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DOI: 10.1055/a-2654-8819
Schwerpunktbildung nach der Facharztweiterbildung Psychiatrie und Psychotherapie – Pro
Pro
Das Fach Psychiatrie entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ursprünglich gemeinsam mit der Neurologie aus der Inneren Medizin heraus. Die enge Verwandtschaft beider Fächer wird durch die früher verbreitete Doppelqualifikation der Nervenheilkunde zum Ausdruck gebracht. Die NervenärztInnen waren und sind insbesondere im niedergelassenen Bereich als GeneralistInnen besonders gut in der Lage eine breite Versorgung sicherzustellen. Im Laufe der Zeit entwickelten sich jedoch beide Fächer umfangreich weiter, so dass eine Beherrschung der Psychiatrie und der Neurologie in der Tiefe durch eine Person nicht mehr möglich war. Seit nunmehr 30 Jahren ist die Doppelqualifikation nicht mehr vorgesehen und in absehbarer Zeit wird es keine praktizierenden NervenärztInnen mehr geben. Parallel dazu erfuhr die psychiatrische Weiterbildung eine erhebliche Erweiterung durch die Integration der Psychotherapie, die früher lediglich eine fakultative Zusatzweiterbildung war. Erst damit entstand vor gut 30 Jahren das heutige Fach „Psychiatrie und Psychotherapie (PP)“. Seitdem hat sich die Psychotherapie deutlich weiterentwickelt: Neben den Richtlinienverfahren sind zunehmend evidenzbasierte, störungsorientierte Verfahren in den Fokus gerückt, die bei der Behandlung psychiatrischer PatientInnen eine zentrale Rolle spielen. Zudem wird in den letzten Jahren die Entwicklung einer modularen Psychotherapie für die Akutbehandlung vorangetrieben, um eine flexible und patientInnenzentrierte Versorgung zu gewährleisten [1]. Psychotherapie ist aber bei weitem nicht der einzige Bereich, bei dem eine zunehmende Akkumulation an Wissen, Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten zu verzeichnen ist. Auch im Bereich der biologisch-psychiatrischen Behandlungsverfahren, wie die Pharmakotherapie und Neurostimulation, sind Wissen und Spezialisierungsgrad deutlich gewachsen.
Desweiteren bringt die demografische Entwicklung mit sich, dass die Alterspsychiatrie immer mehr an Bedeutung gewinnt. Hier sind sowohl spezielle psychotherapeutische Kompetenzen als auch fundierte somatische Kenntnisse und Kompetenzen erforderlich. Aktuell stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die bei den neurodegenerativen Erkrankungen die Möglichkeit krankheitsmodifizierender Behandlungen eröffnet. Diese Entwicklung macht spezielle Erfahrungen und Kompetenzen in Frühdiagnostik und Behandlungsmonitoring notwendig und unterstreicht die Bedeutung spezialisierter Strukturen wie die Gedächtnisambulanzen [2]. Ein weiterer Bereich mit einem hohen Spezialisierungsgrad ist die Suchtmedizin mit ihren komplexen Behandlungsansätzen und dem starken Maß an Interdisziplinarität, die spezifische Kenntnisse und Erfahrungen erfordern. Und schließlich gibt es den Bereich der forensischen Psychiatrie, der immer mehr wächst und an Bedeutung gewinnt. Hier sind besondere Kenntnisse und Erfahrungen an den Schnittstellen zwischen Medizin und Recht und Kompetenzen in der langfristigen Behandlung und Rehabilitation von Schwerstkranken gefragt.
In der Gesamtschau hat sich die PP zu einem „großen Fach“ entwickelt, das zunehmend Spezialisierungen – wie auch bei anderen großen medizinischen Disziplinen – erfordert. Die PP-FachärztInnen haben zwar als GeneralistInnen den Überblick über das Fach, sie können jedoch in bestimmten Bereichen nicht mehr das ganze Spezialwissen besitzen und laufend aktualisieren. Diese Entwicklung ist im Krankenausbereich bereits seit langem sichtbar: So sind in großen Fachkliniken Abteilungen für Allgemeine Psychiatrie, Suchtabteilungen, gerontopsychiatrische sowie forensische Abteilungen etabliert. Dadurch wird die Expertise in den jeweiligen Gebieten gezielt vertieft und fokussiert. Auch ist die Diskussion um die Etablierung von formalen Qualifizierungen und Schwerpunkten nach der Facharztweiterbildung keineswegs neu. Vielmehr wurde innerhalb der Fachgesellschaft DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) seit mindestens 25 Jahren wiederholt über die Notwendigkeit der Vertiefung von fachlicher Expertise im Sinne der Etablierung und Weiterentwicklung von Qualitätsstandards in Spezialisierungen diskutiert. Von dieser Entwicklung wird zurecht eine weitere Beförderung der Forschung und damit schnellere Entwicklung neuer evidenzbasierter Behandlungen in den jeweiligen Bereichen erwartet. Für die PatientInnen bedeutet dies die Perspektive einer besseren Versorgung, die auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert.
