Schlüsselwörter Krise - Ärztliche Weiterbildung - Moralentwicklung - Fürsorge
Keywords Crisis - Postgraduate Medical Training - Moral Development - Care
Einleitung
Die Ausbildung zur Fachärzt*in stellt eine transformative Phase im beruflichen und
persönlichen Leben von Ärzt*innen dar. Während dieser Zeit erlernen sie nicht nur
klinische Fähigkeiten und medizinisches Wissen, sondern erfahren eine tiefgreifende
Prägung ihrer moralische Entwicklung. Die ethischen Dilemmata, mit denen sich Assistenzärzt*innen
konfrontiert sehen – von Fragen der Einwilligung und Autonomie von Patient*innen bis
hin zu Entscheidungen am Lebensende – erfordern ein nuanciertes Verständnis moralischer
Prinzipien und deren Verwirklichung im klinischen Alltag.
Carol Gilligan, US-amerikanische Psychologin und Ethikerin, hat als Begründerin der
Care-Ethik die Rolle von Krisensituationen für die Entwicklung von moralischem Urteilsvermögen
herausgearbeitet [1 ]. Gilligan entwickelte das Konzept der Care-Ethik als Reaktion auf traditionelle
moralische Entwicklungstheorien, die ihrer Ansicht nach die Bedeutung von zwischenmenschlichen
Beziehungen und Fürsorge vernachlässigten. Ihre Theorie beschreibt drei zentrale Stufen
der moralischen Entwicklung im Kontext der Fürsorge ([Abb. 1 ]): In der ersten Stufe wird Selbstsorge als höchstes Handlungsprinzip angesehen,
Entscheidungen sind von Selbstschutz geprägt. Das Individuum konzentriert sich auf
das eigene Überleben und das Vermeiden von Schaden für das Selbst. Erst wenn begonnen
wird, die eigene Haltung als egoistisch zu bewerten, ist ein Übertritt in die zweite
Stufe möglich. Hier steht nun die Selbstaufopferung und Verantwortlichkeit gegenüber
anderen an erster Stelle. In dieser Phase erkennen die Individuen die Bedürfnisse
und das Wohlergehen anderer an und sind bereit, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten
der Fürsorge für andere zurückzustellen.
Abb. 1 Stufen der moralischen Reifung, basierend auf der Theorie von Carol Gilligan, dargestellt
in „In a Different Voice“.
Erst die dritte Stufe ist von reifer moralischer Entscheidungsfähigkeit ausgezeichnet,
indem die Integration des Selbst und von anderen Personen gelingt. Moralisches Verständnis
liegt im Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit (zu etwas Größerem) und in sich ruhender
Eigenständigkeit; dies ermöglicht gegenseitige Fürsorge auf der Suche nach harmonischer
Zusammenführung beider Seiten. Doch wie gelangt das Individuum zur moralischen Reife
gemäß der Care-Ethik? Gilligan erarbeitet in ihrem Buch „In a different Voice“ , dass erst ein tieferes Verständnis der Psychodynamik menschlicher Beziehungen durch
zunehmende Differenzierung des Selbst und des Anderen zum Übertritt auf die dritte
Stufe führen. Die entscheidenden Parameter sind hier das eigene Selbstkonzept und
der Selbstwert, wobei als Anlass für Auflösen und Neufinden des eigenen Selbstkonzeptes
häufig Krisensituationen dienen.
Krisen sind tiefgreifende Erschütterungen, die übliche Bewältigungsmechanismen eines
Individuums herausfordern und sein psychisches Wohlbefinden bedrohen. Sie stellen
bestehende moralische Rahmenbedingungen infrage und beeinflussen Transformationen
im moralischen Denken und Verhalten. Krisen erschüttern das Sicherheitsgefühl und
machen die Rekonstruktion eines Selbstnarrativs erforderlich [2 ]. Auch die Theorien zur moralischen Entwicklung von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg
[3 ], auf denen Gilligan aufbaut, legen nahe, dass kognitives und moralisches Wachstum
oft durch das Erleben neuer und herausfordernder Situationen angeregt wird. Im ärztlichen
Umfeld ist das Personal oft Krisen ausgesetzt, die durch hohe Arbeitsbelastung und
emotionalen Stress entstehen. Häufig sind Notfälle, schwierige klinische Entscheidungen
oder mangelnde personelle Ressourcen Auslöser für solche Herausforderungen. Angesichts
der zunehmenden Arbeitsverdichtung und dem wachsenden administrativen sowie ökonomischen
Druck in der medizinischen Praxis [4 ] ist es entscheidend, zu verstehen, wie Ärzt*innen in der Weiterbildung mit Herausforderungen
und Krisen in diesem Kontext umgehen. Die vorliegende Arbeit beleuchtet die Rolle
von Krisensituationen im komplexen Prozess der moralischen Entwicklung während der
ärztlichen Weiterbildung. Hierzu wurde eine multizentrische Befragung von Ärzt*innen
in der Weiterbildung durchgeführt, um den Umgang mit Krisensituationen zu untersuchen.
