Dtsch Med Wochenschr 2009; 134(43): p39
DOI: 10.1055/s-0028-1124092
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Genetik
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Der Medizin-Nobelpreis 2009: Kappe mit Schrumpfschutz

Johannes Weiß
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Publication Date:
13 October 2009 (online)

 
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    Der diesjährige Medizin-Nobelpreis geht an drei Wissenschaftler aus den USA. Nach den Auszeichnungen in der Virologie vom vergangenen Jahr werden nun wieder einmal molekular-genetische Arbeiten honoriert. Und zum ersten Mal in der Geschichte des Preises bekommen ihn zwei Frauen gleichzeitig.

    Elizabeth H. Blackburn, Carol W. Greider und Jack W. Szostak erhalten den Medizin-Nobelpreis jeweils zu einem Drittel für ihre Entdeckung „wie Chromosomen durch Telomere und das Enzym Telomerase geschützt werden“, wie es in der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt. Der Nobelpreis ist nicht die erste herausragende Auszeichnung für diese bahnbrechenden Arbeiten: Erst im März dieses Jahres hatten Blackburn und Greider in der Frankfurter Paulskirche den Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis entgegen genommen, 2006 hatten alle drei Forscher den Albert-Lasker-Preis erhalten. Mit ihren Ergebnissen haben die drei Wissenschaftler ein großes molekulargenetisches Problem gelöst. Die lange Zeit ungeklärte Frage lautete, wie die Chromosomen während des Zellteilungszyklus komplett kopiert werden können und sich vor einer Verkürzung schützen. Die Antwort lag in den Enden der Chromosomen, den Telomeren, die auf diesen wie eine Art Kappe sitzen, und dem Enzym Telomerase, das die Länge der Telomere aufrechterhält.

    Bereits in den 1930er Jahren hatten gleichzeitig aber unabhängig voneinander Barbara McClintock (Nobelpreis 1983) und Herman J. Muller (Nobelpreis 1946) bei genetischen Arbeiten an Mais-Chromosomen bzw. Chromosomen von Drosophila diese Endstrukturen entdeckt, ohne aber deren genauen Nutzen herauszufinden. Sie nahmen an, dass die Telomere eine Art Schutzfunktion ausüben, doch wie genau dies geschah, war ihnen ein Rätsel. Um sich die Frage, die Blackburn, Greider und Szostak beantwortet haben, überhaupt stellen zu können, ist ein kleiner Exkurs in die Molekulargenetik notwendig.

    Bei der Replikation von DNA ergibt sich wegen der antiparallelen Anordnung der beiden Einzelstränge ein Problem: Das Enzym DNA-Polymerase kann lediglich von der 5'- in die 3'-Richtung synthetisieren. Also wächst nur einer der beiden Stränge, der so genannte führende Strang (leading strand), kontinuierlich in die Richtung, in die sich die Replikationsgabel bewegt: Vom 5'- zum 3'-Ende. Der andere Strang, auch Folgestrang (lagging strand) genannt, wird stückchenweise synthetisiert. Dies geschieht in kurzen Abschnitten, die auch als Okazaki-Fragmente bezeichnet werden, benannt nach Reiji Okazaki, der 1968 diesen Prozess entdeckt hat. Bei dieser diskontinuierlichen Synthese muss immer wieder ein neuer Primer angefügt werden, der dann wiederum verlängert wird. Anschließend werden die einzelnen Fragmente mithilfe einer Ligase durch Phoshpodiesterbindungen zu einem fortlaufenden Strang miteinander verknüpft. Etwa 8-12 Basenpaare vor dem jeweiligen Ende des Strangs kann die DNA-Polymerase die Synthese jedoch nicht fortsetzen, da hinter diesem Punkt der benötigte Primer nicht mehr ansetzen kann. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass der DNA-Strang an jedem der beiden 3'-Enden für ein kleines Stück von etwa 8-12 Nukleotiden einzelsträngig bleibt. Diese Einzelstränge würden anschließend abgebaut werden, sodass die Chromosomen mit jedem Replikationszyklus ein kleines Stückchen kürzer werden würden. Die Konsequenz wäre nach einigen Zyklen ein Verlust kodierender DNA.

    Dafür, dass dies nicht geschieht, sorgen die Telomere und das Enzym Telomerase. Die Telomere der meisten Eukaryonten bestehen aus langen Folgen von tandemartigen Sequenzwiederholungen, die jeweils charakteristisch für eine Spezies sind. So ist der Telomerbereich beim Menschen beispielsweise aus mehr als tausend Sequenzen der Folge 5'-GGGATT-3' aufgebaut, die sich auf etwa 15 kb an den Enden der Chromosomen addieren. Erreicht die Replikation die repetitiven Sequenzen des Telomers, hat die Telomerase ihren Auftritt. Dieses Enzym besteht aus einem Proteinbestandteil und einem kurzen Abschnitt RNA von etwa 250 Nukleotiden. Der Proteinanteil gliedert sich in mehrere Untereinheiten, von denen die sogenannte Telomerase-Reverse-Transkriptase (TERT) die wichtigste ist. Die Transkriptase nutzt den RNA-Anteil des Enzyms als eine Art mobile Zeichenvorlage. Diese heftet sich mit einer komplementären Sequenz an den übrig geblieben DNA-Einzelstrang des 3'- Endes, verlängert diesen und bewirkt so über mehrere Schritte letztlich mithilfe der DNA-Polymerase, dass der ursprünglich unvollständig replizierte Folgestrang auf seine eigentliche Länge synthetisiert werden kann. Nur wenige Zelltypen besitzen jedoch eine aktive Telomerase, sodass sich in den meisten Zellen die Telomere allmählich verkürzen, was die Zelle altern und schließlich absterben lässt. Im erwachsenen menschlichen Organismus findet sich eine aktive Telomerase normalerweise nur in Keimzellen, Knochenmarkstammzellen und schnell proliferierenden Lymphozyten. Eine hohe Telomeraseaktivität haben aber auch rund 85 % der menschlichen Tumorzellen, was ihre unbegrenzte Teilungsfähigkeit erklären könnte.

    Bis zu diesen Erkenntnissen war es allerdings ein weiter Weg. Zu Beginn ihrer Wissenschaftskarriere arbeitete Elizabeth Blackburn an DNA-Sequenzierungen. Bei ihren Forschungsarbeiten zu Chromosomen des einzelligen Ziliaten Tetrahymena entdeckte sie DNA-Sequenzen, die sich viele Male am Ende der Chromosomen wiederholten. Die Funktion dieser Sequenz, die sie als CCCCAA identifizierte, war ihr zunächst völlig unklar. Zur gleichen Zeit hatte Jack Szostak in seinen molekulargenetischen Versuchen beobachtet, dass lineare DNA Moleküle, eine Art Minichromosomen, die er in Hefezellen einschleuste, dort rasch abgebaut wurden. Im Jahr 1980 stellte Blackburn ihre Ergebnisse auf einem Kongress vor und erregte damit Szostaks Aufmerksamkeit. Beide Wissenschaftler beschlossen daraufhin, ein gemeinsames Experiment zu starten, das die Grenzen zwischen unterschiedlichen Spezies überwinden würde. Aus der DNA von Tetrahymena isolierte Blackburn die repetitiven Sequenzen CCCCAA, Szostak koppelte sie an seine Minichromosomen und schleuste diese wieder in die Hefezellen ein. Das Ergebnis, das die beiden 1982 veröffentlichten, war bemerkenswert: Die Telomersequenzen bewahrten die Minichromosomen vor dem Abbau. Das Erstaunliche daran war, dass die Telomere von Tetrahymena Chromosomen in einem komplett anderen Organismus, nämlich Hefe, schützen konnten, was einen bis dorthin unentdeckten grundlegenden Mechanismus enthüllte. Später zeigte sich, dass die Telomer-DNA mit ihren charakteristischen Abfolgen von Basenpaaren bei den meisten Lebewesen vorkommt, von Einzellern über Pflanzen bis hin zum Menschen.

    Nun stellte sich die Frage, wie diese Formation sich wiederholender Nukleotidsequenzen zustande kam. Blackburn vermutete ein unbekanntes Enzym dahinter und begann mit ihrer damaligen Doktorandin Carol Greider, dieser Frage nachzugehen. Am Weihnachtstag des Jahres 1984 ging Greider ins Labor und konnte erstmals in ihren Zellextrakten Hinweise auf eine enzymatische Aktivität entdecken.