Im Jahr 2000 wurde in einem ersten Schritt das Zertifikat „Forensische Psychiatrie“ der DGPPN eingeführt, und drei Jahre später wurde der Schwerpunkt „Forensische Psychiatrie“ etabliert. Dieser ist heute immer noch der einzige Schwerpunkt im psychiatrischen Fachgebiet und er wird von ca. 2% der PP-FachärztInnen erworben [3]. Theoretisch mögliche Nachteile für FachärztInnen ohne die Schwerpunktanerkennung, dass sie z. B. als GutachterInnen vor Gericht nicht mehr akzeptiert würden, sind bislang ausgeblieben. Für die Bereiche der Suchtmedizin und der Gerontopsychiatrie wurde seit Ende der 2000er Jahre auch wiederholt über mögliche Entwicklungen in Richtung Zertifikate und Schwerpunkte diskutiert. Im Jahr 2012 wurde ein gemeinsames Zertifikat „Gerontopsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik“ der DGPPN und der DGGPP (Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie) etabliert, welches seitdem zunächst rege, und zuletzt weniger häufig, aber weiterhin regelmäßig nachgefragt und vergeben wird (DGPPN, interne Auswertungen). Auch hier gibt es aus der Praxis keine Hinweise auf Nachteile für FachärztInnen, die kein Zertifikat besitzen, weder im Sinne einer möglichen Einschränkung einer Weiterbildungsbefugnis für die grundständige Facharztweiterbildung, noch in Bezug auf Leistungsabrechnungen in der Vertragsarztpraxis. Im Mai dieses Jahres wurde beim Deutschen Ärztetag ein Antrag eingereicht, um eine Interdisziplinäre Zusatzweiterbildung oder einen Schwerpunkt „Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ zu etablieren [4]. Schließlich ist die Spezielle Psychotherapie ein weiterer Bereich, der neuerdings aufgrund der vielfältigen Entwicklungen als möglicher Schwerpunkt im Anschluss an die Facharztweiterbildung diskutiert wird.
In der Zusammenschau ist es sinnvoll und überfällig, die vielfältigen Facetten des Fachs Psychiatrie und Psychotherapie mit der Entwicklung weiterer Zertifikate auf dem Weg zur Etablierung von Zusatzweiterbildungen und Schwerpunkten weiter zu schärfen und sichtbar zu machen. Gleichzeitig muss gesichert sein, dass in der grundständigen Facharztweiterbildung weiterhin ausreichend Kenntnisse und Erfahrungen in allen Bereichen vermittelt werden, so dass jeder Facharzt/jede Fachärztin auch ohne Schwerpunktanerkennung künftig alle PatientInnen in der Vertragsarztpraxis grundversorgen kann und nur punktuell weitervermitteln muss. Ebenfalls sollen die weiterbildungsbefugten ÄrztInnen auch ohne Schwerpunktanerkennungen künftig die nächste Generation von WeiterbildungsärztInnen zu FachärztInnen grundqualifizieren dürfen. Über die fachärztliche Qualifikation hinaus ist es aber wichtig, tiefergehende Expertisen in den verschiedenen, zunehmend spezialisierten Bereichen zu stärken, besondere Diagnostik- und Behandlungsstandards zu etablieren und das Fach insgesamt weiterzuentwickeln. Dies wird auch dazu beitragen, die Attraktivität des Faches für den Nachwuchs in einer zunehmend spezialisierten Medizinlandschaft zu steigern. Schließlich wird diese Entwicklung Transparenz über Kompetenzen im Arzt-Patientenverhältnis schaffen und damit das Vertrauen und die Qualität der Versorgung nachhaltig fördern.
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Literatur
- 1 Herpertz SC, Schramm E. Modulare Psychotherapie: ein mechanismus-basiertes, personalisiertes Vorgehen. Stuttgart: Schattauer; 2022
- 2 Hausner L, Frölich L, von Arnim CAF. et al. Deutsches Netzwerk Gedächtnisambulanzen. Gedächtnisambulanzen in Deutschland – strukturell-organisatorische Voraussetzungen und Aufgabenfelder. Nervenarzt 2021; 92: 708-715
- 3 Bundesärztekammer. 129. Deutscher Ärztetag 2025, Beschlussprotokoll. Beschlussprotokoll des 129. Deutschen Ärztetages 2025; zuletzt aufgerufen 18.07.2025
- 4 Bundesärztekammer. Ärztestatistik 2004. Ärztestatistik 2024; zuletzt aufgerufen 18.07.2025
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Publication History
Article published online:
16 September 2025
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Literatur
- 1 Herpertz SC, Schramm E. Modulare Psychotherapie: ein mechanismus-basiertes, personalisiertes Vorgehen. Stuttgart: Schattauer; 2022
- 2 Hausner L, Frölich L, von Arnim CAF. et al. Deutsches Netzwerk Gedächtnisambulanzen. Gedächtnisambulanzen in Deutschland – strukturell-organisatorische Voraussetzungen und Aufgabenfelder. Nervenarzt 2021; 92: 708-715
- 3 Bundesärztekammer. 129. Deutscher Ärztetag 2025, Beschlussprotokoll. Beschlussprotokoll des 129. Deutschen Ärztetages 2025; zuletzt aufgerufen 18.07.2025
- 4 Bundesärztekammer. Ärztestatistik 2004. Ärztestatistik 2024; zuletzt aufgerufen 18.07.2025

