Psychiatr Prax 2025; 52(06): 301-303
DOI: 10.1055/a-2657-9858
Editorial

Integrated Youth Mental Health Services – Neue Hoffnung für junge Menschen mit psychischen Krisen

Integrated Youth Mental Health Services – New hope for young people experiencing mental health crises
Andreas Bechdolf
1   Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik mit FRITZ am Urban & soulspace, Vivantes Klinikum Am Urban und Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin
2   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, CCM, Charité Universitätsmedizin Berlin, corporate member of Freie Universität Berlin and Humboldt-Universität zu Berlin
3   Deutsches Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG), Standort Berlin-Potsdam, Berlin
,
Christoph U. Correll
3   Deutsches Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG), Standort Berlin-Potsdam, Berlin
4   Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, CVK, Charité Universitätsmedizin Berlin, corporate member of Freie Universität Berlin and Humboldt-Universität zu Berlin
,
Peter J. Uhlhaas
3   Deutsches Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG), Standort Berlin-Potsdam, Berlin
4   Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, CVK, Charité Universitätsmedizin Berlin, corporate member of Freie Universität Berlin and Humboldt-Universität zu Berlin
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Jugendliche und junge Erwachsene tragen das höchste Risiko psychisch zu erkranken, haben aber den geringsten Zugang zu Hilfe

Psychische Erkrankungen gehen für die Betroffenen und ihre Angehörigen mit besonders großen Belastungen und für die Gesellschaft mit besonders hohen Kosten einher [1]. Etwa jeder Dritte in der Bevölkerung ist von psychischen Erkrankungen einmal im Leben betroffen, wobei etwa Zweidrittel der psychischen Erkrankungen vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr beginnen [2]. Bisher steht die Behandlung der ausgebildeten Krankheitsstadien im Vordergrund der Versorgung, obwohl die Therapieeffekte bei den voll ausgebildeten Störungsbildern im Erwachsenenalter nur moderat sind und die soziale Behinderung in der Regel deutlich vor der Manifestation des Vollbildes einsetzt. Die Fokussierung der klinischen Angebote auf das ältere Erwachsenenalter führt dazu, dass diese Angebote von jungen Hilfesuchenden nur etwa halb so häufig in Anspruch genommen werden, wie von älteren Erwachsenen und die Abbruchquoten der Behandlungen bei jungen Hilfesuchenden besonders hoch sind [3]. Der derzeitige Schwerpunkt der Versorgungsstruktur steht im Widerspruch zu verschiedenen Studienergebnissen die zeigen, dass Frühintervention bei psychischen Störungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter besonders effektiv ist [4] und dass das Jugend- und das junge Erwachsenenalter eine „sensitive Phase“ der Gehirn- und psychosozialen Entwicklung ist. Eine frühzeitige Intervention ist demnach für die langfristige psychosoziale Entwicklung der jungen Menschen besonders bedeutsam und effektiv.

Vor diesem Hintergrund formulieren viele namhafte Expertinnen und Experten, u. a. Kommissionen der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) des Weltwirtschaftsforums (WWF) und der Fachzeitschrift Lancet, die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in Psychiatrie und Psychotherapie zu einem Fokus auf „Youth Mental Health“ und fordern eine Anpassung der klinischen Versorgungsangebote an die Bedarfe von jungen Menschen [5] [6] [7].


Integrated Youth Mental Health Services als erster akzeptabler und wenig stigmatisierender Kontakt mit psychiatrischen Hilfsangeboten

Die Expertenkommissionen empfehlen, spezielle Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene mit psychischen Krisen im Alter von 12 bis 25 bzw. 15 bis 28 Jahren zu implementieren [6]. Für diese Zielgruppe sollen jugendfreundliche, niederschwellige und integrierte Versorgungsangebote (Integrated Youth Mental Health Services, IYMHS) implementiert werden, um die Inanspruchnahme von Hilfe und das Potenzial von Frühinterventionen in dieser vulnerablen Population zu erhöhen. Im Sinne der IYMHS „integriert“ werden sollen dabei die Perspektive von Nutzenden und Professionellen, niederschwellige Beratung mit klinischen Angeboten, erwachsenen- und kinder-/jugendpsychiatrische Behandlung, sowie symptom- und inklusionsfokussierte Interventionen. Zudem sollen Peer-Support und Angebote für Angehörige bestehen. Digitale Angebote sollen den niederschwelligen und möglichst breitflächigen Zugang zu Hilfe zusätzlich erleichtern.


Weltweite Implementationsbewegung und erste positive klinische Befunde

Mittlerweile bestehen weltweit in etwa 20 Ländern, überwiegend mit hohem Einkommen, IYMHCs. Die International Association for Youth Mental Health (IYAMH), eine paritätisch mit jungen Nutzenden und Professionellen besetzte Organisation, setzt sich für die weltweite Implementierung ein. Das umfangreichste Angebot für IYMHS stellt das australische headspace-Programm dar, das schon 2007 gegründet wurde und das mittlerweile von der australischen Bundesregierung an 169 Standorten gefördert wird. Viele niederschwellige Anlaufstellen bestehen auch in Kanada, Irland, den Niederlanden und Dänemark [6]. Laut ersten Daten gibt es Hinweise, dass IYMHS tatsächlich den Zugang zu psychologischer/psychotherapeutischer/psychiatrischer Hilfe erleichtern und auch von besonders vulnerablen Gruppen (Personen mit Migrationshintergrund, aus einkommensschwachen Familien, die nicht erwerbstätig oder nicht in Ausbildung sind, oder LGBTQ+) in Anspruch genommen werden. Junge Menschen, die IYMHS besuchen, berichten im Allgemeinen, dass sie von diesen Angeboten profitierten und sehr zufrieden mit der Beratung und/oder Behandlung waren [8] [9]. Erste Evaluationsstudien belegen eine klinisch relevante Verbesserung des psychosozialen Stress-Levels, der sozialen und beruflichen Funktionalität sowie der Lebensqualität der meisten Nutzenden, wenn auch noch Bedarf an methodisch hochwertigen Evaluationsstudien besteht [8] [9].


Erste Modellprojekte auch in Deutschland

Die ersten IYMHS in Deutschland sind das soulspace in Berlin [10] [11] und das in Aufbau befindliche ancora in Frankfurt. In beiden IYMHS wird die niederschwellige, gemeindeintegrierte Angebotskomponente durch eine zusätzliche Finanzierung aus Landes- oder Stiftungsmitteln erreicht. Sie ergänzen die aus Krankenkassenmitteln (SGB-V) finanzierten klinischen Leistungen der Institutsambulanzen der Kliniken für Erwachsenen- und der Kinder-/Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Soulspace ist ein Zusammenschluss unter einem Dach der Kontakt- und Beratungsstelle für junge Menschen der ajb GmbH Berlin (transit) und Teilen der Institutsambulanzen der Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikum am Urban und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikum im Friedrichshain [11]. Die Beratungsstelle transit dient dabei als erste Anlaufstelle für junge Menschen, die bisher noch keinen Kontakt zum Hilfesystem hatten, in der ohne Einlesen einer Krankenkassenkarte, Einzel-, Paar- und Familiengespräche angeboten werden. Bei Verdacht auf eine psychische Störung erfolgt eine Überleitung in den Ambulanzteil des soulspace zur spezifischen (Früh) Diagnostik und multiprofessionellen Frühintervention oder eine Weitervermittlung in das weitere, überwiegend ambulante Versorgungsnetzwerk. Das Ambulanzteam des soulspace arbeitet im Falle einer Erstmanifestation einer schweren psychischen Störung eng und personell verzahnt mit dem spezialisierten teilstationären, stationären und Home Treatment Angebot des FRühInterventions- und Therapiezentrums, FRITZ am Urban, zusammen, das von den gleichen Kliniken gemeinsam betrieben wird und sich nur wenige hundert Meter vom soulspace entfernt befindet [12]. Wie in den internationalen Studien deuten erste Evaluationen darauf hin, dass im soulspace mehr junge Menschen der Erstkontakt mit dem Hilfesystem gelang als in konventionellen Früherkennungsangeboten psychiatrischer Krankenhäuser [10].


Weitere Implementation in Deutschland dringend geboten

Obwohl auch für Deutschland eine Reform der Versorgung hin zu SGB-übergreifenden Strategien und einem stärkeren Fokus auf präventive Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene gefordert wird [13] [14], ist der Implementationsgrad von IYMHSs im internationalen Vergleich nach wie vor leider noch gering. Zwar wurden in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere in Großstädten verschiedene Früherkennungs- und Therapiezentren aufgebaut [15]. Diese sind jedoch in der Regel an Krankenhäuser angebunden, auf die Identifizierung klinischer Risikosymptome einzelner Krankheitsbilder spezialisiert und erreichen nur einen kleinen Teil derjenigen, die sich bislang außerhalb des Hilfesystems befanden [16]. Dennoch könnten diese Früherkennungszentren als Ausgangspunkt für den Aufbau weiterer IYMHS in Deutschland dienen – sofern sie unter aktiver Beteiligung der Nutzenden um die beratenden Komponenten erweitert und mit Hilfe von Landes- oder Bundesmitteln an kommunalen, klinikunabhängigen Standorten etabliert werden.

Auch wenn die Evaluationsdaten noch verbessert werden sollten, bietet der Aufbau von IYMHS die berechtigte Hoffnung, jungen Menschen mit ersten psychischen Symptomen frühzeitig akzeptable/adäquate Diagnostik- und Behandlungsangebote zu unterbreiten. Diese könnten nicht nur den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen, sondern auch viel Leid für Betroffene und deren Angehörige vermeiden sowie gesellschaftliche Folgekosten deutlich senken. Vor diesem Hintergrund sollten junge Erwachsene, Kliniker und gesundheitspolitische Akteure auf Krankenkassen-, Landes- oder Bundesebene dringend ein strukturiertes Etablierungsprogramm für IYMHS in Deutschland entwickeln. Durch solcherart auf Frühidentifikation, -Prävention und -Intervention gesteuerte Ressourcen könnte die psychische Gesundheit in Deutschland tatsächlich vorbeugend und nachhaltig gebessert werden.



Andreas Bechdolf

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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Andreas Bechdolf
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, CCM, Charité Universitätsmedizin Berlin, Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Deutschland

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
16. September 2025

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