Dtsch Med Wochenschr 2009; 134(6): 266
DOI: 10.1055/s-0028-1123992
Korrespondenz | Correspondence
Frage aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interpretation des oralen Glukosetoleranztests

M. Hanefeld, C. Köhler
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Publication Date:
29 January 2009 (online)

Frage: Aus einer nicht mehr definierbaren Tradition heraus wird in unserer Gemeinschaftspraxis beim oralen Glukosetoleranztest seit eh und je neben dem Nüchternwert sowohl der 1-Stunden- als auch der 2-Stunden-Wert gemessen.

In der Literatur finde ich meist nur den 2-Stunden-Messwert als relevante Messgröße.

Im konkreten Fall wurde im Rahmen einer Gesundheitsuntersuchung bei einem 46-jährigen Patienten mit einem BMI von 42 (116,3 kg bei 166,7 cm) ein Nüchternwert von 126 mg/dl gemessen, beim oralen Glukosetoleranztest dann nüchtern 113, nach 1 Stunde 263, nach 2 Stunden 110 mg/dl; der letzte Wert bedeutet also physiologische Verhältnisse.

In einem anderen Fall, auch im Rahmen einer Gesundheitsuntersuchung (hier ein BMI von 31 bei 105,7 kg bei 183,5 cm), fiel ein Nüchternwert von 167 mg/dl auf, beim Oralen Glukose-Toleranz-Test dann nüchtern 136, nach 1 Stunde 310, nach 2 Stunden 191 mg/dl; der letzte Wert bedeutet also eine reduzierte Glukosetoleranz.

Orientiert sich der orale Glukosetoleranztest im Fall 1 nur an dem 2-Stunden-Wert, unabhängig davon wie hoch der 1-Stunden-Wert ausgefallen sein mag? Oder ist bei den hohen bis sehr hohen 1-Stunden-Werten im Fall 2 doch von einem manifesten Diabetes auszugehen?

Antwort:Der orale Glukosetoleranztest (OGGT) ist eine gut etablierte und durch die WHO standardisierte Methode [1] zur Diagnostik einer gestörten Glukosetoleranz (IGT) oder eines (in der Regel) asymptomatischen Diabetes bei Nüchternblutzuckerwerten, die unterhalb des Grenzwertes für Diabetes liegen. Blutglukosebestimmungen morgens nüchtern oder bei Gelegenheit reichen für die Diagnose „Diabetes mellitus” aus, wenn sie eindeutig und bei Wiederholung pathologisch sind (nüchtern ≥ 126 mg/dl, postprandial ≥ 200 mg/dl). Im Zweifelsfall, d. h., wenn die Nüchternwerte zwischen 95 und < 126 mg/dl (5,3 ≤ 7,0 mmol/l) liegen, sollte zur diagnostischen Klärung ein 75 g OGTT durchgeführt werden, da er eine hohe Sensitivität aufweist. Ein OGTT ist auch indiziert bei dokumentierter koronarer Herzkrankheit [5] ohne bekannten Diabetes, zerebrovaskulären und peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen und bei Erkrankungen des metabolischen Syndroms, da in diesen Fällen zum einen eine hohe Dunkelziffer von unerkannten Typ-2-Diabetikern vorliegt, die nur durch den Nachweis von Zweistunden-Plasmaglukosewerten ≥ 200 mg/dl (≥ 11,1 mmol/l) diagnostiziert werden können. Gleiches gilt für die Diagnose einer gestörten Glukosetoleranz (impaired glucose tolerance = IGT) bei Zweistunden-Plasmaglukosewerten ≥ 140 mg/dl (7,6 mmol/l) < 200 mg/dl (11,1 mmol/l). In der RIAD-Studie (Patienten mit Metabolischem Syndrom) betrug der Anteil von Probanden mit IGT 26,2 % und neudiagnostiziertem Diabetes anhand des diagnostischen Zweistunden-Plasmaglukosewertes 25,1 % [3] . Noch höher war der Anteil von durch den 75 g OGTT diagnostizieren Fällen mit abnormer Glukosetoleranz in der schwedischen GAMI-Studie bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom [4]. IGT und neudiagnostizierter Diabetes erwiesen sich in dieser und zahlreichen anderen Studien als schwerwiegende Risikofaktoren für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität [2] . Deshalb empfehlen die gemeinsamen Leitlinien von ESC und EASD einen OGTT bei koronarer Herzkrankheit ohne bekannten Diabetes.

Anders als der Zweistundenwert gibt es keine Referenzwerte für den Einstundenwert im OGTT. Der Einstundenwert ist schlechter reproduzierbar, da er unter anderem auch stark von der Resorptionsgeschwindigkeit und Magen-Darmmotilität abhängt. Auch fehlen prospektive Studien für die klinische Relevanz und das kardiovaskuläre Risiko. In den hier angeführten Fällen würde im ersten Falle eine „impaired fasting glucose” (IFG) vorliegen. Diese Kategorie des Prädiabetes ist besonders häufig bei adipösen, jüngeren Männern aufgrund der hier ausgeprägten Insulinresistenz. Eine weitere Aussage zur Diabetesgefährdung wäre anhand einer Proinsulin/Insulinbestimmung möglich. Im zweiten Fall kann bereits aufgrund des Nüchternblutzuckers von 167 mg/dl ein Diabetes angenommen werden. Für die definitive Diagnose eines Diabetes wäre die Wiederholung der Nüchternblutzuckerbestimmung bei einem Wert über 126 mg/dl ausreichend.

Literatur

  • 1 Alberti K GMM, Zimmet P Z. for the WHO Consultation . Definition, diagnosis and classification of diabetes mellitus and its complications. Part 1: Diagnosis and classification of diabetes mellitus. Provisional Report of WHO Consultation.  Diabetic Medicine. 1998;  15 539-553
  • 2 Glucose tolerance and mortality: comparison of WHO and American Diabetes Association diagnostic criteria. The DECODE study group. European Diabetes Epidemiology Group. Diabetes Epidemiology: Collaborative analysis of diagnostic criteria in Europe.  Lancet. 1999;  354 (9179) 617-621
  • 3 Köhler C, Temelkova-Kurktschiev T, Schaper F, Fücker K, Hanefeld M. Prävalenz von neuentdecktem Typ 2 Diabetes, gestörter Glukosetoleranz und gestörter Nüchternglukose in einer Risikopopulation. Daten der RIAD-Studie nach Anwendung neuer Diagnosekriterien für Diabetes.  Dtsch med Wschr. 1999;  124 1057-1061
  • 4 Norhammar A, Tenerz A, Nilsson G, Hamsten A, Efendic S, Rydén L, Malmberg K. Glucose metabolism in patients with acute myocardial infarction and no previous diagnosis of diabetes mellitus: a prospective study.  Lancet. 2002;  359 2140-2144
  • 5 Rydén L, Standl E, Bartnik M. et al . Task Force on Diabetes and Cardiovascular Diseases of the European Society of Cardiology (ESC); European Association for the Study of Diabetes (EASD). Guidelines on diabetes, pre-diabetes and cardiovascular diseases: executive summary. The Task Force on Diabetes and Cardiovascular Diseases of the European Society of Cardiology (ESC) and of the European Association for the Study of Diabetes (EASD).  Eur Heart J. 2007;  28 1401-1402

Prof. Dr. Markolf Hanefeld
Dr. Carsta Köhler

GWT-TUD GmbH, Zentrum für Klinische Studien, Forschungsbereich Stoffwechsel und Endokrinologie

Fiedlerstr. 43

01307 Dresden

Email: hanefeld@gwtonline-zks.de

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