Methodik
Im Zeitraum von Juni bis Juli 2024 wurden insgesamt 45 Ärzte und Ärztinnen aus 5 Kliniken
(Uniklinik Köln, Hamburg-Eppendorf, Evangelisches Krankenhaus Köln-Kalk, Krankenhaus
Düren, Sankt-Vinzenz-Krankenhaus Köln) zu Krisensituationen während der Weiterbildung
zum Facharzt/zur Fachärztin befragt. Die Befragung erfolgte in 2 Schritten. In einem
ersten Schritt wurde eine Online-Umfrage über die jeweiligen hausinternen E-Mail-Verteiler
der Assistenz- und Fachärzt*innen der genannten Kliniken versendet. In diesen Verteilern
sind alle in der Klinik tätigen Ärzt*innen erfasst, insgesamt über 500 Personen. Es
wurde abgefragt, ob während der Weiterbildungszeit bisher eine Krise erlebt wurde,
die so einschneidend war, dass es zum Verlust des emotionalen oder seelischen Gleichgewichts
kam (vgl. Judith Herman [2 ]). Sofern die Frage mit „Ja“ beantwortet und eine kurze Schilderung des Auslösers
der Krise gegeben wurde, erfolgte die Frage, ob die Teilnehmerin/der Teilnehmer mit
einer erneuten Kontaktaufnahme einverstanden sei. Die Teilnahme an der Umfrage war
freiwillig und anonym. Gründe für eine Nichtteilnahme wurden nicht systematisch erfasst.
Folgende Fragen wurden gestellt:
Geschlecht [m/w/andere] und Alter [Freitext]
Standort/ausbildende Klinik
Haben Sie in den Jahren der Weiterbildungszeit eine Krise im Arbeitsumfeld erlebt, die für Sie einschneidend war? Das bedeutet, dass es zum Verlust des emotionalen
oder seelischen Gleichgewichts kam – es bedeutet nicht zwangsläufig einen Ausfall
auf der Arbeit oder im Alltag. [ja/nein]
Falls ja
Beschreiben Sie den Auslöser der Krise kurz [Freitext max. 800 Zeichen]
Waren andere Personen (Kolleg*innen/Vorgesetzte/Patient*innen) involviert? Inwiefern?
[Freitext max. 800 Zeichen]
Die Krise hat … mein Selbstvertrauen im Arbeitsumfeld verändert [j/n] … meine Vorstellung von Moral verändert [j/n]
Dürfen wir Sie für weitere Fragen zu der Krisensituation erneut kontaktieren? [j/n] Falls ja, unter welcher Mail-Adresse? [Freitext]
Die Antworten wurden von den Autorinnen dahingehend analysiert, ob es zu einem Dilemma
zwischen dem Selbst und Anderen kam. Diejenigen Teilnehmenden, deren geschilderte
Krisen dieses Kriterium erfüllten und die sich mit erneuter Kontaktaufnahme einverstanden
gezeigt hatten, wurde ein zweites Mal detaillierter befragt:
In welchem Ausbildungsjahr trat die Krise auf?
Inwiefern hat die Krise eine Veränderung für Ihr Arbeitsleben bedeutet?
Inwiefern hat die Krise eine Veränderung für Ihr Privatleben bedeutet?
Welche Gefühle hat die Krise bei Ihnen akut hervorgerufen?
Wie hat sich Ihr Selbstbild verändert?
Haben sich Ihre moralischen Vorstellungen geändert? Wenn ja, inwiefern?
Von wem haben Sie Unterstützung bei der Bewältigung der Krise erhalten?
Von wem hätten Sie sich mehr Unterstützung gewünscht?
Zur Erstellung des Fragebogens wurde surveymonkey.com verwendet.
Ergebnisse
Es wurden insgesamt 45 Ärzte und Ärztinnen befragt. Es nahmen 25 Frauen und 20 Männer
teil ([Tab. 1 ], [Abb. 2 ]), mittleres Alter war 33,3 Jahre (27–42 Jahre). Die meisten Teilnehmenden absolvieren
die Ausbildung zur Hämato-/Onkolog*in (19) und der Großteil diejenige zur Inneren
Medizin (16) bzw. einem internistischen Fach (41) ([Abb. 2 ]). Von 45 Befragten gaben 23 (51,1%) an, während der Weiterbildungszeit eine Krise
erlebt zu haben, die so einschneidend war, dass es zum Verlust des emotionalen oder
seelischen Gleichgewichts kam. Hiervon waren 18 (78,2%) weiblich.
