Psychiatr Prax 2025; 52(08): 461-462
DOI: 10.1055/a-2714-9817
Buchbesprechung

Sozialpsychiatrische Begleitung von Menschen in prekären Lebenslagen

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Klaus Obert, Kerstin Folgner, Claudia Reinhardt. Sozialpsychiatrische Begleitung von Menschen in prekären Lebenslagen. 1. Auflage. Köln: Psychiatrie Verlag, 2025, 160 Seiten, ISBN: 978-3-96605-313-6, 22,00 €

Klaus Obert, Kerstin Folgner und Claudia Reinhardt haben im Psychiatrie Verlag einen Praxisratgeber mit dem Titel „Sozialpsychiatrische Begleitung von Menschen in prekären Lebenslagen“ veröffentlicht. Es geht um Menschen, die allzu oft durch das Raster der sozialpsychiatrischen Hilfsangebote fallen, die nicht in die vorgefertigten Institutionen des Gesundheitssystems passen und die deshalb allzu oft vernachlässigt werden. Die Herausgeber:innen haben langjährige Erfahrungen mit dem psychiatrischen und psychosozialen Hilfesystem, haben sozialpsychiatrische Dienste und ein Gemeindepsychiatrisches Zentrum geleitet und im akademischen Bereich des öffentlichen Gesundheitswesen gearbeitet. Auch die weiteren Autoren Matthias Albers, Detlev Gagel und Klaus Petzold sind als Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Abteilung für soziale Psychiatrie beziehungsweise sozialpsychiatrischer Dienste mit dem Thema bestens vertraut.

Das Buch ist in 8 Kapitel gegliedert und widmet sich nach einer allgemeinen Einführung schwierigen Konstellationen, der Etablierung und Aufrechterhaltung des Kontakts, aber auch Situationen, in denen dieser abgelehnt wird oder gar nicht erst zu Stande kommt. Auch besonders umstrittenen Themen wie der forensischen Nachsorge und dem Umgang mit besonders schwierigen Fallkonstellationen wird in je einem eigenen Kapitel Rechnung getragen, bevor mit dem Thema der „Gestaltung von Gratwanderungen“ die verschiedenen Konflikte und Spannungsbereiche, die die Arbeit in diesem Feld kennzeichnen, noch einmal zusammengefasst werden.

Das Ziel der Autor:innen war es, Fallbeispiele von Menschen zusammenzutragen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen schwertun, sich überhaupt auf Kontakt, Hilfe und Unterstützung einzulassen. Immer auf Seiten dieser Personen stehend wird ohne falsche Romantik beschrieben, wie sich die Profis an den Betroffenen und die Betroffenen an den Profis und ihren Hilfsangeboten immer wieder „die Zähne ausbeißen“. Die Autor:innen betonen, dass es ethische, fachliche und soziale Gründe gibt, solche Menschen nicht einfach im Zuge einer neoliberal geprägten Betonung der Selbstverantwortung und Autonomie ihrer Armut und Obdachlosigkeit zu überlassen. Gerade vor dem Hintergrund der Diskussion um die Freiwilligkeit psychiatrischen Handelns ist der Umgang mit für das Hilfesystem „herausfordernden Menschen“ von besonderer Bedeutung. Denn hier gilt es, die Dialektik des Rechts auf Gesundheit und auf Krankheit zu beachten und mit den Betroffenen und ihren Angehörigen und Freunden abzuwägen. Die Autor:innen betonen, dass es in dem Spannungsbogen zwischen fürsorglicher Belagerung und neoliberaler Vernachlässigung, Autonomie und solidarischer Hilfe keine einfachen Lösungen gibt. Sie schildern Fallbeispiele, bei denen sich am Ende nicht alles in Wohlgefallen auflöst. Vielmehr müssen Betroffene und Profis ebenso wie Angehörige und Freunde in der jeweiligen Situation Lösungen finden, die nicht den einen Pol der Spannungsbögen zu Gunsten des anderen ignorieren, sondern die momentan gefundenen Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Anforderungen und ethischen Werten immer wieder zur Diskussion stellen. An die Stelle moralisierender Selbstgewissheit tritt so der offene und nie abgeschlossene Austausch über eine alltags- und lebensweltorientierte, geduldige und flexible Herangehensweise im jeweiligen Kontext. Jede momentane Lösung kann in einer anderen Situation oder zu einer anderen Zeit falsch sein und muss entsprechend überdacht und angepasst werden. Die Autor:innen möchten dazu beitragen, dass niemand aufgegeben wird, so wenig die Person und ihre besonderen Bedürfnisse in vorgefertigte Hilfesysteme passen und so schwierig dies im Einzelfall auch sein mag.

Dem klugen und nachdenklichen Buch mit seiner praktischen Orientierung ist eine weite Verbreitung und offene Diskussion zu wünschen!

Andreas Heinz, Berlin

Andreas.Heinz@guest.uni-tuebingen.de



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
12. November 2025

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