Fortschr Neurol Psychiatr 2009; 77(8): 464-478
DOI: 10.1055/s-0028-1109325
Fort- und Weiterbildung

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Klassifikation der Psychosen

Geschichte, Gegenwart und ZukunftClassification of PsychosesHistory, Present and FutureE. J. Franzek1 , M. Musalek1
  • 1Bouman Mental Health Care, Rotterdam/Niederlande
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Publication Date:
04 May 2009 (online)

Lernziele

Wie schon zu Beginn der Psychiatrie als medizinisch-wissenschaftliches Fach kontrastieren in der Einteilung der Psychosen mit Erstrangsymptomen nach Kurt Schneider auch heute noch die Paradigmen von Krankheitseinheit und -vielfalt. Die Analyse der historischen Entwicklung von der Begriffsbildung Schizophrenie bis hin zu den gegenwärtig gebräuchlichen Klassifikationssystemen zeigt deutlich, dass ein Festhalten an „etablierten” Begriffen für Forschung und tägliche Praxis nicht förderlich ist. Die moderne Psychosenforschung basiert auf morphologischer und funktioneller Hirnforschung, Genetik und differenzierter Therapieforschung und erwartet von den Klinikern eine Herausarbeitung von homogenen klinischen Syndromen, sowohl in den akuten als auch in den chronischen Zuständen. Das wichtigste Lernziel dieses Artikels ist es, zu erkennen, dass die klinischen Realitäten wichtig sind und theoretische Modelle und Paradigmen in den Hintergrund treten müssen, sobald ihr heuristischer Wert verloren ist. Die Psychosenforschung ist gleichsam die schwierige Neurologie der höchsten Gehirnfunktionen des Menschen. Der Leser soll erfahren, dass klinische Erkenntnisse und Fortschritte in der Grundlagenforschung oft so weit auseinander liegen, dass selbst bahnbrechende Erkenntnisse in Vergessenheit geraten können und so der modernen Wissenschaft nicht mehr zugänglich sind. Dem Leser soll deutlich werden, dass dogmatisches Denken und Handeln nicht nur hinderlich, sondern eine Gefahr für den wissenschaftlichen Fortschritt sind. Dabei sind negative Forschungsresultate genauso wichtig wie positive, weil sie zeigen, welcher Weg nicht mehr weitergegangen werden muss. Möglicherweise steht zwischen den (bipolaren) affektiven und den schizophrenen Psychosenspektren ein Spektrum von durch Stress und andere endogene und exogene Noxen induzierte Psychosen, die trotz ähnlicher Symptome völlig verschiedene Ursachen haben. Der Leser soll auch erkennen, dass die hochspezialisierten Wissenschaften ohne den Kliniker und ohne dessen präzise Beschreibung der psychotischen Phänomene unvollkommen, ja oft ziellos, bleiben. Die phänomenale Psychopathologie ist noch immer die Basis der praktischen und wissenschaftlichen Psychiatrie und hat ihren Stellenwert auch im 21. Jahrhundert noch nicht verloren.

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Ernst Josef Franzek

Bouman Mental Health Care

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