Tab. 1 Charakteristika der teilnehmenden Ärzt*nnen.
Charakteristikum
Verteilung (N=45)
Geschlecht — n (%)
Weiblich
25 (55,6)
Männlich
20 (44,4)
Alter — Mittelwert (min./max.)
33,3 Jahre (27–42)
Fachrichtung — n (%)
Allgemeinmedizin
1 (2,2)
Anästhesie
1 (2,2)
Gastroenterologie
2 (2,2)
Hämatologie/Onkologie
19 (42,2)
Infektiologie
2 (4,4)
Innere Medizin
16 (35,6)
Nephrologie
2 (4,4)
Radioonkologie
1 (2,2)
Unfallchirurgie/Orthopädie
1 (2,2)
Abb. 2 Verteilung der Teilnehmenden nach Fachdisziplin, basierend auf allen befragten Ärzt*innen
(n = 45).
Die Auslöser der Krise wurden als Freitext benannt und lassen sich im Wesentlichen
3 Kategorien zuordnen: „Arbeitsbelastung“, „Patient*innen- und führungsbezogen“ und
„ärztliche Fehler“. [Tab. 2 ] zeigt eine Übersicht der Belastungen, aufgeschlüsselt nach den Kategorien „Arbeitsbelastung“,
„Patient*innenbezogene Belastung“ und „ärztliche Fehler“ (in 14/18 Fällen Mehrfachbelastung)
sowie nach Geschlecht (männlich/weiblich). Insgesamt 13 Teilnehmende berichteten von
einer Krise im Kontext der Arbeitsbelastung, wobei Frauen (11 von 18) deutlich häufiger
betroffen waren als Männer (2 von 5). Zeit- und Arbeitsbelastung umfasste die hohe
Belastung durch Nachtarbeit und Schichtdienst, bei gleichzeitig verkürzter Erholungszeit,
und wurde in der Kategorie „Arbeitsbelastung“ als häufigster Auslöser für eine Krise
genannt. Strukturelle Herausforderungen umfassten Personalmangel und hohe Anforderungen
– in der Klinik und bei paralleler Arbeit in der Forschung. Patient*innenbezogene
Belastungen waren bei 11 der 18 Personen ein Auslöser einer Krise, wobei Männer etwas
seltener betroffen waren. In 10 von 11 Fällen wurde die emotionale Belastung durch
Patient*innen-Schicksale genannt. Konflikte mit der Führung stellten für 8 Personen
eine krisenrelevante Belastung dar, abermals häufiger bei Frauen (6 von 18). Soziale
und zwischenmenschliche Probleme umfassten hier 2 Fälle von Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts (n=2) und eines rücksichtlosen Umgangs seitens der Führungsperson.
Acht der Befragten gaben an, Unterstützung erhalten zu haben. Ausnahmslos gaben die
Befragten an, Unterstützung von Kolleg*innen zu erhalten, lediglich knapp die Hälfte
(11 von 22) durch ihre Vorgesetzten; eine Person gab an, durch eine Supervision Hilfe
erfahren zu haben (Tab. S1 ).
Tab. 2 Erlebte Krisen der Ärzt*innen.
