Pro
Für den Zweck dieser Diskussion ist hier die intellektuell radikale These zu vertreten,
dass psychische Störungen ohne vorherige Festlegungen einzuteilen sind. Theoretische
Grundannahmen sollten zuvor nicht getroffen werden.
Was kann man an der „Theorie” in der Psychiatrie aussetzen? Die Konnotation des „Theorie”-Begriffs
legt eher akademische Auseinandersetzungen und philologische Erstarrung nahe, als
ein neugieriges Schauen und dynamisches Entwickeln im eigentlichen Wortsinn. Diese
Theorie scheint der Praxis geradezu entgegen gesetzt. Bei den rein menschengemachten
Disziplinen wie Philologie und Juristerei mag man sich mit Theorien begnügen. Die
„richtigen” Wissenschaften bohren sich in ein tieferes Verständnis der Natur und des
Menschen hinein und lassen ihre Theorien ständig hinter sich. Jeder Arzt lernt mithilfe
seiner Patienten ständig dazu und verändert seine Sichtweise, seine Theorie. Temporäre
diagnostische Konstrukte, die eine tiefere Bedeutung bis hin zur Ätiologie suggerieren,
nutzen allenfalls zur Tablettenwahl und zur Leistungsabrechnung [1].
Also dienen die Theorien recht profanen Zwecken, die ihren Schöpfern erheblich gegen
den Strich gingen. Kraepelin, dem Agnaten der wissenschaftlichen Psychiatrie des 20.
Jahrhunderts, ging es tatsächlich um besondere Werte. Sein Minderwertigkeitsempfinden
gegenüber den anderen Fächern der Medizin, die bereits naturwissenschaftlich, also
damals durch die Pathologie unterfüttert waren und die klare mechanistische Vorstellungen
über Entstehung und Behandlung ihrer Krankheiten verkündeten, führte zu einer recht
entschlossenen theoretischen Aufrüstung, nachzulesen in den vielen Auflagen seines
Lehrbuchs. Instinktsicher setzte er auch auf die richtigen Forschungsgebiete, allerdings
hinkten die empirischen Arbeiten dem theoretischen Entwurf hinterher.
Als Reaktion auf die romantische Antipsychiatrie der 60er- und 70er-Jahre fasste Klerman
[2] das Programm des Kraepelinismus nochmals neu zusammen: Psychiatrie sei demnach ein
medizinisches Fach; sie benutze moderne wissenschaftliche Methoden; zwischen gesund
und psychisch krank gebe es eine klare Grenze; auch zwischen den einzelnen psychischen
Krankheiten gebe es klare Grenzen; … Diagnostik und Klassifikation seien ein erklärtes
Ziel psychiatrischer Forschung; sie sollten akademisch gelehrt und nicht ständig in
Zweifel gezogen werden. Eine der Klassifikation dienende Theorie war also essenzieller
Stützpfeiler einer wissenschaftlichen Psychiatrie nach Kraepelin.
Nun ist aber die Antipsychiatrie mausetot. Selten waren Medizinstudenten so positiv
eingestellt, neugierig und gleichzeitig so pragmatisch wie heute. Dieser moderne Pragmatismus
wäre auch den Fachvertretern zu empfehlen. Zu einer anwendungsbezogenen Auseinandersetzung
mit dem Fach Psychiatrie gehört zugegebenermaßen auch das zügige Durchdeklinieren
von Diagnosekriterien als Mittel zum Zweck. Die junge Generation der Kollegen blickt
aber durch, sie durchschaut die Theorien bis auf ihren aktuellen natur- und sozialwissenschaftlichen
Grund.
Geschichte und Gegenwart der Psychiatrie belegen vielfach, dass es unzeitgemäß und
ganz ungeschickt wäre, theoretische Ansichten noch in Marmor zu meisseln. Im Folgenden
sollen einige warnende Beispiele die Vergänglichkeit, Unvollständigkeit, Sinnleere
oder Beeinflussbarkeit psychiatrischer Theoriebildung illustrieren.
