatherapie bei keinem der untersuchten Endpunkte, einschließlich der Mortalität, Vorteile bietet [17]. Sperry et al. konnten in der PAMPER-Studie zwar einen Überlebensvorteil für die Plasmagruppe nachweisen. Allerdings wies die Studie eine sehr hohe Mortalitätsrate (25,2 % bzw. 33 %) auf, selbst bei Patienten mit vergleichsweise moderaten Verletzungen (Verletzungsschwere [ISS] 21 bzw. 22) [4]. In Mitteleuropa würde man bei dieser Verletzungsschwere eine deutlich geringere Sterblichkeitsrate erwarten. In mehreren Folgeanalysen wurden die kombinierten Daten von COMBAT und PAMPER untersucht. Unter anderem wurde ein Effekt vor allem bei Transportzeiten > 20 Minuten festgestellt [18]. Die Metaanalyse von Hamed et al. ergab im Vergleich von „EK alleine“ vs. „Plasma alleine“ vs. „EK + Plasma“, dass nur in der „Plasma alleine“-Gruppe ein signifikant besseres 24-Stunden- und > 30-Tages-Überleben zu verzeichnen war [19]. Auch hier ist nicht auszuschließen, dass der Volumeneffekt und nicht die plasmaspezifische Wirkung für den Nutzen verantwortlich war.


3.3 Kombinierte prähospitale allogene Transfusion von EK und FFP

In der RePHILL-Studie von Crombie et al. wurde die kombinierte Transfusion von EK und Plasma mit einer reinen kristalloiden Flüssigkeitsersatztherapie verglichen [5]. Die Ergebnisse zeigten, dass die allogene Transfusion von EK und Plasma keinen klinischen Vorteil gegenüber einer reinen kristalloiden Flüssigkeitsersatztherapie hatte. Weder die Morbidität noch die Mortalität wurden beeinflusst. Auch bei der Aufnahme in die Notaufnahme zeigten sich durch die prähospitale Transfusion von FFP und Erythrozyten keine Verbesserungen bei Schock, Azidose oder Hämostase. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die FFP-Transfusion nicht zur Behandlung eines Fibrinogenmangels empfohlen wird, der als ein wesentlicher Bestandteil der traumabedingten Koagulopathie gilt [11]. Die prospektive Multicenterstudie von Tucker et al. aus England zeigte bei medianem ISS um 30 für die Gruppen, die EK + Plasma erhielten, ein deutlich besseres Überleben als für die Gruppe, die nur EK erhielt; dieser Effekt war besonders bei penetrierenden Traumata ausgeprägt [20].

Neben der geringen Wirksamkeit sind mit der Verabreichung von FFP auch einige Nachteile und Risiken verbunden: So steigt das Risiko für akutes Atemnotsyndrom (ARDS), Lungenentzündung, nosokomiale Infektionen, Multiorganversagen und Mortalität nach der FFP-Transfusion deutlich an [21] [22].


3.4 Alternativen zur prähospitalen allogenen Transfusion

Aus praktischen Gründen stellt die On-Scene-Therapie des massiv blutenden Traumapatienten mit lyophilisiertem Plasma anstelle von FFP die erste Option dar. Derzeit sind 4 Präparate international zugelassen (French FDP [FLyP], German FDP [LyoPlas], Canadian FDP [CFDP], South-African Bioplasma [FDP]). Eine Vielzahl weiterer Präparate ist in Entwicklung [23]. Allerdings ist die Verwendung von Glasflaschen – wie oben ausgeführt – nur bedingt prähospital geeignet. Zudem ist zu beachten, dass lyophilisiertes Plasma nicht zur Behandlung von Gerinnungsstörungen zugelassen ist, für die es bereits Einzelfaktorenkonzentrate gibt [24]. Bei traumaassoziierten Gerinnungsstörungen ist ein Fibrinogenmangel – insbesondere in der Anfangsphase – die wahrscheinlichste Ursache für eine traumatische Koagulopathie. In der RETIC-Studie konnten Innerhofer et al. nachweisen, dass die frühzeitige Verabreichung von Fibrinogenkonzentrat gegenüber der FFP-Transfusion bei der Behandlung eines schweren Gerinnungsversagens und zur Vermeidung von Massivtransfusionen bei Patienten mit Mehrfachtrauma überlegen ist [25]. Die FIinTIC-Studie, eine prospektive, randomisierte und placebokontrollierte Untersuchung, zeigte zudem, dass die Verabreichung von Fibrinogen auch in der prähospitalen Phase durchführbar ist und mithilfe der Thromboelastometrie (ROTEM) eine traumaassoziierte Koagulopathie verhindert werden kann [26].


3.5 Vollbluttransfusion

Die großflächige Anwendung von Vollbluttransfusionen begann während des Ersten Weltkriegs, als die US-Armee zur Behandlung von Schockzuständen die Verabreichung mit Citrat konserviertem Vollblut (WB) einführte. Ohne Trennung der Blutbestandteile verlieren die Thrombozyten im Vollblut jedoch spätestens nach 72 Stunden ihre Funktionsfähigkeit. Zudem nimmt die Aktivität der Gerinnungsfaktoren, insbesondere der Faktoren V und VIII, innerhalb von 20 Tagen auf etwa 25 % ab. In den ersten 6 Stunden nach der Blutspende wird das Vollblut als „Warmblut“ bezeichnet, bis zu 72 Stunden nach der Spende gilt es als „frisches Vollblut.“ Die maximale Lagerdauer von Vollblut beträgt 21 Tage.

