Balint Journal 2009; 10(3): 67
DOI: 10.1055/s-0029-1224621
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Lehren vom Toten Meer

Lectures of the Dead SeaProf. Dr. med. E. R. Petzold
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Publication Date:
18 September 2009 (online)

Mag sein, dass es der tiefste Punkt der bewohnten Erde ist und Jericho eine der ältesten Städte dieser Erde, mag sein, dass die Höhlen von Qumran hervorragend geeignet waren, Schriftrollen aus der Zeit des zweiten Tempelbaus für unsere Zeit zu bewahren, mag sein, dass die Geschichten von König Saul und seinem Rivalen David vorchristliche Motive für den Umgang mit Macht und Ohnmacht, mit Niederlagen und respektvoller Toleranz erzählen, – der Grund, hier unter einem derart anspruchsvollen Titel wie „Lehren vom Toten Meer“ zu berichten, sind Erinnerungen und Metaphern, denen wir in jeder Balintstunde begegnen können- beispielsweise der Gefahr einer rückwärtsgewandten Faszination einer zugrunde gehenden Welt, beispielsweise die überraschend sprudelnden Quellen in einer felsigen Schlucht. An der Oberfläche eines einfachen Editorials (und einer kleinen Reisebeschreibung) wollen wir auf die Beiträge aufmerksam machen, die in diesem Journal mit einer Arbeit von D. Mattke beginnt und mit den Fragen von Benyamin Maoz: – Ärztliche Kunst – kann man das lernen? zur Diskussion gestellt werden.

Da ist zum Beispiel die Arbeit von Wolfram Zimmermann aus Brandenburg über „kontinuierliche Balintarbeit und Psychotherapiebedarf“. Auf dem Hintergrund einer „generell zunehmenden emotionalen Beziehungslosigkeit“ käme es in der Postmoderne – also in unserer Zeit – zu einer unangemessen Psychotherapiebedarfsplanung und – zu einer Art „Schnäppchenjagd“ – bei der Suche nach einem Psychotherapieplatz, einer Suche, die durch lange Wartezeiten konterkariert würde. Das wird mit einer eindrucksvollen Fallvignette von einer 55-jährigen Frau unterstrichen. Die Frau befand sich wegen eines leichten Hypertonus und Schlafstörungen seit Jahren in hausärztlicher Behandlung. Jetzt aber wurde sie durch die Erkrankung ihres Ehemanns an einem metastasierenden Pankreaskarzinom in „übergroßer Fürsorglichkeit“ „erdrückend“ – auch für die Referentin. Der Mann wurde zuhause gepflegt – auch durch eine ambulante Hauskrankenpflege. Die Unterstützung der Patientin durch die weit entfernt wohnende Familie war wenig hilfreich. Die Patientin konnte auch im Erleben der Referentin zunehmend schlechter mit den Belastungen umgehen. Sie fühlte sich „alleingelassen in ihrem Kampf“. Die Hausärztin und Referentin versuchte die Patientin zu einer wenigstens „stützenden“ Psychotherapie zu bewegen. Verschiedene Therapeuten boten ihr Wartezeiten von 6–12 Monaten an – wenig hilfreich in der akuten Situation – auch nicht für die Referentin. Die Vorstellung in der Balintgruppe, die Aussprache über vermeintliche Defizite und Fehler, Planlosigkeit und Unorganisiertheit der Fachkollegen, „Überidentifikation“ führten von vordergründigen-externalen Schuldzuweisung und negativer Projektionen zur „tatsächlichen Befindlichkeit“ der betroffenen Partner und zur einer klärenden „Beziehungsgestalt“ für die Referentin – mit neuen Möglichkeiten eigener emotionaler Verantwortung im Hier und Jetzt und Verzicht auf die Delegation auf eine fremde Person.

„Wege und Umwege des SELBST-Werdens“ von Theo Leydenbach / Paris über die psychoanalytische Behandlung einer bulämischen Patienten aus dem Fernen Osten mögen die „Lehren vom Toten Meer“ vertiefen. Erweitert werden sie durch die Erfahrungen Sigmar Scheerers / Heinersdorf über „Ärztliche Zusammenarbeit, Krankheitsbewältigung und Arzt-Patient-Beziehung“.

Abgerundet wird dieses Heft durch eine vorzüg­liche Übersichtsarbeit von Rudolf Kluismann / München über die „Balintgruppenarbeit für mul­ti­professionelle Teams (Lehrer, Familienanwälte, Studenten)“. Seine Fazit, dass Balintgruppenarbeit ein ideales Instrument sein kann, um intra­psychische und interpersonalen Schwierigkeiten in (fast) allen Berufsparten zu benennen und zu bearbeiten, kann durchaus eine Einladung sein, die Lehren der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft zu nutzen. Für die Herausgeber

Prof. Dr. med. E. R. Petzold

Goethestraße 5

72127 Kusterdingen

Email: erpetzold@gmx.de

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