Pro
Eines der grundlegenden Theoreme der sogenannten „freien” Marktwirtschaft besagt,
dass die Nachfrage unabhängiger und aufgeklärter Verbraucher das Angebot und damit
die Preise der Waren auf dem freien Markt bestimmen. Dass dieser ökonomische Mechanismus
im Spätkapitalismus einer weitgehenden Angebotsorientierung gewichen und damit zur
Ideologie geworden ist, zeigen u. a. die aufgeblähten PR-Budgets vieler Konzerne,
die manchmal sogar höher sind als die eigentlichen Produktionsetats und massiv auf
die Weckung künstlicher Bedürfnisse sowie die Ausweitung und Dominanz von Absatzmärkten
abzielen – bis hin zum Kollaps dieser Märkte, wie die gegenwärtige Finanzkrise eindrucksvoll
belegt.
In dem im Vergleich zum allgemeinen Wirtschaftsleben ungleich stärker staatlich geregelten
Gesundheitssektor gilt die Nachfrageorientierung noch viel weniger. Müssten sich die
Angebote psychiatrischer Dienste tatsächlich nach der Nachfrage, d. h. den subjektiven
Bedürfnissen der Klientel richten, deren Versorgungsvorstellungen und -wünsche sich
stark vom fachlich bestimmten Bedarf unterscheiden, würde das viele Einrichtungen
der psychiatrischen Versorgung sehr schnell in die Insolvenz treiben. Ein weiterer
Effekt wäre vermutlich eine massive Steigerung der Zwangseinweisungsraten.
Aufgrund der charakteristischen Krankheitsmerkmale psychischer Störungen wie kognitive
Beeinträchtigungen, Negativsymptomatik, Selbst- und Fremdgefährdung, Wahnsymptome,
mangelnde Krankheitseinsicht, defizitäres Hilfesuchverhalten usw. wird die psychiatrische
Versorgung immer eine starke angebotsorientierte Komponente aufweisen müssen und damit
den Wirkmechanismen eines „freien” Marktes widersprechen. Es ist ein unumgänglicher
und nie endender Prozess, die Steuerungsmechanismen der Inanspruchnahme psychiatrischer
Hilfen immer wieder neu zu justieren. Neben Wirtschaftlichkeitsfragen werden mit dieser
Steuerung auch ethische Fragen nach den Grenzen von Fremdbestimmung in der Versorgung
psychisch Kranker aufgeworfen.
Wenn die Preise für psychiatrische Leistungen nicht durch Marktnachfrage frei bestimmt
werden können, unterliegen auch sie einer Fremdregelung. Diese Regelungsprozesse sind
jedoch nicht notwendig an eine Steuerung der Inanspruchnahme gebunden. Sie sind auch
nicht naturwüchsig, wenn man dies angesichts der Festgefügtheit von Finanzierungsverantwortungen
und Budgetgrenzen im deutschen Gesundheitswesen auch manchmal zu glauben geneigt ist.
Die Teilung der Finanzierungshoheiten in der Versorgung psychisch Kranker in Deutschland
zwischen Krankenkassen, kassenärztlicher Vereinigung, überörtlicher Sozialhilfe und
Rentenversicherung ist historisch gewachsen. Auch wenn sie aufgrund der langen Tradition
unverrückbar wirkt, bleibt diese Aufteilung nichtsdestotrotz künstlich und steht den
fachlichen Versorgungsanforderungen einer modernen Psychiatrie entgegen. Die getrennte
Finanzierungsverantwortung von stationärer, ambulanter und rehabilitativer Versorgung
wurde spätestens mit der Abschaffung der Anstaltspsychiatrie obsolet. Die Psychiatriereform
hat jedoch die historische Chance einer grundlegenden Modernisierung der starren und
fragmentierten Entgeltsysteme versäumt, obwohl Enthospitalisierung und Flexibilisierung
der Versorgungssettings ihr erklärtes Programm war. Somit werden durch die Finanzierungsformen
auch 30 Jahre nach der Psychiatriereform weiterhin grundsätzlich falsche Anreize gesetzt
und das „anerkannte Übel” [1] der psychiatrischen Versorgung hierzulande zementiert. Dieses besteht darin, dass
eine zeitgemäße Psychiatrie die personenbezogene Sicht- und Vorgehensweise in der
Behandlung der Betroffenen notwendig macht, sie aber gezwungen ist, dies in einem
nach wie vor einrichtungsbezogen strukturierten Versorgungs- und Finanzierungssystem
umzusetzen. Alle praktischen Probleme wie separierte Versorgungssektoren, gedoppelte
Versorgungsstrukturen, unterbrochene Behandlungsketten, mangelnde Fallsteuerung usw.
sind auf diesen grundsätzlichen Widerspruch zurückzuführen.
Alle größeren versorgungspolitischen Initiativen der letzten Jahre arbeiten sich an
diesem Problem ab. Dazu zählen die beispielhaft zähen Aktivitäten der Aktion Psychisch
Kranke, personenzentrierte Sicht-, Arbeits- und Finanzierungsweisen zu propagieren
[2], wie auch die in der Psychiatrie mehr diskutierten als tatsächlich umgesetzten integrierten
Versorgungsmodelle. Sie stellen die jüngsten Hoffnungsträger in einer Reihe von Versuchen
dar, die Finanzierungsweisen zu flexibilisieren.
Wie jedoch auch die Befunde aus dem Itzehoer integrierten Versorgungsmodell, als dem
bisher einzigen, das hierzulande wissenschaftlich begleitet und publiziert wurde [3], zeigen, müssen alle diese Initiativen sich notgedrungen mit sehr bescheidenen Erfolgen
zufriedengeben. Das liegt daran, dass sie keine Lösung bieten für die simple Tatsache,
dass jeder Einrichtungs- und Finanzierungsträger im fragmentierten System betriebswirtschaftlich
agieren muss und im Zweifelsfall die Minderbelastung des eigenen Etats über alle Systemüberlegungen
oder übergeordnete Sichtweisen stellt. Der heilige St. Florian („…verschon' mein Haus,
zünd' andere an”) ist und bleibt der Schutzheilige der Finanzierungsträger im deutschen
Gesundheitswesen.
Die weitgehende Erfolglosigkeit der bisherigen integrierten Versorgungsmodelle beruht
darauf, dass sie viel zu zaghaft, nämlich in der Regel nur die ambulant-ärztliche
sowie voll- und teilstationäre Versorgung, integrieren. Gesundheitsökonomische Analysen
zeigen aber, dass die Kostenvarianz vor allem bei chronischen psychischen Störungen
nur zu rund 50 % durch stationäre, teilstationäre und ambulante ärztlich-psychiatrische
Leistungen aufgeklärt wird. Programme, die sich nur auf diese Versorgungssektoren
beziehen, erreichen möglicherweise moderate Kostenverschiebungen innerhalb dieser
Sektoren, können aber keine Wirkung in den Versorgungsbereichen entfalten, die die
andere Hälfte der Kosten verursachen [4]
[5]. Inwieweit die bisherigen Modelle tatsächlich die ambulante Versorgung psychisch
Kranker „verbessern”, bleibt dahingestellt und zudem – aufgrund des Fehlens aussagekräftiger
Wirksamkeitsindikatoren – methodisch überaus schwierig nachzuweisen.
Somit ist die gegenwärtige Versorgungsrealität gekennzeichnet von vielen individuellen,
regionalen und oft unter großen Eigenbelastungen der Beteiligten ermöglichten Versuchen,
die Grenzen des starren Versorgungs- und Entgeltsystems so zu dehnen, damit über Einrichtungs-
und Sektorgrenzen hinweg halbwegs sinnvoll kooperiert werden kann. Damit werden die
Systemgrenzen jedoch nicht transzendiert. Die Höhe der durch die starren Finanzierungsformen
unausgeschöpft bleibenden Synergien ist unbekannt, kann aber als wesentlich vorausgesetzt
werden.
Was also tun? In einem wie beschrieben strukturierten System einfach nur mehr marktwirtschaftlichen
Wettbewerb der Anbieter als Lösung des Dilemmas zu propagieren, wäre nichts weiter
als zynischer Neoliberalismus. Auf den starken Mann oder die starke Frau zu warten,
der oder die die Finanzierungssysteme dergestalt reformiert, dass sie einer patientenzentrierten
Perspektive folgen, ist ebenfalls müßig. Bisher hat sich noch kein Gesundheitsminister
diese Aufgabe überhaupt je auf die Fahne geschrieben, weil damit seine Demission von
vornherein programmiert wäre. Also bleibt gegenwärtig nur, die Politik der kleinen
Schritte weiterzuführen. Diese muss die zarten Liberalisierungstendenzen der Entgeltsysteme
aufgreifen und konsequenter als bisher um- und durchsetzen. Dazu gehört unter anderem
Folgendes:
-
Monetäre Anreize wären so zu setzen, dass diejenigen Dienste, die zu einer bedarfsgerechten,
aber kostengünstigeren psychiatrischen Behandlung beitragen, auch in den Genuss der
erwirtschafteten Einsparungen kommen (die vor allem im stationärpsychiatrischen Sektor
anfallen, da Verringerung oder Vermeidung stationärer Aufenthalte der stärkste Hebel
zur Kostendämpfung ist). Dies erfordert die Implementierung von Dokumentationssystemen,
die diesbezügliche Wirkzusammenhänge ablesen lassen sowie eine wissenschaftliche Begleitforschung
von entsprechenden Modellprojekten, mit denen die generierten Nutzeffekte quantifiziert
werden.
-
Integrierte Versorgungsmodelle oder Managed-Care-Programme müssen auf Einrichtungen
und Dienste des rehabilitativen Sektors ausgeweitet werden, um die bisherigen halbherzigen
Ansätze der Flexibilisierung nur der stationärpsychiatrischen und ambulant-fachärztlichen
Behandlung auf alle relevanten Versorgungsbereiche zu erweitern.
Diese Maßnahmen sind mit einem nicht unerheblichen organisatorischen, methodischen
und politischen Aufwand verbunden. Sie erfordern zudem so etwas wie einen runden Tisch
aller relevanten Finanzierungsträger in der Region, die ein entsprechendes Modell
wagen will. Die Vorschläge bewegen sich jedoch im Rahmen dessen, was politisch gegenwärtig
möglich ist, ohne dass sie das etablierte Entgeltsystem grundlegend infrage stellen.
Sie sind gleichbedeutend mit mehr „Markt” (um die von dieser Debatte geforderte Terminologie
aufzugreifen) und wahrscheinlich tendenziell fairerem Wettbewerb der Anbieter. Vor
allem die Möglichkeit für Einrichtungsträger, mit guter Versorgung Gewinn zu erwirtschaften,
dürfte eine bisher unbekannte Kreativität und damit Synergie entfalten.
Da die Debatte um die Entgeltverfahren der stationärpsychiatrischen Versorgung zurzeit
wieder Fahrt aufnimmt und in einigen Teilen Deutschlands ein deutlicher Trend zur
Regionalisierung der Versorgung zu beobachten ist (z. B. durch die Kommunalisierung
der Eingliederungshilfen in Baden-Württemberg), ist das Klima für innovative Ansätze
der Versorgungsfinanzierung gegenwärtig eher günstig. Die Chance sollte nicht vertan
werden.
Kontra
Laut dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWIG ist
das deutsche Gesundheitssystem grundsätzlich eines der Besten der Welt. Es ist für
den Patienten selbstverständlich, dass wohnortnah, 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der
Woche und flächendeckend ein ungehinderter Zugang zu medizinischen Leistungen möglich
ist. Dabei ist es kaum relevant, ob der Patient in der Eifel oder im Thüringer Wald,
in München oder Rostock wohnt. Es macht keinen Unterschied, ob der Patient erwerbstätig,
arbeitslos oder berentet ist. Medizinische Leistungen wie z. B. Gelenkersatz werden
ohne Berücksichtigung des Alters eines Patienten im Kollektivvertragssystem gewährt.
Innovationen finden relativ schnell ihren Weg in die Regelversorgung, so z. B. derzeit
die genetischen Untersuchungen oder die MRT-Angiografie. Dabei kann der Patient zu
seinem Arzt des Vertrauens gehen, hat also die freie Arztwahl. Seine Beteiligung an
der Entscheidungsfindung für seine individuelle Therapie ist politisch erwünscht und
wird gefördert. Er kann jederzeit eine zweite Meinung eines anderen Arztes der gleichen
oder einer anderen Fachrichtung einholen.
Es ist in Deutschland undenkbar, dass nur gegen Vorkasse oder sogar gegen diskrete
Überreichung eines Geldbetrags im neutralen Umschlag behandelt wird, wie das in manchen
europäischen Staaten Alltag ist. Es ist für den deutschen Patienten unvorstellbar,
dass es Wartelisten für ambulante und stationäre medizinische Leistungen gibt, die
allein aus Kostengründen bestehen. Es kommt in der Alltagserfahrung deutscher Staatsbürger
nicht vor, dass der Arzt um die Ecke auf seinem Schild stehen hat: Nur AOK-Patienten.
Oder: Nur Teilnahme am 73 b-Vertrag der GEK, nur Versicherte mit Teilnahme am DMP
Diabetes der BKK Mobil OIL, der BKK Essanelle und der Techniker Krankenkasse in Nordrhein,
Bezirk Aachen. Oder dass er in ein Krankenhaus muss, das für seine Familie nur nach
einer Tagesreise erreichbar ist, da seine Krankenkasse zum Beispiel nur mit einer
bestimmten Klinikkette wie Helios, Rhön-Klinikum oder Asklepios einen Vertrag hat.
Die Frage ist aber: Wie steht es mit diesen, uns durchaus selbstverständlich gewordenen,
aber dennoch hochgeschätzten Werten wie der Flächendeckung, der „Rund-um-die-Uhr”-Versorgung
sowie der freien Arztwahl und dem Zugang zu Innovationen, wenn sich die Gesetze der
freien Marktwirtschaft und des politisch gewollten Wettbewerbs im Gesundheitswesen
durchsetzen? Wie steht es dann mit der Sicherheit und der Gerechtigkeit?
Und weiter: Was bedeutet das für uns Ärzte, wenn wir unsere Leistungen selbst betriebswirtschaftlich
kalkulieren und mit den einzelnen Kassen in Verhandlungen treten müssen? Wenn diese
Verträge mit den Kassen lediglich für einen bestimmten Zeitraum gelten und danach
neu verhandelt werden müssen?
„Wettbewerb folgt nicht den Kriterien einer flächendeckenden, qualitativ hochwertigen
Versorgung für alle mit freier Arztwahl und niedrigschwelligem Zugang zu den Leistungen.
Wettbewerb funktioniert auch im Gesundheitswesen nach den Kriterien des Marktes, nach
Angebot und Nachfrage und damit auch nach der Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit
der potenziellen Kunden. Renditen sind wichtiger als Werte wie Solidarität und Schutz
von Benachteiligten. Das führt zu Mehrklassenmedizin, zu Zugangshindernissen, zur
Benachteiligung bestimmter Patientengruppen …” (Dr. Andreas Köhler, Vorstandsvorsitzender
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, in seiner Rede vor der öffentlichen Vertreterversammlung
der KBV am 5.12.08 in Berlin).
Welche Patientengruppen werden das wohl sein, die hier von Dr. Köhler gemeint sind?
Machen wir uns nichts vor: Es werden die Patientengruppen sein, die am meisten von
struktureller Stigmatisierung betroffen sind, und das sind nun mal unsere Patienten
mit chronischen und schweren psychischen und z. T. auch neurologischen Erkrankungen.
Die Stigmatisierung nimmt zu, je mehr die Erkrankung nach außen sichtbar wird, je
mehr das Verhalten und die sozialen Beziehungen des Patienten durch die psychische
Erkrankung negativ beeinflusst werden. Dies führt bekanntlich auch zu wirtschaftlichen
Nachteilen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, da sie häufig gar nicht erst
in einen Beruf gekommen, frühberentet oder in Einrichtungen untergebracht sind, die
nach den Gesetzen des SGB XI über die Pflegeversicherung finanziert werden.
Seit Langem werden psychisch kranke Menschen schon als teure Patienten mit schlechten
Risiken z. B. bei der Aufnahme in die private Krankenversicherung, die Berufsunfähigkeits-,
Krankenhaustagegeld- oder Krankengeldversicherung systematisch ausgegrenzt. Der Gesetzgeber
hat nun für die gesetzliche Krankenversicherung ab 2009 in der Konstruktion des Gesundheitsfonds
mittels des morbiditätsbedingten Risikostrukturausgleiches („Morbi-RSA”) versucht,
einer wettbewerbsbedingten Bevorzugung junger gesunder Menschen entgegenzuwirken,
indem er Krankenkassen, die chronisch Kranke versichern, mit einem Geldzuschlag pro
Patient belohnt. Insgesamt 80 Krankheiten sind benannt, die einen solchen Zuschlag
auslösen. Unter diesen 80 Genannten befinden sich 24 Krankheiten, die das Gehirn betreffen,
davon wiederum sind 8 psychische Erkrankungen: Delir, Demenz, schwerwiegender Alkohol-
und Drogenmissbrauch, psychotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen, Depression,
bipolare affektive Störungen, Anorexia und Bulimia nervosa, Aufmerksamkeitsstörungen.
