zur Arbeit "Mortalität durch Neuroleptika" von V. Aderhold (Soziale Psychiatrie 4/2007,
S. 5-10)
Gerd Laux, Wasserburg
Wilfried Günther, Bamberg
Ulrich Frommberger, Offenburg
Michael Deuschle, Mannheim
Thomas Messer, Augsburg
Max Schmauß, Augsburg
Heinrich Schulze-Mönking, Telgte
Reinhard Steinberg, Klingenmünster
Karl-Ludwig Täschner, Stuttgart
Die o.g. Arbeit von Herrn Aderhold befasst sich mit einem klinisch als auch gesundheitsökonomisch
wichtigen, aber methodologisch hochgradig komplexen Thema. Die Arbeit zeichnet sich
durch einige Probleme aus. Bei berechtigter Kritik am gegenwärtigen Stand des Wissens
finden sich im Artikel verallgemeinernde und ideologische Passagen. So sieht er viele
Fragestellungen der Schizophrenieforschung als "reduktionistisch" und als "Ergebnis
der Einflussnahme des pharmaindustriellen Komplexes" an. Eine "Verharmlosung des Nebenwirkungsspektrums
der Atypika" sei die Folge.
Aus unserer Sicht ist das Gegenteil der Fall: In der wissenschaftlichen psychiatrischen
Literatur findet sich eine Vielzahl von Publikationen auch in sehr renommierten Zeitschriften
zu Nebenwirkungsrisiken, die Herr Aderhold auch eingehend zitiert. Für keine Medikamentengruppe
innerhalb der Medizin existieren so intensive Aufklärungsmaßnahmen und Drug-Surveillance/Meldesysteme
(AMSP, AMÜP/AGATE) wie für Psychopharmaka.
Im Folgenden kann nur exemplarisch anhand wissenschaftlicher Literaturbelege auf einige
Kernpunkte eingegangen werden. Allgemein scheint uns Folgendes wichtig:
Eine pauschale Betrachtungsweise wird der Thematik auf keinen Fall gerecht - weder
die Schizophrenie noch die Neuroleptika oder Atypika sind homogene Entitäten. Bei ersterem handelt es sich um ein breites Spektrum psychotischer
Störungen mit verlaufs- und prognoserelevanten diversen Subtypen; bei Letzterem stellen
weder "Neuroleptika" noch "Atypika" homogene Medikamentengruppen dar, sie differieren
in ihrem Wirkansatz, ihrer Struktur und auch gerade im Nebenwirkungsspektrum erheblich.
Richtig ist, dass die bislang verfügbaren atypischen Antipsychotika die gesetzten
Erwartungen nicht erfüllen konnten und die Behandlungseffektstärken Vorteile gegenüber
konventionellen Neuroleptika (nur) im Bereich von etwa 8% liegen (Leucht et al. 2003).
Es ist aus methodologischer Sicht jedoch problematisch, naturalistische Effectiveness-Studien
wie CATIE mit den Ergebnissen kontrollierter Wirksamkeitsstudien zu vergleichen. Staatliche
Zulassungsbehörden berücksichtigen deshalb nur randomisierte klinische Studien (Möller
et al. 2007). Fazit vieler Studien ist, dass auch unter modernen Substanzen eine hohe
Noncompliance/Abbruchrate besteht.
Herr Aderhold sieht die erhöhte Mortalität der Schizophrenen kausal als Folge der
Neuroleptikatherapie, insbesondere der neueren Antipsychotika. Die erhöhte Mortalität
ist aber eine seit Langem bekannte Tatsache.
Bereits in einer Übersichtsarbeit aus dem Jahre 1991 stellte Walz dazu 21 Untersuchungen
zusammen. Es zeigte sich, dass die Mortalität schon in der Ära vor Einführung der
Neuroleptika, d.h. den Jahren 1925-1929 basierend auf knapp 3 700 schizophrenen Patienten
gegenüber der Gesamtbevölkerung ca. 5-fach erhöht war. Skandinavische Studien aus
den Jahren 1924-1936 mit Fallzahlen über 30 000 zeigten ein 3- bis 5-fach erhöhtes
Suizidrisiko schizophrener Patienten. Aus der Zeit nach 1957 jedoch beträgt das berichtete
gesamte Mortalitätsrisiko in insgesamt 12 Studien das 1,5- bis höchstens 3-fache gegenüber
der Gesamtbevölkerung.
Es zeigte sich somit eine Verminderung der erhöhten Mortalität der Schizophrenie gegenüber der Normalbevölkerung in der Zeit nach 1957 mit Einführung
der Neuroleptikatherapie. Eine neue Studie von Khan et al. (2007), basierend auf der
FDA-Datenbank von 1982-2002, kommt zu dem Ergebnis, dass die Mortalitätsrate für Placebobehandlung
signifikant höher war als für typische oder atypische Antipsychotikabehandlung. Verschiedene
Autoren gehen auf die Übersterblichkeit Schizophrener ein und konvergieren dahingehend,
dass ungesunder Lebensstil, exzessives Rauchen, Alkohol- und Drogenabusus sowie fehlende
medizinische Compliance als Hauptursachen anzusehen sind (Brown et al. 2000, Joukamaa
et al. 2006, Osborn et al. 2007). Eine jüngste Übersichtsarbeit von Robinson (2008)
konstatiert, dass kardiovaskuläre und metabolische Erkrankungen bei Schizophrenen
2- bis 3-mal häufiger sind als in der Durchschnittsbevölkerung und deshalb "natürliche
Ursachen" für die erhöhte Mortalität sein dürften.
Zu den Risikofaktoren ist festzustellen: Die erhöhte Rate plötzlichen Herztodes ist
für bestimmte Neuroleptika unbestritten, nämlich Thioridazin (QTC-Verlängerung u.a.),
Pheno„thiazine und Thioxanthene (Reizleitungsstörungen) wie in den erwähnten Studien
(u.a. Joukamaa et al. 2006). In letzterer Studie bezieht sich die Sterblichkeit der
17-Jahres-Katamnese übrigens auf die initiale Medikation. Es ist zu bezweifeln, ob
die Polypharmazie über diesen Zeitraum praktiziert wurde (siehe hohe Noncompliance).
Die Übersterblichkeit an plötzlichem Herztod könnte somit nur für die genannten typischen
konventionellen Neuroleptika konstatiert werden, wobei es offen bleibt, welche Stoffe
die Patienten sonst noch in den darauffolgenden 17 Jahren eingenommen haben.
Das Risiko schizophrener Patienten, ein metabolisches Syndrom zu entwickeln, ist bekannt.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Inzidenz des metabolischen Syndroms inkl.
des Diabetes mellitus (wohl bedingt durch die moderne Lebens- und Ernährungsweise)
seit Jahren ansteigt. Der komplexe Sachverhalt kann sicherlich nicht vereinfachend
monokausal alleine der antipsychotischen Medikation zugeschrieben werden. Diabetes
ist bei Schizophrenen behandlungsunabhängig wohl infolge genetischer Faktoren und
Elementen der Lebensführung erhöht. Korrelationen sind nicht mit Ursachen zu verwechseln.
Auch ist die Einnahme anderer Medikamente bis hin zu Drogen zu berücksichtigen. Atypische
Antipsychotika unterscheiden sich erheblich bezüglich metabolischer Nebenwirkungen:
Olanzapin und Clozapin sind eindeutig mit Gewichtszunahme, Dyslipidämie und Hyperglykämie
assoziiert, zum Beispiel Aripiprazol, Ziprasidon und Amisulprid sind weitgehend stoffwechselneutral
(Scheen u. De Hert 2007, Brown et al. 2000). Eine österreichische Dissertation fand
jüngst keinen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Auftretens eines metabolischen
Syndroms und der Einnahme von atypischen Neuroleptika bei stationären Patienten (Hübel
2008).
Herr Aderhold zitiert eine Reihe von Studien zur Belegung einer erhöhten Mortalität
durch Suizid seit Einführung der Neuroleptika und bettet diese Argumentation gleichzeitig
ein in die vielfältigen Faktoren der Suizidalität bis hin zu "gesamtgesellschaftlichen
Prozessen". Die seit Langem bekannte erhöhte Suizidalität bei Schizophrenie wesentlich
auf die antipsychotische Medikation zurückzuführen, wird dieser komplexen Erkrankung
nicht gerecht. Im Übrigen führen Baldessarini et al. (2003) aus, dass die Suizidrate
seit Einführung der neuroleptischen Therapie unverändert geblieben sei und sich nach
Einführung der Atypika reduziert hätte. Klinisch ist dies ohnehin evident.
Zuzustimmen ist der Feststellung, dass Hochdosierungen und inadäquate Kombinationsbehandlungen
zu vermeiden sind. Hinsichtlich Letzterem ist allerdings festzustellen, dass bei unzureichender
Evidenz dem Psychiater nicht selten keine Alternative zu einer rationalen Polypharmazie
bleibt (Messer u. Schmauß 2007). Hochdosierungen unter atypischen Antipsychotika sind
nicht etabliert, können jedoch im Einzelfall helfen. Die Medikation möglichst niedrig
zu dosieren, um die unerwünschten Arzneimittelwirkungen zu reduzieren, ist gängige
klinische Praxis. Die Dosis variiert jedoch individuell erheblich in Abhängigkeit
von der Symptomatik der Patienten. Die von Herrn Aderhold propagierte Niedrigdosierung
von konventionellen, typischen Neuroleptika kann aber auch hinsichtlich Nebenwirkungen
nicht überzeugen. Eine neuere Cochrane-Datenanalyse zeigte, dass auch unter niedrigdosiertem
Haloperidol mehr Nebenwirkungen (insbesondere EPMS) als unter Atypika auftreten (Rummel
et al. 2007). Letzterer Punkt geht in der Diskussion fast unter: Der Hauptvorteil
neuerer atypischer Antipsychotika besteht in der weitgehenden Reduktion sozial diskriminierender,
stigmatisierender extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen! Es überrascht nicht,
dass in Patientenbefragungen fast unisono aufgrund der besseren subjektiven Lebensqualität
atypische Antipsychotika präferiert werden (Naber et al. 2000).
Ein weiterer, genereller Faktor sollte berücksichtigt werden: eine psychische Erkrankung
wie die Schizophrenie stellt einen erheblichen Stressor an sich dar. Die Neurobiologie
psychischer Erkrankungen erkennt zunehmend die komplexen Zusammenhänge von psychosozialem
Stress, psychischer Erkrankung, biologischen Konsequenzen und Interaktionen des Metabolismus
(z.B. Glukosemetabolismus) sowie der Neurotransmission (McEwen 2008). Eine Reduktion
auf einen Faktor wie der Medikation wird der Komplexität menschlicher Verhaltensweisen
und Biologie nicht gerecht.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Mortalität schizophrener Patienten u.a. infolge
plötzlichem Herztod, metabolischem Syndrom, Diabetes und KHK erhöht ist. Dies monokausal
auf die antipsychotische Medikation zurückzuführen ist eine Scheinkorrelation, richtig
ist vielmehr, dass schizophrene Patienten eine Risikopopulation darstellen (Morbus
immanent, insbesondere Suizidrisiko; ungünstiges Gesundheitsverhalten, schlechtere
allgemeinärztliche Betreuung). Bestimmte Antipsychotika wie Thioridazin und Olanzapin
sind allerdings mit einem Risiko der genannten Störungen assoziiert. Konsequenz muss
neben psychoedukativen Maßnahmen, Verbesserung der allgemeinmedizinischen Betreuung,
Raucherentwöhnung vor allem eine differenzierte Pharmakotherapie sein. Eine pauschalierte
globale Risikozuschreibung ist inadäquat. Die meisten Autoren halten sich bezüglich
einer Wertung des Zusammenhanges zwischen Antipsychotikagabe und Mortalität zurück.
Die wissenschaftliche Datenlage ist teilweise widersprüchlich, lückenhaft und voller
methodischer Probleme. Aus dem Erkennen wichtiger Probleme und einem intensiven Literaturstudium
sollte nicht ein komplexer Sachverhalt unzulässig vereinfacht werden bis hin zur Infragestellung
des Einsatzes von Neuroleptika überhaupt. Die Empfehlung einer maximalen Zurückhaltung
bei der Anwendung von Neuroleptika ist unwissenschaftlich.