Zu den historischen Exempeln zählt das Arbeitsprogramm, dass sich Karl Philipp Moritz
im 18. Jahrhundert gab: In der ersten psychologisch-nervenärztlichen Zeitschrift „Gnothi Sauton” wollte er erst ein paar Jahre lang Material sammeln (Fallgeschichten, Selbstbeschreibungen,
theoretische Vorüberlegungen etc.), um dann eine schlüssige Theorie des Geistes und
seiner Störungen zu formulieren. Das liegt über 200 Jahre zurück, und Moritz hat es
nicht geschafft [3].
Die sinnleere Verselbstständigung biomathematischer Methoden ist ein Beispiel, das
weniger weit zurückliegt. Mit dem Einzug von Computern und Statistikpaketen erblühten
Ende des 20. Jahrhunderts in Cluster und Faktoren aufgefaltete Syndrome, die dem unbewaffneten
Auge des Klinikers sonst verborgen geblieben wären und vielfach frei von klinischer
Bedeutung blieben [4]. Viele von uns psychiatrischen Forschern sind ihrem Reiz dennoch zeitweise erlegen.
Mit dem aktuellen Paradigmenwechsel hin zur Welt der Molekulargenetik, etwa mit der
Definition von „Endophänotypen”, werden frühere Theoriebildungen von Grund auf infrage
gestellt. Beim Versuch, die langen und verschlungenen Wege von den Genen über die
Genprodukte und deren potenzielle Interaktionen unter Umwelteinflüssen bis hin zum
Verhalten und Erleben der „Träger” nachzuzeichnen, lösen sich die konventionellen
Krankheitsbegriffe auf [5].
Dass psychiatrische Theorien nicht nur wissenschaftlich erarbeitet und begründet sind,
sondern auch erheblich von gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen beeinflusst
werden, soll nicht verschwiegen werden. Theorien implizieren zum Beispiel Therapieoptionen
und damit Umsatzchancen. Hier zu das Beispiel der affektiven Störungen: Das Kommen
und Gehen von Krankheitskonzepten wurde und wird nicht nur von Philosophie und Zeitgeist
(„Melancholie”), neuen Beobachtungen (z. B. von Falret und Baillarger ab 1830 zu den
zyklisch verlaufenden affektiven Erkrankungen), klaren theoretischen Setzungen wie
Kraepelins Dichotomie [6], sondern auch durch die Industrie und ihre Produkte beeinflusst (bipolar boom).
Das warnende Beispiel der klassischen Psychoanalyse, bei der kühne Theorie den Mangel
an Substanz dauerhaft überschattet, lasse ich an dieser Stelle ganz unerwähnt.
Kontra
Meine Argumentation gliedert sich in drei Abschnitte: In Anbetracht der unübersichtlichen
Geschichte psychiatrischer Konzepte, vor allem solcher zur Ätiologie und zur Klassifikation,
ist es nur zu verständlich, dass immer wieder die Forderung nach „weniger Theorie”
erhoben wurde (I). Nicht nachvollziehbar ist hingegen, wenn operationalisierte Diagnosemanuale
(ICD-10, DSM-IV) als Beispiele einer realisierten „Theoriefreiheit” in der psychiatrischen
Diagnostik gelobt werden (II). Der Psychopathologie in erweiterter Form könnte bei
der zukünftigen Entwicklung dieses Feldes eine wichtige Rolle zukommen (III).
