Z Sex Forsch 2025; 38(04): 231-232
DOI: 10.1055/a-2732-6534
Bericht

Rückblick und Perspektiven: Sexualpädagogik in den 1990er-Jahren

Authors

  • Soph Prickler

Am 12. April 2025 lud die Sektion Geschichte der Gesellschaft für Sexualpädagogik (GSP) zu einem Fachworkshop mit Schwerpunkt auf die deutsche Sexualpädagogik in den 1990er-Jahren ein. Die aus GSP-Mitgliedern bestehende Organisationsgruppe sieht die sexualpädagogischen Entwicklungen und Diskurse der 1990er-Jahre als einflussreich bis in die Gegenwart der Fachdisziplin an, zugleich sei eine intensivere Beschäftigung mit diesem Jahrzehnt der Sexualpädagogik in Deutschland bislang ausgeblieben. Mit Blick auf die Erkenntnisse aus der aktuellen Aufarbeitungsforschung sei die Überschneidung von Teilen der Sexualpädagogik mit pädosexualitätslegitimierenden Positionen und gewaltermöglichenden Zusammenhängen nicht von der Hand zu weisen. Dies werde Teil der Diskussionen in der Veranstaltung sein, so Moderator Marco Kammholz eingangs, gleichermaßen diene der Workshop dazu, den Blick auf den über diesen Aspekt hinausreichenden Facettenreichtum sexualpädagogischer Ansätze der 1990er-Jahre zu richten.

Annika Valentin eröffnete den Workshoptag methodisch mit einem interaktiven Zeitstrahl. Die Teilnehmenden sortierten gesellschaftspolitische, sexualpädagogische und kulturelle Ereignisse anhand der Jahreszahlen. Dabei zeigten sich rechtliche Veränderungen, nicht zuletzt durch die Angliederung der DDR an die BRD, gesellschaftliche Umbrüche angesichts der Kämpfe von Frauen- und Homosexuellenbewegung und geschlechtertheoretische Weiterentwicklungen sowie öffentliche und neuartig medialisierte Diskurse von Sexualität, u. a. im Zuge der bundesweiten AIDS-Aufklärungskampagnen. Ein plastisches Bild der gesellschaftlichen Umbrüche ergab sich dabei nicht zuletzt durch die persönlichen und beruflichen Erinnerungen einiger Teilnehmenden aus dem Jahrzehnt. Unterschiedliche Perspektiven zeigten sich beispielsweise auf die „mach’s mit“ AIDS-Präventionskampagne, deren Plakate ab 1994 den öffentlichen Raum prägten. Der imperative Charakter der Kampagne wurde einerseits als sexualitätsnormierender Moment wahrgenommen. Andererseits wurde betont, dass die popkulturelle Präsenz, die das Kondom durch die Plakatmotive erlangte, das Sprechen über Sexualität maßgeblich normalisierte und enttabuisierte.

Konrad Weller berichtete in seinem Vortrag aus der Sicht eines Zeitzeugen von den sexualpädagogischen und -wissenschaftlichen Entwicklungen der 1990er, in eigenen Worten „subjektiv – selektiv – ostig“. Durch die Mischung aus Fachvortrag, anekdotischen Erinnerungen und Materialien, vor allem auch aus Heften des pro familia Verbandsmagazins, das der Referent selbst redaktionell mitverantwortete, entstand ein lebhaftes Bild des Jahrzehnts. Die 1990er-Jahre wurden, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern vor dem Hintergrund der Abwicklung der DDR, als Zeit der Innovation aus Notwendigkeit dargestellt. Die entstandenen Freiräume seien von homosexuellen Organisationen, einfallsreichen Akteur*innen in der Jugendbildungs- und Beratungsarbeit, aber auch von aus Westdeutschland zugewanderten christlich-konservativen Vertreter*innen der Politik gestaltet worden. Wichtige Konzepte der Sexualpädagogik seien in diesem Jahrzehnt geschärft worden, unter anderem auf dem Fachtag Sexualpädagogik und Sexualwissenschaft (1997), in dessen Nachgang sich 1998 die GSP gründete. Auch die Hinwendung zu Kindern als Zielgruppe sei eine sexualpädagogische Entwicklung der 1990er-Jahre, welche sich aus den Diskursen zu Prävention von sexuellem Missbrauch ergeben habe. Wellers Ausführungen zu damaligen Angriffen auf die Sexualpädagogik verdeutlichten, dass sich sowohl die Akteur*innen, zumeist aus dem rechtskonservativen und fundamental-christlichen Milieu, als auch die Argumentationslinien von damals und heute ähneln. Inwiefern Angriffe auf die Sexualpädagogik aktuell, beispielsweise mittels medialer Hetzkampagnen sowie durch die landes- und bundespolitischen Forderungen der AfD, eine präzedenzlose Kraft entfalten, wurde an dieser Stelle nicht weiter diskutiert. Es bleibt eine Herausforderung, sich diesbezüglich fachlich zu vernetzen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

In der auf den Vortrag folgenden Diskussion trat vor allem die Frage in den Fokus, inwiefern die Liberalisierungseuphorie des Jahrzehnts daran beteiligt sei, dass die Positionen Helmut Kentlers, der als Vertreter der emanzipatorischen Sexualpädagogik sexuelle Begegnungen zwischen Minderjährigen und Erwachsenen rechtfertigte und ermöglichte, in der Fachdisziplin unwidersprochen blieben. Schon 1989 hatte er in einem einschlägigen sexualpädagogischen und von Fachkolleg*innen rezipierten Werk zu seinen sogenannten „Experimenten“ publiziert, in denen er junge Menschen aus der Kinder- und Jugendhilfe gezielt bei Pädokriminellen unterbrachte. Manche Teilnehmenden betonten in Bezug auf die Frage, ob das sexuell liberale Klima des Jahrzehnts diese Gewalt mitermöglicht habe, das Überwiegen der demokratisierenden und pazifizierenden Wirkungen von sexuellen Liberalisierungsprozessen und den allgemeinen Rückgang sexualisierter Gewalt seit den 1990er-Jahren. Auch wurde die Notwendigkeit, Prävention von sexueller Bildung abzugrenzen, diskutiert und zugleich kritisch infrage gestellt. Offen bleibt die dringliche Frage, welche Faktoren die Aufarbeitung des Wirkens Kentlers in der Sexualpädagogik und darüber hinaus bis heute erschweren.

Am Nachmittag luden Annika Valentin, Vanessa Scholz, Frank Herrath und Sebastian Schädler zu einer sexualpädagogischen Materialschau ein. Diese bestand aus einer umfangreichen Sammlung an Broschüren, Filmen und Methodenbüchern aus den 1990er-Jahren. Die mitgebrachten Broschüren für Jugendliche überraschten durch ihre teils diskriminierungssensible Sprache, waren den Teilnehmenden jedoch aus ihren eigenen biografischen oder berufspraktischen Erinnerungen nur wenig bekannt. Die Aufklärungsfilme zeigten einen markanten Rückgang der konkreten Darstellung nackter Körper, welche durch gezeichnete Darstellungen ersetzt wurden. Die Teilnehmenden setzen sich kritisch-reflektierend mit dieser Entwicklung auseinander. Sie diskutierten, dass grafisch-symbolisches Arbeiten zu Körpern zum Ziel habe, die Schamgrenzen von Kindern und Jugendlichen zu wahren. Dennoch habe diese Entwicklung zum Effekt, dass konkrete Bilder von Körpern und Sexualität inzwischen nur noch in der Pornografie zu finden seien. Es wurde sich die Frage gestellt, ob die Sexualpädagogik junge Menschen in ihrem Lerninteresse an dieser Stelle sich selbst und eigener Internetrecherchen überlässt. Die sexualpädagogischen Methodenbücher zeichneten sich durch einen Fokus auf HIV/Aids und Prävention aus. Manche von ihnen beinhalteten Übungen zu Beziehungsanbahnung und -gestaltung, welche inzwischen unüblich wären. In der Auseinandersetzung mit den Büchern offenbarte sich, dass die Verhandlung darüber, wie kognitiv-sprachlich oder körperlich-sinnlich das sexualpädagogische Lernen sein kann und sollte, ein weiterhin bestehender Prozess ist.

In der Abschlussdiskussion wurde das behandelte sexualpädagogische Jahrzehnt als durchaus sexualfreundlich resümiert. In den 1990er-Jahren seien Sexualpädagog*innen, so der berufsbiografische Rückblick von Zeitzeug*innen, euphorisch, selbstbewusst und sicher aufgetreten. Das Jahrzehnt habe die Grundlagen geschaffen, aus denen sich später die bis heute relevante Entwicklung des Konzepts der sexuellen Bildung sowie die Ansätze der neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik ergeben haben. Das Jahrzehnt zeigte sich als eine Zeit des regen Fachaustausches, in der sich die Profession mit ihren Konzepten entwickelte. In der Diskussion wurde der Impuls gesetzt, wieder mehr Räume zum fachlichen und kontroversen Austausch zu schaffen, gerade im Hinblick auf gesellschaftliche Umbrüche und damit verbundene Herausforderungen. Die Teilnehmenden äußerten den Wunsch, die Geschichte der Sexualpädagogik weiter zu ergründen sowie aktuelle Widersprüche und Leerstellen in der Sexualpädagogik vor dem Hintergrund dieser Geschichte zu bearbeiten.

Der Fachworkshop widmete sich der Geschichte der 1990er-Jahre aus sexualpädagogischer Sicht. Er machte die Entwicklungen des Jahrzehnts sichtbar, welche sowohl die gesellschaftliche Sexualmoral, als auch die Profession bis heute prägen. Der Workshoptag endete mit dem Aufruf zu mehr sexualpädagogischen Debattenräumen, auch kontroversen. So könnten Methoden und Konzepte, die in den 1990er- und 2000er-Jahren geprägt wurden, vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen aktualisiert werden. Gleichzeitig sollten die sich zuspitzenden Angriffe von Rechts nicht außer Acht geraten. Diese zeigen die Notwendigkeit dafür, Sexualpädagogik auch politisch zu denken und zu betreiben. Nicht zuletzt in Anbetracht der mehr und mehr bedrohten sexuellen Freiheiten, die die 1990er sexualpädagogisch so sehr prägten.



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Article published online:
10 December 2025

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