Gesamt (n=23)
Männlich (n=5)
Weiblich (n=18)
Arbeitsbelastung
13
2
11
Zeit- und Arbeitsorganisation
9
2
7
Empfinden, das Arbeitspensum nicht bewältigen zu können
5
1
4
Strukturelle Herausforderungen
Personalmangel
2
0
2
Hohe Anforderungen in Klinik und Forschung
2
1
1
Patient*innenbezogene Belastung
11
4
7
Emotionale Belastungen durch Patientenschicksale
10
4
6
Druck durch Erwartungen vonseiten der Patientinnen und Patienten
5
1
4
Führung
8
2
6
Soziale und zwischenmenschliche Probleme
5
1
4
Strukturelle Führungsprobleme
Schlechte oder fehlende Supervision
6
1
5
Ärztliche Fehler
3
0
3
Auf die Frage, ob sich durch die Krise das Selbstvertrauen im Arbeitsumfeld verändert
habe, antworteten 17 von 18 mit „Ja“, während 10 von 18 von einer veränderten Moralvorstellung
berichteten (Tab. S2 ). Um analog des von Gilligan entwickelten Modells die Frage nach der Veränderung
der moralischen Urteilsfähigkeit analysieren zu können, wurden nur diejenigen erneut
befragt, deren Krise ein Dilemma darstellte, „in dem es keine Möglichkeit des Handelns
ohne Konsequenzen für den anderen und für das eigene Selbst gibt.“ Dies traf auf 7
von 10 der zuletzt Genannten zu, hiervon 3 Männer und 4 Frauen. Die Krise trat bei
allen zwischen dem ersten und dritten Jahr ihrer beruflichen Laufbahn auf. Auslöser
waren auch hier in der Häufigkeit verteilt wie in der Gesamtkohorte: Zeit- und Arbeitsbelastung
(4/8; dabei 3 im Kontext von Schichtdienst und 1 im Kontext von Überlastung durch
die Kombination von Klinik und Forschung), Patient*innenbezogen (3/8; hierunter 2
Suizide von Patient*innen, eine erfolglose Reanimation eines sehr jungen Patienten)
und führungsbezogen (1/8). Die Krise hatte jeweils gravierende Auswirkungen auf das
Arbeitsleben, das sich für jede/n der Befragten erheblich veränderte. So gaben 2 von
ihnen an, ihre berufliche Tätigkeit vorübergehend pausiert zu haben, um den Belastungen
der Krise zu entkommen oder sich neu zu orientieren. Drei weitere Teilnehmer*innen
entschieden sich dafür, ihre Arbeitsstelle zu wechseln, um bessere Arbeitsbedingungen
zu erhalten oder eine neue berufliche Perspektive zu finden. Zwei weitere Befragte
haben eine Kündigung ernsthaft in Betracht gezogen, sich jedoch letztlich dagegen
entschieden. Eine Person, die die Stelle wechselte, sprach von einer zunehmend unerträglichen
Arbeitsatmosphäre, die zum Wechsel veranlasst hatte. Eine andere Person, die über
eine Kündigung nachdachte, berichtete von einem stetigen Druck, der zu Schlaflosigkeit
und gesundheitlichen Problemen führte, was schließlich eine berufliche Auszeit nach
sich zog.
Die Auswirkungen der Krise beschränkten sich nicht nur auf das Arbeitsleben, sondern
betrafen auch den privaten Lebensbereich. Einige der Befragten beschrieben, dass sie
unter erheblichem Zeitmangel litten, der sich negativ auf ihr Privatleben auswirkte.
Es fiel ihnen zunehmend schwer, eine Balance zwischen Beruf und Freizeit zu finden,
was zu Spannungen und Konflikten in zwischenmenschlichen Beziehungen führte. Einige
berichteten von ernsthaften Schwierigkeiten in ihren Partnerschaften oder Freundschaften,
die in einigen Fällen sogar zu Trennung führten. Andere erlebten depressive Episoden.
In Bezug auf die emotionalen Reaktionen auf die Krise äußerten die Teilnehmenden eine
Vielzahl intensiver und teils überwältigender Gefühle. Häufig genannt wurden Schuld,
Scham, Trauer, Angst, Überforderung und Wut. Ausnahmslos berichteten alle Teilnehmenden
von einem Einfluss auf das eigene Selbstbild und das Selbstwertgefühl. Einige gaben
an, erstmals ernsthaft mit ihrem Selbstbild gerungen oder es infrage gestellt zu haben.
Andere sprachen sogar von einem vollständigen Verlust ihres Selbstwertgefühls, da
sie das Gefühl hatten, beruflich und – in einem weiteren Schritt – persönlich zu scheitern.
Ein Teilnehmer schilderte, dass er sich in der Krise oft schuldig fühlte, weil er
den Erwartungen in seiner Arbeit nicht gerecht wurde, während eine andere Person beschrieb,
wie sie sich von einer starken Scham erfasst wurde, da sie ihre berufliche Leistung
als unzureichend empfand. Ein Befragter sprach davon, den Selbstwert verloren zu haben
und erklärte, dass er sich als unfähig wahrnahm, mit den beruflichen Anforderungen
umzugehen.
Hinsichtlich der persönlichen Moralvorstellungen berichteten die Befragten alle von
bedeutsamen Veränderungen. Viele gaben an, dass sich ihr Verhältnis zu Werten wie
Transparenz, Gerechtigkeit, Autonomie, Mitgefühl, Respekt vor dem Leben, Ehrlichkeit,
Aufrichtigkeit, Verantwortung, Gleichheit und Toleranz gewandelt habe. Vor allem gaben
alle 8 Teilnehmenden an, die Krise sei eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit
ebenjenen Themen gewesen. Sieben der 8 Teilnehmenden berichteten, dass die ersten
Berufsjahre von hoher Arbeitslast und Überforderung gekennzeichnet waren und dass
die Auseinandersetzung mit moralischen Themen hier keinen Platz hatte. Zwei Teilnehmerinnen
berichten beispielsweise, dass sie bis zum Auftreten der Krise 2 Jahre lang ihre Zeit
mit dem „Überleben im Stationsalltag“ zugebracht hätten, also mit organisatorischen
Problemen und dem Verständnis des medizinischen Kontexts, bis sie schließlich an den
Rand ihrer Kapazitäten kamen. Für tiefergehende ethische Fragestellungen hätten Sie
„keine Zeit“ gehabt. Andere gaben an, durch die hohe Arbeitsbelastung von dem Beruf
als Mediziner*in desillusioniert worden zu sein. Erst der Austausch mit dem Umfeld
über die Krise sei Anlass gewesen, die eigene Kommunikation und Fürsorge zu hinterfragen
und dann im Nachgang auch aktiv zu verbessern. Einige stellten fest, dass sie in der
Folge höhere Ansprüche an die moralische Integrität ihrer beruflichen und persönlichen
Beziehungen stellten und transparenter mit eigenen Schwächen oder Fehlern umgingen.
Eine Teilnehmerin erklärte, dass sie nach der Krise viel bewusster auf Gerechtigkeit
im Arbeitsalltag achte, insbesondere im Umgang mit Kollegen und Kolleginnen. Ein anderer
Befragter berichtete, dass er nun offener über eigene Fehler spreche und sich bemühe,
sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext ehrlicher und authentischer zu
agieren.
Die meisten Teilnehmer*innen berichten, Hilfe von Kolleg*innen, Familie und Freund*innen
erfahren zu haben. Vielfach wird jedoch der Wunsch geäußert, mehr Unterstützung zu
erhalten, vor allem von Führungspersonen und Vorgesetzten sowie strukturellen Support
durch Supervision.
Diskussion
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Krisen zugleich Herausforderung und Chance
für persönliches Wachstum darstellen. Auch hatten sie einen tiefgreifenden Einfluss
auf die Moralentwicklung der befragten Ärzt*innen. Grundlage der vorliegenden Analyse
war Carol Gilligans Arbeit zur Moralentwicklung, auf der die Care-Ethik (Fürsorgeethik)
basiert. Das Konzept wurde unter anderem von Noddings
[5 ] in den 1980er Jahren weiterentwickelte und hat in den letzten Jahren besonders in
Bereichen wie Gesundheitswesen, Erziehung und Sozialarbeit an Relevanz gewonnen. In
Carol Gilligans Werk „In a different voice“ wird die Rolle von Lebenskrisen auf die moralische Reifung beleuchtet ([Abb. 1 ]). Die Psychologin reflektiert darin unter anderem die Veränderung des Selbstwerts
vor dem Hintergrund zerbrechender zwischenmenschlicher Beziehungen und die Bedeutung
dieser Prozesse für die moralische Reifung. Im Verständnis von Gilligan sind vor allem
diejenigen Krisen, die Individuen vor einen Konflikt mit anderen und sich selbst stellen,
für moralische Reifung bedeutsam. Obwohl „In a different voice“ bereits 1972 veröffentlicht wurde, ist Gilligans Ansatz weiterhin relevant, da er
bislang kaum auf konkrete medizinische Kontexte angewandt wurde. Ärzt*innen stehen
im klinischen Alltag vor Entscheidungen, die tiefgreifende ethische Implikationen
haben und ihre Moralentwicklung spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie sie diese
Entscheidungen treffen. Im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung zeigte sich,
dass die Hälfte der Befragten während ihrer Weiterbildungszeit eine Krise erlebte.
Während die Geschlechterverteilung unter den Befragten annähernd ausgeglichen war,
zeigten sich unter denjenigen, die von einer Krise berichteten, deutlich mehr Frauen
(78,1 %). Ob dies Ausdruck eines Unterschiedes in der Resilienz oder einer anderen
Wahrnehmung von „Verlust des emotionalen oder seelischen Gleichgewichts“, das als
Definition der Krise diente, unter den Befragten ist, bleibt offen. Eine Befragung
der 27 Teilnehmenden, die nach eigenen Angaben keine Krise erlebt haben, könnte hier
zielführend sein. Weiterhin bleibt zu diskutieren, inwiefern die Unterscheidung zwischen
Mann und Frau noch die Ergebnisinterpretation einer solchen Studie leiten sollte,
da das Erleben und die Verarbeitung von Krisen selbstverständlich nicht ausschließlich
vom Geschlecht abhängen. Vielmehr spielen soziale und persönliche Faktoren eine Rolle.
Häufigster Auslöser einer Krise waren unter den 45 Befragten die Arbeitsbedingungen,
also Überarbeitung in Schicht-/Nachtdienst und im Spannungsfeld von Forschung und
Klinik. Während die Diskussion der ärztlichen Arbeitsbedingungen an anderer Stelle
zu diskutieren ist, bleibt die Frage nach struktureller Unterstützung in diesem Kontext
offen. Gerade die Arbeit im Schichtdienst stellt eine kritische Phase dar, die viele
Kolleg*innen vor Herausforderungen stellt und gesundheitsschädliche psychosoziale
Arbeitsbedingungen durch gestörten chronobiologischen Schlafrhythmus, Hormonregulation
und andere biologische Funktionen umfasst [6 ]. Vor allem Nachtarbeit geht mit Erschöpfung, Schlafstörungen sowie reduziertem Wohlbefinden
einher [7 ]. Individuelle Hilfsangebot sollten in Zukunft im Sinne von Präventionsmaßnahmen
diskutiert und entwickelt werden. Einige Kolleg*innen berichteten zudem von Patient*innen-bezogenen
Auslösern für die Krise. Als Maßnahmen wäre hier die strukturelle Unterstützung durch
Supervision oder sogenannte Balint-Gruppen vorstellbar. Ziel solcher Interventionen
ist es, Aspekte der Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen besser zu verstehen
und dies für eine zielgerichtete Diagnostik und Therapie zu nutzen [8 ].
Zur Untersuchung möglicher Auswirkungen einer Krise auf die ärztliche Moralentwicklung
wurde eine Subgruppe aus 8 der 18 Teilnehmenden zusätzlich ein zweites Mal ausführlich
befragt. Die beruflichen Krisen, die durch hohe Arbeitsbelastung, Zeitdruck und emotionale
Belastungen ausgelöst wurden, hatten gravierende Auswirkungen auf das Arbeits- und
Privatleben der Betroffenen. Viele von ihnen litten unter einer Verschlechterung ihres
Selbstwertgefühls, depressiven Episoden und Schwierigkeiten, eine Balance zwischen
Beruf und Privatleben zu finden. Zugleich bot die Krise aber die Gelegenheit, sich
mit moralischen Fragen intensiv auseinanderzusetzen, was vorher durch die hohe Arbeitslast
oft keinen Raum fand. In allen acht Fällen führte die Krise zu einem Überdenken der
Priorisierung zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen (durch Patient*innen, Kolleg*innen
oder Vorgesetzte). Dies ermöglichte den Betroffenen eine tiefgehende Reflexion ihrer
moralischen Werte. Themen wie Gerechtigkeit, Verantwortung und Mitgefühl rückten stärker
in den Fokus und die Teilnehmenden stellten höhere Ansprüche an moralische Integrität,
sowohl in beruflichen als auch privaten Beziehungen. Trotz erhaltenen Hilfestellungen
wurde häufig der Wunsch nach mehr struktureller und emotionaler Unterstützung, insbesondere
durch Führungskräfte, geäußert.
Insgesamt ist die Sekundärliteratur in diesem Feld begrenzt. Erwähnenswert ist jedoch
die Arbeit von M. Junge, der Strategien untersuchte, die Menschen zur Bewältigung
von Niederlagen entwickeln [9 ]. Anhand empirischer Daten zeigte er, wie die Erfahrung des Scheiterns sowohl das
Selbstbild als auch die persönliche und berufliche Entwicklung beeinflussen kann.
Ebenso wie in der hier vorgestellten Arbeit wird Scheitern nicht nur als Niederlage,
sondern auch als Chance für Lernprozesse und persönliches Wachstum betrachtet. M.
Junge skizziert Mechanismen der Bewältigung: Die problemorientierte Bewältigung, bei
der die Ursachen des Scheiterns analysiert und praktische Lösungsansätze entwickelt
werden, um künftige Fehler zu vermeiden und die emotionsorientierte Bewältigung, bei
der der Fokus auf dem Umgang mit den emotionalen Folgen des Scheiterns liegt. Beide
Strategien seien je nach Situation wichtig und tragen zur langfristigen Resilienz
und Weiterentwicklung bei. Zugleich betont M. Junge, dass soziale Unterstützung und
Selbstreflexion eine zentrale Rolle im erfolgreichen Umgang mit Misserfolgen spielen.
Die hier befragten Proband*innen weisen ein Mischbild der Strategien auf und reflektieren
in diesem Kontext Selbstbild und Moral.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, dass Krisen einen tiefgreifenden Einfluss
auf die Moralentwicklung von Ärzt*innen haben können, indem sie Herausforderungen
sind und gleichzeitig Wachstumschancen bieten. Sie können intensive Lern- und Reflexionsprozesse
auslösen, bei denen Ärzt*innen ihre bisherigen ethischen Überzeugungen überdenken
und weiterentwickeln. Solche Erfahrungen können die Fähigkeit zur moralischen Urteilsbildung
und zur ethischen Sensibilität vertiefen, beispielsweise indem sie zu stärkerer Identifikation
mit ethischen Prinzipien wie der Wohltätigkeit und Nichtschädigung führen. Krisen
können außerdem eine stärkere Zusammenarbeit und Solidarität unter Arbeitskolleg*innen
fördern [10 ] und so die gemeinschaftlichen Werte und Normen innerhalb der ärztlichen Gemeinschaft
stärken. Die Bewältigung von Krisen kann langfristig zu einer stärkeren Resilienz
führen [9 ]
[11 ]
[12 ]. Ärzt*innen, die erfolgreich durch solche Herausforderungen navigieren, entwickeln
oft ein gestärktes ethisches Selbstbewusstsein und eine tiefere Einsicht in die moralischen
Aspekte ihres Berufes. Bei einer negativen Entwicklung des Individuums können die
hohen Anforderungen und der anhaltende Druck in Krisenzeiten jedoch zu Burnout und
moralischem Stress führen. Ärzt*innen können sich überfordert und moralisch verletzt
fühlen, wenn sie Entscheidungen treffen müssen, die im Widerspruch zu ihren ethischen
Überzeugungen stehen. Solche Erfahrungen können eine Erosion moralischer Werte nach
sich ziehen sowie unterschiedliche Formen der Verdrängung des Konfliktes [9 ].
Insgesamt zeigen die Daten dieser Studie, dass Krisen sowohl transformierende als
auch belastende Einflüsse auf die Moralentwicklung von Ärzt*innen haben können. Die
Art und Weise, wie diese Erfahrungen verarbeitet und integriert werden, hängt von
intrinsischen Faktoren wie persönlicher Resilienz und Selbstfürsorge, aber auch von
extrinsischen Faktoren wie Unterstützungssystemen und der Möglichkeit zur Reflexion
und ethischen Weiterbildung ab [11 ]. Es bedarf weiterer Untersuchungen mit größeren und diversifizierteren Stichproben,
um die gewonnenen Erkenntnisse statistisch zu validieren und die Übertragbarkeit auf
andere klinische Fachbereiche zu erhöhen. Zukünftige Studien sollten zudem eine ausgewogene
Verteilung der Teilnehmenden sicherstellen, um unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen
umfassender abbilden zu können. Auf diese Weise könnte das Verständnis für die Rolle
von Krisensituationen in der moralischen Entwicklung von Ärzt*innen weiter vertieft
werden.
Die vorliegende Analyse unterstützt, dass gerade in der Zeit der Weiterbildung ein
größerer Fokus auf die Förderung von Resilienz und Umgang mit Krisen gelegt werden
sollte, als dies bisher der Fall ist. Moralische Entscheidungsfindung erfordert eine
Balance zwischen den eigenen (beruflichen) Anforderungen und den Bedürfnissen von
Patient*innen und Kolleg*innen. Dies gelingt gerade zu Beginn der Weiterbildungszeit
nicht immer und bleibt auch anschließend herausfordernd. Der Austausch mit Kolleg*innen
und Mentor*innen sowie die Auseinandersetzung mit komplexen Fällen tragen zur moralischen
Reifung bei und fördern die Fähigkeit, Fürsorge und Verantwortlichkeit ausgewogen
zu integrieren. Dass die moralische Reife nicht nur eine Frage von Sozialisation,
sondern vielmehr Ergebnis von Bildungsprozessen (oder dem Fehlen derselben) ist, legen
verschiedene Studien nahe [13 ]. Neben moralischen Affekten (Einstellungen, Gefühlen, Werthaltungen, Motiven etc.)
können auch Kognitionen erlernt bzw. geschult werden [13 ]. Wenige Menschen sind willentlich unmoralisch, jedoch ist der Weg vom moralischen
Wollen bis zum moralischen Handeln nicht immer einfach [14 ]
[15 ]. Um die eigenen moralischen Ideale mit dem tatsächlichen Tun in Übereinstimmung
zu bringen, benötigen Menschen daher bestimmte Fähigkeiten, insbesondere die moralische
Urteilsfähigkeit [12 ]
[16 ]. Umso wichtiger wäre in diesem Sinne eine kontinuierliche medizinische Weiterbildung,
die über Fachwissen hinaus auch ethische Schulungen und Reflexionsprozesse umfasst
– insbesondere in Zeiten zunehmender Arbeitsdichte und Schnelllebigkeit.