In den letzten Jahren wurde Vollblut der Blutgruppe O mit niedrigem Titer (LTOWB, Low-Titer O Whole Blood) in mehreren Flugrettungssystemen eingeführt, beispielsweise in Norwegen, wo die Geografie aus Fjorden, Bergen und einer verstreuten Bevölkerung zu langen Transportzeiten ins Krankenhaus führt. Einige Experten argumentieren, dass die Gabe von Vollblut in kritischen Situationen effektiver sein könnte als die Verabreichung einzelner Blutkomponenten wie EK oder Plasma, da es die „natürliche“ Zusammensetzung des Blutes besser nachahmt und so auch die Sauerstofftransportkapazität verbessert [27].

Bislang gibt es jedoch keine Ergebnisse aus randomisierten, kontrollierten Studien zur Wirksamkeit prähospitaler Vollbluttransfusionen, insbesondere im zivilen Notfallkontext. Die meisten Hinweise stammen aus Erfahrungen der militärischen Notfallmedizin sowie aus Beobachtungsstudien und Fallberichten im zivilen Bereich [28] [29]. Somit ist die klinische Überlegenheit der Anwendung von Vollbluttransfusionen gegenüber Komponentenbluttransfusionen in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur nicht bewiesen. Dafür bestehen allerdings erhebliche Sicherheitsbedenken (z. B. das Risiko einer Alloimmunisierung). In den meisten europäischen Ländern liegt keine Zulassung vor und die Infrastruktur für die Sammlung und Aufbereitung von Vollblutkonserven steht aktuell nicht flächendeckend zur Verfügung [30].



4.0 Schlussfolgerung

Zweifellos gibt es Patienten, die von einer möglichst frühen Transfusion mit allogenen Blutprodukten profitieren könnten. Abhängig vom loko-regionalen Rettungsdienstsystem und insbesondere der Erreichbarkeit von Traumazentren variiert die zu erwartende Einsatzhäufigkeit und Effektstärke jedoch. Derzeit werden in Deutschland auf neun von 86 Rettungshubschraubern (zwei ADAC, zwei BMI und fünf DRF) Rettungshubschraubern Blutprodukte mitgeführt, die diese jeweils im Durchschnitt einmal alle 5–6 Wochen angewendet werden. Mittels unterschiedlicher Schockdefinitionen wurde anhand von Daten des TraumaRegisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) ein potenzieller Bedarf von 300 bis knapp 1800 Patienten pro Jahr in Deutschland berechnet [31]. Um bessere Daten für diese Optionen zu erhalten, wurde unter dem Dach der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND) das BINAR (Blut Im Notarztdienst Register) initiiert [32]. Alle prähospitalen Transfusionen sollen dort erfasst werden (Kontakt: binar@band-online.de). Vollblut oder sogar LTOWB sind in den meisten zivilen Blutbanken oder Rettungsdiensten nicht verfügbar.

Der aktuelle Stand der Wissenschaft zeigt, dass die Gabe von prähospitalen EKs, Vollblut oder LTOWB keinen Vorteil gegenüber der Gabe von Einzelkomponenten bietet. In den Studien zur prähospitalen Transfusion von Erythrozyten wurden die empfohlenen Transfusionsgrenzwerte nahezu ausnahmslos überschritten. Die prähospitale Transfusion von Erythrozyten ist zudem logistisch komplex und kostspielig.

Auch für die prähospitale Therapie mit Plasma gibt es derzeit keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz. In Zukunft könnte die Behandlung mit Fibrinogenkonzentrat in der prähospitalen Phase eine Rolle spielen, auch weil mittlerweile einfache Point-of-Care-Verfahren zur Bestimmung von Fibrinogenkonzentrationen bereitstehen, die einen zielgerichteten Einsatz erlauben (z. B. qLabs FIB, Diagnostica Stago R&D, Gennevilliers, France).

Zusammengefasst lässt sich die prähospitale Vorhaltung und Transfusion von Blutprodukten aufgrund der vorliegenden Evidenz weder unkritisch noch vollumfänglich empfehlen. Um die geltenden Transfusionsbestimmungen unter Einschluss von Sicherheitsaspekten und der notwendigen Qualitätssicherung zu beachten, erscheint dies derzeit nur für an Zentren angebundene, spezialisierte Rettungsmittel (z. B. RTH, MIC) mit dringend empfohlener Eingabe der Daten in das BINAR und als „Bridging“ bis zur innerklinischen Versorgung praktikabel.



Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. Uwe Hamsen
BG-Universitätsklinikum Bergmannsheil, Ruhr-Universität Bochum, Klinik für Allgemeine- und Unfallchirurgie
Bürkle de la Camp-Platz 1
44789Bochum
Deutschland   

Publication History

Article published online:
18 September 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany