Einleitung
Die Indikationsstellung gilt als originär ärztliche Aufgabe, die laut Bundesärztekammer
(BÄK) und Zentraler Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) individuell und
unbeeinflusst von nichtmedizinischen Faktoren erfolgen und sich an etablierten Zielen
ärztlichen Handelns orientieren soll [1]
[2]. Grundlage dafür bildet die Integration von evidenzbasiertem Wissen, medizinischen
Standards und ärztlichem Erfahrungswissen in Hinblick auf die jeweils individuelle
Situation der Patientin. Es sollen diejenigen Interventionen angeboten werden, „die
nach medizinischem Standard und nach Berücksichtigung der konkreten Patientengeschichte
angezeigt erscheinen“ [1]. Auch aus rechtlicher Sicht wird die Indikationsstellung als Aufgabe ärztlichen
Handelns angesehen [3], wie sich aus § 1828 Abs. 1 BGB ergibt: demnach prüfen Ärztinnen, welche Maßnahme
im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose einer Patientin angezeigt ist.
Die Indikationsstellung bildet damit die Grundlage für die unter Berücksichtigung
des Patientenwillens zu treffenden Entscheidungen.
Was hier so klar klingen mag, stellt Ärztinnen dann vor Herausforderungen, wenn eine
Indikation nicht eindeutig erscheint [4]. Eine Schwierigkeit beruht auf einfließenden Werturteilen [5]
[6]
[7]
[8]. So verweist die BÄK darauf, dass die medizinische Indikation bereits insofern normative
Elemente enthalte, als sie „zwischen gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Maßnahmen
differenziere“ [1]. Neben der Integration von Wissen wird gefordert, dass Nutzen und Schadensrisiko
in einem „angemessenem Verhältnis“ stehen und dass Maßnahmen entsprechend empfohlen
oder (zugunsten alternativer Maßnahmen) nicht empfohlen werden [1].
Ziel dieser Arbeit ist, in die Indikationsstellung einfließende Werturteile zu benennen,
um einen reflektierten und kritischen Umgang mit ihnen zu ermöglichen. Außerdem soll
die Frage geklärt werden, welche Werturteile kein Bestandteil von Indikationsstellungen sein sollten.
Kontrovers diskutiert wird seit Jahren zudem, ob Werturteile und davon abhängige Wünsche
von Patientinnen in die Indikationsstellung einfließen sollten [9]. Wir werden im Folgenden dafür argumentieren, die Wertungen und damit verbundenen
Therapieziele von Patientinnen getrennt von den Zielen und Wertungen von Ärztinnen
zu analysieren. Im Rahmen der Entscheidungsfindung sollen anschließend beide Prozessschritte
zusammengeführt werden.
Methoden
Die interdisziplinäre begriffliche und normative Analyse umfasst medizintheoretische
Ansätze, Fallbeispiele, empirische Ergebnisse und juristische Überlegungen, um verschiedene
Ebenen von Werturteilen im Indikationsprozess zu identifizieren und kritisch zu diskutieren.
Diese interdisziplinäre begriffliche und normative Analyse bietet die Möglichkeit,
die Indikationsstellung auf ihre Bedeutungsdimensionen und impliziten Wertannahmen
hin zu untersuchen.
Ergebnisse
Werte in der Indikationsstellung
In der Medizintheorie sind vielfältige Versuche unternommen worden, die Indikation
zu konzeptualisieren [10]
[11]. Einigkeit herrscht weitestgehend darüber, dass „Indikation“ neben etwa „Gesundheit“
und „Krankheit“ zu den zentralen Konzepten der Medizin gehört. Weniger Einigkeit besteht
darüber, ob Indikationsstellungen notwendig mit Werturteilen verbunden sind und wenn
ja, welcher Art die zugrundeliegenden Wertungen sind.
Werten kommen in verschiedenen Teilbereichen der Philosophie (wie Moral, Metaphysik,
Ästhetik oder Logik) unterschiedliche Bedeutungen zu. Man kann weiter unterscheiden
zwischen nicht-epistemischen und epistemischen Werten (griechisch episteme: Wissen,
Kenntnis, Wissenschaft) [12]
[13]
[14]
[15]. Zu Letzteren können zum Beispiel Wahrheit, Klarheit oder Genauigkeit gezählt werden,
zu Ersteren etwa Ehrlichkeit oder Gerechtigkeit. Werturteile beziehen sich auf solche
Werte und können persönliche, weltanschauliche Einstellungen oder kulturelle Einflüsse
widerspiegeln.
Wiesing weist darauf hin, dass es für das Indikationsverständnis bedeutsam ist, unterschiedliche
Typen von Werturteilen auszuweisen, nämlich „die allgemeinen Wertvorstellungen der Medizin“, die ebenso wie „die medizinischen Besonderheiten des Patienten“, in die Indikationsstellung einfließen. Bedeutsam werden
„die individuellen Wertungen des Patienten“ und „die persönlichen Wertungen eines Arztes“ dann im Entscheidungsprozess [9]. Selbst wenn man die individuellen Wertungen von Patientinnen zunächst außen vorlässt,
sind verschiedene Typen von Werturteilen für den Prozess der Indikationsstellung relevant.
Vor diesem Hintergrund ist zu klären, welche dieser Typen notwendig mit Indikationsstellungen
verbunden sind und in welcher Form sie (grundsätzlich oder kontextabhängig) transparent
gemacht werden sollten.
Allgemeine Wertvorstellungen der Medizin, die (impliziten) Wertvorstellungen von Ärztinnen,
gesellschaftliche Wertvorstellungen und ihre Wechselwirkungen lassen sich in der lebensweltlichen
Praxis mitunter schwer differenzieren. Im Folgenden sollen dennoch einige idealtypische
Unterscheidungen eingeführt werden.
Wirksamkeit als zentraler Wert
Wirksamkeit, das heißt das Potential einer medizinischen Maßnahme, ein therapeutisches
oder präventives Ziel zu erreichen, gilt als eines der zentralen Kriterien medizinischer
Praxis [8]. Dies zeigt sich etwa im Dictum der evidenzbasierten Medizin, Therapieoptionen möglichst
anhand empirisch gut belegter Evidenz hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auszuwählen [16]. Dabei ist Wirksamkeit zwar empirisch untersuchbar, aber weder Wirksamkeitsstudien
noch die Frage danach, wie mit Wirksamkeitsaussagen im Rahmen der Indikationsstellung
verfahren wird, sind frei von Wertungen. Vielmehr spielen dabei verschiedene, teils
miteinander verflochtene epistemische und nicht-epistemische Werte eine Rolle [13]
[17]
[18]. Damit verbundene Werturteile können etwa sein: die Bevorzugung von Theorien, welche
für die eigenen Forschungen erfolgreiche Vorhersagen ermöglichen; die Auswahl von
Forschungsthemen, Methoden sowie geeigneten Probandinnen; die Festlegung von Outcomeparametern
und statistischen Signifikanzniveaus oder die Inkaufnahme oder Ablehnung von bestimmten
Forschungsrisiken. Hinzu kommen mögliche äußere Einflüsse wie beispielsweise kommerzielle
Interessen. Diese Liste ist nicht abschließend, soll aber verdeutlichen, dass bereits
Studien zur Wirksamkeit von Maßnahmen von Werturteilen direkt oder indirekt beeinflusst
sind.
Insofern also Wirksamkeit ein zentrales Kriterium der Bewertung von Therapieoptionen
und damit auch für die Indikationsstellung ist, wird die Indikation von solchen Werturteilen
beeinflusst. Allerdings wird es eine Herausforderung sein, solche Werturteile im Rahmen
ärztlicher Indikationsstellung auszuweisen.
Ärztliche Urteilskraft und Wertvorstellungen
Wertvorstellungen spielen auch eine Rolle bei der Beurteilung von Wirkung und Wirksamkeit
im konkreten Fall. Schließlich hängt ihre Beurteilung durch die Ärztin mit Blick auf
konkrete Patientinnen wesentlich von der ärztlichen Urteilskraft ab [19]
[20], insofern Ärztinnen eine Beziehung zwischen einer konkreten Maßnahme für eine Patientin
und dem herstellen, was dem medizinischen Standard entsprechend als wirkungsvoll und
prognostisch günstig gilt.
Medizinische Standards und evidenzbasiertes Wissen hinsichtlich ähnlicher Fälle liefern
Ärztinnen beispielsweise Informationen über Wahrscheinlichkeiten von Wirkung und möglichen
Schäden einer Maßnahme, die sie nach je eigenem Erfahrungswissen und Überzeugungen in die Beurteilung für
eine bestimmte Patientin einbeziehen. Dabei zeigen sich zum einen (meist implizit)
Wertvorstellungen mit Blick auf die Beurteilung von Risiken und Wahrscheinlichkeiten
in ihrem Verhältnis zum Nutzen [21]. Darüber hinaus beeinflussen Wertvorstellungen, ob oder unter welchen Bedingungen
Maßnahmen mit lediglich marginalem Wirksamkeitspotential angeboten werden [22]
[23]. Hinzu treten unterschiedliche Einstellungen zum Umgang mit Situationen unter Unsicherheit
[21].
Der individuelle ärztliche Umgang mit Wahrscheinlichkeiten lässt sich nur schwer von
vielfältigen psychologischen Einflüssen trennen. Ein bewusster Umgang mit diesen Einflussfaktoren
ist aber erstrebenswert und sollte eingeübt werden, um eine transparente Benennung
der Bewertungsgrundlagen gegenüber Patientinnen möglich zu machen. Eine vollständige
Eliminierung dieser Faktoren aus der Indikationsstellung zu fordern, würde jedoch
dem Grundgedanken ärztlicher Urteilskraft zuwiderlaufen.
Daneben beeinflussen auch (gesellschaftlich vermittelte) moralische Wertvorstellungen
ärztliche Urteilskraft. Dies lässt sich besonders gut mithilfe verschiedener Zielsetzungen
demonstrieren. So muss die Bewertung der Wirksamkeit einer konkreten Maßnahme für
eine Patientin notwendigerweise mit Blick auf bestimmte Zielsetzungen ausgewiesen
werden.
Grundsätzlich sollten Ärztinnen die Zielsetzung und die darauf bezogene Indikationsstellungen
an allgemeinen Zielen der Medizin ausrichten. Diese sind: Vorbeugen von Krankheit
oder Verletzung sowie Fördern und Erhalten von Gesundheit, Behandeln und Sorgen für
Erkrankte und das Sorgen für diejenigen, deren Erkrankung nicht geheilt werden kann,
das Lindern von Schmerzen und Leid durch Krankheit sowie das Verhindern eines vorzeitigen
Todes und das Erreichen eines friedlichen Todes [24].
Abhängig von der Zielsetzung unterscheiden sich Aussagen darüber, ob eine Maßnahme
wirksam ist, um dieses Ziel zu erreichen.
Daher ist es von zentraler Bedeutung, die Zielsetzungen einer Indikationsstellung
einerseits und die diesen Zielsetzungen (implizit) zugrundeliegenden Werturteile andererseits
auszuweisen.
Empirische Untersuchungen zeigen, wie stark sich Wertvorstellungen hinsichtlich medizinischer
Zielsetzungen unterscheiden können. So wurde etwa gezeigt, dass Unterschiede in den
Einstellungen zur Nichteinleitung im Vergleich zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen
nicht nur zwischen einzelnen Ländern und Regionen, sondern auch zwischen einzelnen
Fachpersonen auf einer Intensivstation bestehen [25].
Gesellschaftliche Wertvorstellungen und nichtmedizinische Einflussfaktoren
Im Rahmen der Indikationsstellung können weitere (gesellschaftlich vermittelte) moralische
Wertvorstellungen zum Tragen kommen. Diese können implizit Bestandteil der beschriebenen
ärztlichen Urteilskraft sein. Sie werden hier gesondert aufgeführt, weil es bei diesen
Wertvorstellungen unter Umständen nicht ausreicht, sie für die Entscheidungsfindung
als Bezugspunkte der Indikationsstellung transparent zu machen. Derartige Wertvorstellungen
und nichtmedizinische Einflussfaktoren betreffen Fragen wie z.B.
-
die angemessene Berücksichtigung von älteren Personen oder Menschen mit Behinderung
in der medizinischen Versorgung,
-
den Wert von zeitlich sehr begrenzter Lebensverlängerung unter hohem Ressourcenaufwand
sowie
-
die Legitimität des Einflusses von ökonomischen Faktoren, oder ärztlicherseits wahrgenommene
Interessen Dritter.
Mit Blick auf solche Fragen reicht Transparenz allein nicht aus. Über die Legitimität
solcher Einflussfaktoren müsste vielmehr ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess
stattfinden.
Die Notwendigkeit der Abgrenzung der Indikationsstellung von Verteilungsentscheidungen
etwa wurde von ZEKO und BÄK betont [1]
[2]. Dennoch können beispielsweise finanzielle oder wissenschaftliche Anreize Indikationsstellungen
(implizit) beeinflussen. So belegen empirische Studien etwa den Einfluss von Engpässen
in Intensivressourcen [26]
[27], notwendigen Mindestzahlen [26]
[28]
[29], Forschungsinteressen, Kosten-Nutzen-Abwägungen, finanziellen Anreizen und allgemeinem
ökonomischen Druck auf Indikationsstellung [4].
Aus patientenrechtlicher Perspektive wäre – wenn solche Einflüsse nicht ausgeschlossen
werden können – die Indikationsstellung als alleinige ärztliche Aufgabe in Frage zu
stellen. Wenn Ärztinnen in die Indikationsstellung persönliche Wertvorstellungen etwa
hinsichtlich einer aus ihrer Sicht gerechten Ressourcenverteilung (implizit) einfließen
lassen, wird die ärztliche Zuständigkeit überschritten und entweder in die Patientenselbstbestimmung
(implizit) eingegriffen oder Verteilungsentscheidungen getroffen, die gesundheitspolitisch
bzw. gesellschaftlich, nicht aber von einzelnen Ärztinnen im Rahmen der Indikationsstellung
zu treffen sind.
Illustration von Werte-explizierender Indikationsstellung
Die folgenden Fallbeispiele ([Tab. 1]) demonstrieren, wie Werturteile und weitere Einflussfaktoren die Wahl der medizinischen
Zielsetzung und die darauf bezogenen Indikationsstellungen beeinflussen können.
Tab. 1 Beispiele für die Indikationsstellung zum Einsatz von Antibiotika und zur Fortsetzung
einer eingeleiteten Intensivtherapie.
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Situation 1: Eine Patientin mit einer fortgeschrittenen onkologischen Erkrankung stellt sich mit
Fieber unklarer Ursache in der onkologischen Ambulanz vor. Es sind alle Optionen einer
tumorgerichteten Therapie ausgeschöpft. Zwischen unterschiedlichen Ärztinnen besteht
Uneinigkeit zur Indikation der kalkulierten Gabe oraler Antibiotika:
-
Ärztinnen A + B: Keine Indikation für Antibiotika, da dem Ziel, Leid zu lindern, Vorrang gegenüber dem Gewinn von Lebenszeit
gegeben wird;
-
Ärztinnen C + D: Indikation für Antibiotika, da die Heilung des Infektes und der mögliche Gewinn von Lebenszeit
als Ziele im Vordergrund stehen
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Folgende Werturteile könnten in die Indikationsstellung eingeflossen sein:
Ärztin A: Bewertet, durch den Vergleich mit ähnlichen Verläufen, die zu erwartende Belastung
durch die Symptome der Tumorerkrankung als so schwerwiegend, dass sie den natürlichen
Verlauf des Infektes akzeptieren und ausschließlich palliativ begleiten möchte.
Ärztin B: Bewertet das Leben im Stadium der Grunderkrankung für nicht verlängerungswürdig und
eine kurze Lebenszeitverlängerung für zu leidvoll, auch mit Blick auf Belastung sowie
das Einsparen von Kosten bzw. Ressourcen einer möglicherweise erforderlichen Intensivtherapie
im Fall einer Verschlechterung unter der Antibiotikatherapie.
Ärztin C: Bewertet das Nutzenpotenzial für diese Patientin für den Gewinn von Lebenszeit als
positiv, die Maßnahme als wenig belastend.
Ärztin D: Bewertet das Nutzenpotenzial als positiv und führt gerade eine Studie bei einer ähnlichen
Patientengruppe durch, deren Ergebnisse für die Therapie in eine vielversprechende
Richtung weisen.
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Situation 2: Auf einer internistischen Station wurde eine Patientin mit fortgeschrittener, metastasierter
Tumorerkrankung bei akuter Atemnot notfallmäßig im Nachtdienst intubiert. Nach Stabilisierung
des akut lebensbedrohlichen Zustandes der Patientin soll die Indikation zur Fortsetzung
der Intensivtherapie überprüft werden:
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Ärztinnen E + F: Keine Indikation für Fortsetzung der Intensivtherapie, da Begleiten des Lebensendes und Leid lindern
für die kurze verbleibende Zeit als Ziel zugrunde gelegt werden.
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Ärztinnen G + H: Indikation für Intensivtherapie mit Lebenserhalt als primäres Ziel.
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Folgende Werturteile könnten in die Indikationsstellung eingeflossen sein:
Ärztin E: Bewertet, durch den Vergleich mit ähnlichen Verläufen, den zu erwartenden Gewinn
an Lebenszeit als zu geringfügig im Verhältnis zu ihrer Einschätzung von Belastung
und Kosten der Intensivtherapie.
Ärztin F: Bewertet das Risiko der Tumorprogression im Vergleich zur wenig wahrscheinlichen
Erholung der Patientin von der Intensivtherapie so hoch, dass aus ihrer Sicht die
Fortsetzung der Intensivtherapie ein Verlängern der Sterbephase bedeuten würde.
Ärztin G: Bewertet den Gewinn von Lebenszeit als ein grundsätzlich vorrangiges Ziel, für das
aus ihrer Sicht auch Belastungen in Kauf genommen werden sollten, zumal die Fortsetzung
der Beatmung besser abgerechnet werden kann.
Ärztin H: Bewertet die vorläufige Fortsetzung der Therapie als bedeutsam, um die Ursache der
respiratorischen Insuffizienz abklären zu können. Sie möchte in Kenntnis der Ergebnisse
reevaluieren, ob ein Gewinn an Lebenszeit durch die Intensivtherapie ermöglicht werden
könnte.
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Folgende Werturteile haben Einfluss auf die Indikationsprozesse der Situationen 1
und 2:
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Wertungen im Umgang mit Erfahrungswissen
z. B. Umgang mit der zugrundeliegenden Evidenz, Erfahrung bei ähnlichen Fällen, spezifische
Erfahrungen und Kultur im eigenen Fachbereich, Einschätzung des Nutzen-, Risikopotenzials,
Handeln unter Unsicherheit.
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Diese sollten Ärztinnen sich bewusst machen und möglichst auch explizieren.
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Individuelle Auswahl und Gewichtung professionsethischer Werte:
z. B. Lebenserhalt, Wohlbefinden, Symptomlinderung, Leidlinderung.
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Diese sollten von Ärztinnen explizit gemacht werden.
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Nichtmedizinische Faktoren und Werturteile außerhalb professionsethischer Kompetenz:
z. B. eigene Forschungsinteressen, Beurteilung von Leben als lebenswert, Kosten oder
Ressourcen im Fall begrenzt verfügbarer oder teurer Therapien.
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Diese sollten kein Bestandteil der Indikation sein.
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Indikationsstellung und Entscheidungsfindung
Bei der Indikationsstellung sollte die Werteexplikation bewusst und getrennt vor dem
Entscheidungsprozess mit der Patientin erfolgen. Dieser Vorschlag soll primär anregen,
Transparenzforderungen für Werturteile und damit zusammenhängende Zielsetzungen in
der Indikationsstellung ernst zu nehmen und diese zu explizieren. Im Schritt der angestrebten
Werte-explizierenden Indikationsstellung soll also bewusst die Ermittlung der Werturteile
und Therapiewünsche von Patientinnen herausgehalten werden. So sollen normativ nicht
gewünschte Folgen einer vorschnellen Vermengung vermieden werden. Dazu gehört auch
das Risiko, bestimmte Maßnahmen zu früh auszuschließen, weil sie ein Therapieziel
verfolgen, das von der Patientin nicht genannt wurde. Die endgültige Bewertung, ob
eine auf ein allgemeines Ziel der Medizin hin indizierte Maßnahme durchgeführt werden
soll oder nicht, ist Teil des Entscheidungsprozesses und obliegt dann den Werten und
Zielen der Patientin im Rahmen indizierter Maßnahmen. Der hier vorgeschlagene Prozess
ist in [Abb. 1] dargestellt.
Abb. 1 Werturteile im Kontext von Indikationsstellung.
Diskussion
Aufgezeigt werden konnte, wie Werturteile in die Indikationsstellung einfließen können.
Manche von ihnen sind notwendig mit der Etablierung und Interpretation medizinischen
Wissens verbunden. So wird bereits medizinische Forschung auf vielfältige Weise von
epistemischen und nicht-epistemischen Werturteilen beeinflusst, etwa im Rahmen von
Wirksamkeitsstudien. Solche Werturteile fließen implizit auch in Indikationsstellungen
hinein. Diese Werturteile transparent zu machen, ist herausfordernd; ein bewussterer
Umgang mit ihnen hingegen wäre wünschenswert. Werturteile spielen auch eine Rolle
für die ärztliche Urteilskraft, die im Rahmen der Indikation Anwendungsbezüge von
allgemeinem evidenzbasierten Wissenskorpus, medizinischem Standard und Erfahrungswissen
zur konkreten Patientin herstellt. Um davon sprechen zu können, dass eine konkrete
Maßnahme indiziert ist, muss sich die Ärztin notwendigerweise auf ein bestimmtes Ziel
beziehen. Sofern an dieser Stelle nicht das Therapieziel der Patientin herangezogen
wird – wogegen wir mit Blick auf mögliche unerwünschte Folgen argumentiert haben –
handelt es sich hierbei um grundsätzliche Ziele der Medizin (u.a. Gesundheit wiederherstellen).
Innerhalb der Ziele der Medizin wird die Wahl des Zieles, auf das hin die Ärztin die
Indikation prüft, auch von ihren eigenen, d.h. professionellen oder individuellen
Werten abhängen.
Die der Begründung der Indikation zugrundeliegenden Werte transparent zu machen, hat
Vorteile für die Patientin und die Ärztin.
Die Patientin kann indizierte Maßnahmen in Kenntnis der sonst implizit zugrunde liegenden
Wertvorstellungen einordnen und auf dieser Basis ihre Zustimmung oder Ablehnung treffen.
Die Ärztin kann ihre Indikationsstellung zunächst unabhängig von Wünschen der Patientin
treffen und prüfen, ob für sie eine Maßnahme auf ein bestimmtes Ziel hin indiziert
ist. Dies kann dann auch in der – entlang ihrer explizierten Werturteile – begründeten
Feststellung münden, dass eine Maßnahme nicht indiziert ist. Im dann folgenden Entscheidungsprozess
werden Ziele sowie Werte der Patientin und die aus der Indikationsstellung zusammengeführt.
Damit wären die Gründe für die Zustimmung oder Ablehnung transparent: auf Patientenseite
sowie auf ärztlicher Seite. Die Ärztin ist so in der Lage zu begründen, warum sie
bestimmte mit Therapiewünschen einer Patientin verbundene Maßnahmen als nicht indiziert
ansieht und daher nicht anbietet, und müsste diese Begründung nicht erst beim Auftreten
solcher Wünsche rekonstruieren.
Bestimmte Werturteile und andere Faktoren können die Indikationsstellung beeinflussen,
die nicht mehr im Ermessensspielraum einer durch die berufliche Qualifikation der
Ärztin legitimierten Indikationsstellung liegen, auch dann nicht, wenn diese transparent
gemacht werden. Ausdrücklich nicht Teil von Indikationsstellungen ist es beispielsweise,
Urteile über die Bedeutung und den Inhalt lebenswerten Lebens zu treffen. Außerdem
gehören dazu etwa ökonomische Faktoren oder Ressourcenfragen. Zwar können Verteilungsfragen
durchaus die ärztliche Tätigkeit betreffen (und tun dies auch), allerdings sollten
sie keinen Einfluss auf Indikationsstellungen haben. So kann eine Maßnahme auch dann
indiziert sein, wenn die Gesellschaft bzw. die Versichertengemeinschaft oder die Ärztin
zu dem Ergebnis kommen, dass sie nicht finanzierbar ist oder dass sie aufgrund knapper
Ressourcen nur begrenzt zur Verfügung steht.
Die Antwort auf Fragen zur Verteilung knapper Ressourcen bedürfen gesamtgesellschaftlicher
Aushandlungsprozesse und daraus abgeleiteter Konzepte in der klinischen Praxis, sind
aber nicht Teil der Indikationsstellung.
Die besonderen Herausforderungen durch Werturteile im Prozess der Indikationsstellung
werden unserer Ansicht nach bisher weder durch die Rechtsprechung noch durch Stellungnahmen
relevanter Akteure im Gesundheitswesen ausreichend benannt. Für die Umsetzung unserer
Ausführungen in der Praxis sind Leitfäden erforderlich, die helfen, Werturteile bewusst
zu machen, zu explizieren und zu verdeutlichen, welche Werturteile nicht in die Indikation
einfließen dürfen.
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Werturteile sind unvermeidbar und erfordern einen bewussten Umgang, denn sie können
die Indikationsstellung beeinflussen.
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Es dient der Klarheit und Transparenz, ärztliche Wertungen und Präferenzen von Patientinnen
getrennt zu analysieren, zu explizieren und im Entscheidungsprozess zusammenzuführen.
-
Wirtschaftliche und andere Überlegungen oder Verteilungsentscheidungen sollten unabhängig
von Indikationsstellungen geprüft werden.