Die vorliegende Studie weist mehrere Limitationen auf, die die Generalisierbarkeit
und Aussagekraft der Ergebnisse einschränken. Es fehlt ein longitudinaler Verlauf,
sodass keine Aussagen über die zeitliche Entwicklung der untersuchten Phänomene getroffen
werden können. Darüber hinaus besteht ein Selektions-Bias, da nur Personen interviewt
wurden, die im untersuchten Kontext nicht gescheitert sind, was zu einer Verzerrung
der Ergebnisse führen könnte. Der verwendete Fragebogen wurde eigens für die Studie
entwickelt, ohne eine Machbarkeitsprüfung oder Pilotierung durchzuführen. Zudem war
die Stichprobengröße klein, und ein Großteil der Befragten stammte aus den Bereichen
Onkologie und Innere Medizin, sodass die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere
Fachbereiche fraglich ist. Schließlich wurden keine statistischen Gruppenvergleiche
durchgeführt, was eine differenzierte Analyse der Daten einschränkt. Trotz dieser
Einschränkungen bietet die Studie jedoch interessante Einblicke in die Situation von
Krisen in der ärztlichen Weiterbildung und ermöglicht ein besseres Verständnis der
damit verbundenen Herausforderungen.
Fazit
Die Moralentwicklung bei Ärzt*innen ist ein fortlaufender dynamischer Prozess, der
durch Aus- und Weiterbildung sowie praktische Erfahrungen währenddessen geprägt wird.
In diesem Kontext bietet die Care-Ethik eine wertvolle Ergänzung zu prinzipienorientierten
Erklärungsmodellen der Moralentwicklung, denn sie reflektiert Aspekte von zwischenmenschlichen
Beziehungen und Fürsorge in der medizinischen Praxis. Die Anwendung auf den aktuellen
Kontext zeigt, dass ethisch verantwortungsvolles Handeln in der Medizin nicht nur
auf theoretischen Grundlagen beruht, sondern auch auf einer gegenseitigen und empathischen
Verbindung zu Kolleg*innen, Patient*innen und deren Angehörigen. Durch kontinuierliches
Lernen aus eigenen Erfahrungen, beispielsweise im Rahmen von Krisen, können Ärzt*innen
moralisch reifen. Dies ermöglicht eine ethisch verantwortungsvolle klinische Versorgung,
deren Kern sowohl fachliche Kompetenz als auch menschliche Zuwendung ist. Während
die ärztliche Tätigkeit zunehmend von administrativen Aufgaben, Ökonomisierung und
Schnelllebigkeit sowie Effizienzsteigerung bestimmt wird, erweist sich gerade der
Rückbezug auf Empathie, Mitgefühl und zwischenmenschliche Verbindungen für die ärztliche
Praxis als essentiell. Nur durch das Besinnen auf diese Werte im medizinischen Alltag
können fachliche Exzellenz und menschliche Zuwendung Hand in Hand gehen.
Kernaussagen
1. Krisen als Auslöser moralischer Reifung: Krisensituationen während der ärztlichen Weiterbildung stellen nicht nur eine Belastung
dar, sondern auch eine bedeutende Chance für persönliche und moralische Entwicklung.
Sie fördern eine tiefgehende Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und stärken moralische
Werte wie Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Integrität.
2. Zwischenmenschliche Beziehungen im Zentrum moralischer Entwicklung: Auf Basis von Carol Gilligans Care-Ethik zeigt die Studie, dass moralisches Wachstum
stark von zwischenmenschlichen Beziehungen, Empathie und dem sozialen Kontext abhängt
– im Gegensatz zu abstrakten, prinzipienbasierten Ansätzen. Kollegialer Austausch
und unterstützende Beziehungen erwiesen sich als entscheidend für die Bewältigung
und Verarbeitung von Krisen.
3. Bedarf an struktureller und ethischer Unterstützung: Die Studie macht deutlich, dass viele Ärzt*innen sich während und nach Krisen unzureichend
unterstützt fühlten – insbesondere durch Vorgesetzte. Es besteht ein klarer Bedarf
an strukturellen Maßnahmen wie Supervision, ethischer Weiterbildung und psychosozialer
Unterstützung, um moralische Resilienz nachhaltig zu fördern.