    In der Folge gelang es den beiden Wissenschaftlerinnen, das Enzym aufzubereiten und nachzuweisen, dass es sowohl aus RNA als auch aus Proteinen bestand. Und sie trafen auf einen alten Bekannten: Die RNA-Komponente enthielt die ihnen bereits geläufige Sequenz CCCCAA. Das Enzym nannten sie Telomerase. Rasch wurde ihnen klar, dass der RNA-Anteil als Matrize für die Telomersynthese diente, der Proteinanteil die Funktion des Katalysators hatte und das Enzym dafür verantwortlich war, dass ein Chromosom über die komplette Länge kopiert werden konnte, ohne dass dabei das Endstück fehlte.

    Unklar war allerdings weiterhin, welche Rolle genau die Telomere in der Zelle spielten. Dies begannen Wissenschaftler in der Folge zu erforschen. Die Arbeitsgruppe von Szostak identifizierte in Hefezellen Mutationen, die bewirkten, dass sich die Telomere allmählich verkürzten. Diese Zellen wuchsen nur sehr spärlich und hörten irgendwann einmal auf, sich zu teilen. Blackburn und ihre Mitarbeiter lösten in der Telomerase Mutationen aus und konnten ähnliche Effekte bei Tetrahymena beobachten. In beiden Fällen alterten die Zellen vorzeitig. Im Gegensatz dazu konnten funktionsfähige Telomere die Chromosomen vor Schädigungen bewahren und den Alterungsprozess der Zelle verlangsamen. Später konnte die Arbeitsgruppe von Greider zeigen, dass Telomerase auch menschliche Zellen langsamer altern lässt. Zahlreiche Wissenschaftler spekulierten in der Folge, ob diese Telomerverkürzungen nicht nur in der Einzelzelle, sondern im ganzen Organismus die Ursache des Alterns sein könnten. Doch sie lagen damit falsch, wenn auch nicht komplett. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Alterungsprozess sehr komplex ist und von zahlreichen Faktoren abhängt, von denen die Telomerverkürzung nur einer unter vielen ist.

    Eine hohe Telomeraseaktivität findet sich im menschlichen Organismus nur in den wenigsten Zellen. Da sich die meisten Zellen aber nur ziemlich selten teilen, ist es kein allzu großes Problem, wenn das Enzym inaktiv ist und sich die Chromosomen in jedem Replikationszyklus minimal verkleinern. Denn bis die Telomere so stark verkürzt sind, dass die Zelle abstirbt, dauert es relativ lange. Anders ist es bei Tumorzellen: Sie besitzen die Fähigkeit, sich unkontrolliert zu teilen, und sie erhalten die Länge ihrer Telomere. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie diese Zellen ungehindert wachsen und somit dem Alterungsprozess entgehen können. Eine mögliche Erklärung könnte die Beobachtung sein, dass sich in ihnen eine hohe Telomeraseaktivität nachweisen lässt. Somit wäre dies ein potenzieller Ansatzpunkt für neuartige Formen der Krebstherapie: Man versucht, die Telomeraseaktivität zu hemmen. Derzeit laufen zahlreiche Untersuchungen zu dieser Hypothese, so auch klinische Studien, die einen gegen Zellen mit hoher Telomeraseaktivität gerichteten Impfstoff überprüfen. Einige Erbkrankheiten scheinen ebenfalls mit der Telomerase zusammenzuhängen und auf einem Defekt des Enzyms zu beruhen, beispielsweise spezielle Formen der kongenitalen aplastischen Anämie, bei denen eine unzureichende Teilungsfähigkeit von Knochenmarkstammzellen zu einer schweren Blutarmut führt. Die Grundlagenforschungen der drei Laureaten haben somit neben der Aufklärung bestimmter Zellfunktionen und Krankheitsmechanismen durchaus auch praktischen Nutzen, da sie die Entwicklung neuer, zuvor unbekannter Therapieformen ermöglichen.

    Erschienen in der der DMW Nr. 43 vom 23.10.2009

    Dr. med. Johannes Weiß, Bad Kissingen