(I) Eine verständliche Forderung
In den vergangenen 200 Jahren entstand eine unübersichtlich große und heterogene Gruppe
von psychiatrischen Krankheitsmodellen, die alle – wenn auch in unterschiedlicher
Schärfe – beanspruchten, den richtigen Weg für Diagnostik, Therapie und Forschung
zu weisen. Um so verständlicher ist es, dass ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts
die Notwendigkeit großer und internationaler empirischer Studien zur Evaluation neuer
diagnostischer (z. B. Bildgebung) und therapeutischer Verfahren (z. B. Psychopharmaka)
zu der Forderung führte, eine reliable und für verschiedene Schulen akzeptable psychiatrische
Terminologie zu schaffen. Anders ausgedrückt: Eine zunehmend evidenzbasierte Psychiatrie
erzwang eine vermehrte nationale und internationale wissenschaftliche Kommunikation,
wobei die einzelnen Begriffe möglichst nah am Beobachtbaren und fern von ätiologischen
Hypothesen, eben theoriearm, sein sollten.
(II) Operationale Diagnostik als Beispiel für „Theoriearmut”?
Speziell die Begriffe der psychiatrischen Diagnostik sollten unabhängig vom sprachlichen
und kulturellen Hintergrund des Untersuchers möglichst eindeutig definiert und operationalisiert
sein. Im Kontext der mit diesem Ziel entwickelten Diagnosemanuale ICD-10 und DSM-IV
brachte es nun der Terminus „Theoriefreiheit” zu großer Verbreitung, obwohl er von
Beginn an unglücklich gewählt war: Es konnte in Wirklichkeit nie von der Absenz jeglicher
Theorie die Rede sein. Gemeint waren vielmehr die folgenden, vor allem aus Sicht der
empirischen Forschung bedeutsamen Ziele:
-
Fokussierung auf beobachtbare, beschreibbare, quantifizierbare psychopathologische
Phänomene („deskriptiver Ansatz”)
-
Erkennen und Vermeiden impliziter theoretischer Vorannahmen zur Ätiologie und Pathogenese
(irreführend als „Theoriefreiheit” bezeichnet)
-
Akzeptanz bei verschiedenen ätiologischen Schulen („größter gemeinsamer Nenner”)
Doch zeigt sich auch hier die Janusköpfigkeit vermeintlich einfacher und klarer wissenschaftlicher
Regeln in einem so hochkomplexen Umfeld wie der psychiatrischen Diagnostik: Wendet
man nämlich diese Regeln, i. e. operationale Algorithmen, unkritisch an, so erreicht
man im schlimmsten Fall das genaue Gegenteil dessen, was intendiert war: Die Konzentration
auf das Beobachtbare wird dann jedes nicht in den Kriterienlisten erfasste oder erfassbare
psychopathologische Phänomen unterschätzen, verkennen oder ignorieren. Auf jeden Fall
wird es für unwissenschaftlich erklärt. So aber führt die durchaus berechtigte Sorge vor „zu viel Theorie” erst
recht zu dogmatischer Verkürzung, hier auf dem theoretischen (!) Hintergrund von Positivismus und logischem Empirismus. Anders formuliert: Aus
der Bevorzugung der für Objektivierung und Quantifizierung attraktiven 3.-Person-Perspektive
(„Er hört Stimmen”) kann unbesehen eine Missachtung der am subjektiven Erleben orientierten
1.-Person-Perspektive („Ich höre Stimmen”) sowie der 2.-Person-Perspektive werden,
die den intersubjektiven Charakter des diagnostischen Prozesses betont („Er / Sie
schildert mir, dass er / sie Stimmen hört”). Auch der Umstand, dass jede medizinische
Diagnose, auch die psychiatrische, nicht nur eine faktenbezogene, sondern auch eine Wertdimension hat, wird von der operationalisierten Diagnostik unterschätzt [7].
Ergo: Die operationale Diagnostik hat zweifellos zu einem transparenteren, reliableren und – in einem bestimmten Sinn, nämlich ätiologisch – auch theorieärmeren Vorgehen geführt. Dies ist ein bemerkenswerter Fortschritt. Aber auch dieser Ansatz
hat seine Grenzen, und ganz bestimmt ist er nicht theoriefrei.
(III) Über die zukünftige Rolle der Psychopathologie
Die Psychopathologie ist – nicht erst seit gestern – markant in die Defensive geraten
[8]. Vor allem ihr Anspruch, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie zu sein [9], wird nachhaltig bestritten, ja mitunter wird gar ihre Abschaffung bzw. Ersetzung
durch neurowissenschaftlich fundierte Konzepte prognostiziert. Doch wird gerade in
unserem jetzigen Kontext eine mögliche zukünftige Ausrichtung und Aufwertung der Psychopathologie
erkennbar, könnte sie doch eine kritische und gleichwohl konstruktive Grundhaltung
gegenüber scheinbar einfachen Gesamterklärungen, die in Wirklichkeit Vorurteile sind,
in die diagnostische Praxis und den wissenschaftlichen Diskurs tragen [10].
Also: Nicht Theorie als solche ist von Übel, sondern theoretische Vorurteile. Karl
Jaspers' diesbezügliches Monitum ist aktueller denn je und gilt für alle psychiatrischen
Konzepte in gleicher Weise [11]:
„Wo ein theoretisches Vorurteil herrscht, wird die Auffassung der Tatbestände befangen.
Man sieht die Befunde immer schon im Schema der Theorie. Was für sie gilt und sie
bestätigt, das interessiert. Was keinen Bezug auf sie hat, das wird überhaupt nicht
wahrgenommen. … Es ist daher ständig unsere Aufgabe, von theoretischen Vorurteilen,
die jederzeit in uns wirksam sind, absehen zu lernen, uns zu üben, rein die Befunde
aufzufassen.” ([12], S. 15)
Aktuell beobachten wir ein wachsendes Spannungsfeld zwischen einer betont deskriptiv-„theoriearmen”
Diagnostik einerseits (z. B. ICD-10) und „theoriereichen” Krankheitsmodellen andererseits,
die weitgehend unabhängig von der psychopathologischen Ebene entstanden sind, etwa
neurowissenschaftliche Konzepte der Schizophrenie als Hirnentwicklungsstörung [13] oder als Folge gestörter basaler Informationsverarbeitung [14]. Ein erweitertes Verständnis von Psychopathologie könnte hier als verbindende Klammer
dienen, was freilich ein sehr hoher Anspruch ist, den es erst einmal einzulösen gilt.
Denn nicht nur um die operationale Deskription und Verknüpfung von Einzelphänomenen
ginge es dann, sondern auch um eine „offene” Deskription, die subjektive und hermeneutisch-biographische
Momente – also die 1.- und 2.-Person-Perspektive – aktiv einbezieht. Dies wiederum
setzt die Verankerung in der psychiatrischen Ideengeschichte ebenso voraus wie die
Bereitschaft, vorschnellen Antworten auf grundlegende Fragen unseres Faches (Leib-Seele-,
Subjekt-Objekt-Frage, Personalität und Verantwortung) eine Absage zu erteilen.
Wir sollten auf dem Boden einer aufgewerteten Psychopathologie die unfruchtbare Polarisierung
„theoriereich” vs. „theoriearm” / „theoriefrei” hinter uns lassen. Nur dann nämlich
könnte das für die künftige Identität der Psychiatrie schädliche „postmoderne” Nebeneinander
deskriptiv-operationaler, neurobiologischer, subjektiv-qualitativer und sozialwissenschaftlicher
Befunde durch eine sinnvolle Integration aller relevanten Perspektiven abgelöst werden.
In diese Richtung denken erfreulicherweise auch die mit der Planung von ICD-11 und
DSM-V beschäftigten Expertengremien. Jüngst erschienene Bücher zur Psychopathologie
und vor allem zu deren phänomenologischer Perspektive belegen überzeugend, dass „Theorie”
für die empirische Forschung eben nicht hinderlich ist, sondern sie kritisch begleitet und anregt [15]
[16]
[17]. Prägnanter: Was wir brauchen in der Psychiatrie, ist keine „Theoriephobie”, sondern
reflektierte und damit undogmatische Theorie.