Aber wird das die ambulante psychiatrische Versorgung besser stellen? Einerseits ist
ein Anreiz für die gesetzlichen Krankenkassen geschaffen, möglichst viele Versicherte
mit einer dieser 80 Diagnosen zu „versehen”, da sich dadurch ein größeres Stück am
Gesamtversorgungs-„Kuchen” einheimsen lässt. Andererseits besteht ein großer Anreiz
für die Kasse, die Kosten für diese Morbi-RSA-Versichertengruppe zu drücken. Da der
Gesundheitsfond nachweislich durch den Krankenversicherungs-Einheitsbeitrag von 15,5 %
um mindestens 0,3 Prozentpunkte unterfinanziert ist (das bedeutet 3 Milliarden Euro)
und die Auswirkungen der Finanzkrise auf die steuerlichen Geldflüsse in den Fonds
noch unabsehbar sind, kann die Krankenkasse nur profitieren, wenn sie möglichst viele
Menschen mit Morbi-RSA-Diagnosen versichert hat aber möglichst wenig für diese ausgibt.
Dies wird umso fataler, je niedriger die jährliche Anpassung des Gesundheitsfonds
ausfällt. Die Ausgaben für Gesundheit sind in Zukunft noch direkter als bisher abhängig
von der wirtschaftlichen Lage des Staates. Außerdem werden die Zuschläge sinken müssen,
je mehr Versicherte an den betreffenden Diagnosen erkranken.
Für die ambulante psychiatrische Versorgung bedeutet dies, dass um die Ressourcen
künftig noch härter gekämpft werden muss. Während andere medizinische Fachgebiete,
wie z. B. die Innere Medizin, sich in der Blüte ihres wissenschaftlichen Erkenntniszuwachses
während der Zeiten der Vollbeschäftigung in der BRD in einer sehr guten finanziellen
Ausstattung des Gesundheitswesens entwickeln und Ressourcen für sich beanspruchen
konnten, fiel der Aufschwung der Psychiatrie und Psychotherapie bereits in eine Zeit
steter gesundheitspolitisch bedingter Ressourcenverknappung. Wir haben weiter einen
Anstieg der Morbidität bei psychischen Störungen zu erwarten – wegen der Zunahme degenerativer
Erkrankungen des Gehirns und wegen vermehrter Inanspruchnahme vor allem bei depressiven
Störungen.
Dennoch soll nicht außer Acht gelassen werden, dass die Ausgaben für die ambulante
Versorgung insgesamt Jahr für Jahr steigen. Aber trifft das auch für die ambulante
psychiatrische Behandlung zu? Hier sind Zweifel angebracht. Die sog. „Melchinger-Studie”
2008 im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zeigte, dass wie bereits vor
5 Jahren die meisten Ressourcen für psychische Erkrankungen im Bereich der Richtlinienpsychotherapie
ausgegeben werden. Im Klartext: Für rund 75 % der psychisch kranken Menschen in der
ambulanten psychiatrischen Regelversorgung wird nur ein Viertel der Gesamtausgaben
für psychische Störungen aufgewandt. Umgekehrt fließen 75 % der Gesamtausgaben für
alle psychischen Störungen in Deutschland in die Vergütung der Richtlinienpsychotherapie,
die rund 25 % der Patienten zugutekommt. Das heißt: Die Versorgung mit Richtlinienpsychotherapie
ist sicherlich verbessert worden. Diese kommt aber den schwer chronisch Erkrankten
nicht zugute, sondern eher den Patienten, die durch diese Verfahren gut erreichbar
sind, sie für sich nutzen können und hierdurch allein ein Verbesserungspotenzial haben.
Die Versorgung schwerer psychisch Kranker, die einer lebenslangen, krankheitsstadienspezifischen
und komplexen Behandlung bedürfen, hat sich jedoch weiter verschlechtert.
Das IGES-Gutachten zur ambulanten neuropsychiatrischen Versorgung vom Oktober 2007
zeigt, dass pro Jahr in der gesetzlichen Krankenversicherung außerhalb der Richtlinienpsychotherapie
für einen psychisch kranken Menschen immer weniger Geld aufgewandt wird. Nervenärzte
und Psychiater sind die Fachgruppe, die trotz Einführung der Praxisgebühr im Gegensatz
zu allen anderen Fachgruppen steigende Fallzahlen zu verzeichnen haben.
FAZIT: Es ist zu befürchten, dass marktwirtschaftlicher Wettbewerb die ambulante psychiatrische
Versorgung eher noch weiter verschlechtern wird.