Der Klinikarzt 2009; 38(5): 254-256
DOI: 10.1055/s-0029-1233420
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Hereditäres Angioödem - Erste subkutane Therapie für HAE-Attacken

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Publication Date:
29 June 2009 (online)

 
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Für Patienten mit hereditärem Angioödem (HAE) und ihre Ärzte wird die Behandlung künftig erleichtert. Erstmals können akute Attacken dieser gleichermaßen seltenen wie schwerwiegenden Erkrankung mit der subkutanen Gabe eines in einer Fertigspritze aufbereiteten Bradykinin-B2-Rezeptorantagonisten behandelt werden. Die Rede ist von Icatibant (Firazyr®), dem derzeit einzigen europaweit zugelassenen Arzneimittel für die symptomatische Therapie akuter HAE Typ I- und Typ II-Attacken bei Erwachsenen mit C1-INH-Mangel.

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Kritische Notfallsituation

Adelheid H. hatte Glück im Unglück. Kommt es bei einem HAE-Patienten zu einem Kehlkopfödem, noch bevor die Diagnose HAE überhaupt gestellt wurde, ist dieses Ereignis mitunter tödlich. Tödlich deshalb, weil das Ödem den Luftweg komplett verschließen kann - und das in sehr kurzer Zeit. Nicht selten sind die Patienten bereits erstickt, noch bevor sie in ärztliche Behandlung kommen.

Mit großen Atemproblemen erreichte die angehende Lehrerin noch die Notfallambulanz des Krankenhauses. Den behandelnden Ärzten bot sich bei der Kehlkopfinspektion ein Bild ähnlich dem in Abb. [1] links dargestellten. Die von inspiratorischem Stridor begleitete Kehlkopfschwellung war bereits so weit fortgeschritten, dass auf die abschwellende Wirkung hoch dosierter Kortisonspritzen erst gar nicht mehr gewartet werden konnte - abgesehen davon, dass Kortikosteroide, Antihistaminika und Adrenalin bei HAE-Attacken wirkungslos sind. Die Versorgung der Patiententin mit Luft musste unverzüglich sichergestellt werden, sei es mittels eines Tubus' oder auch mittels einer Tracheo- oder Koniotomie. Bei Adelheid H. gelang noch die Intubation. Am Ende des anschließenden Krankenhausaufenthalts stand schließlich die gesicherte Diagnose eines hereditären Angioödems.

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Abb. 1 Laryngoskopische Aufnahmen einer HAE-Kehlkopfattacke vor und nach Gabe von Icatibant (30 mg s.c.). Fotos: Dr. Murat Bas, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München

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Hohe Dunkelziffer

Ähnlich wie Adelheid H. ist es in Deutschland schon vielen der etwa 1 100 Patienten mit gesicherter HAE-Diagnose ergangen. Dies gilt vor allem für jene Patienten, bei denen die Erkrankung nicht in einer familiären Häufung auftritt.

Groben Schätzungen zufolge liegt die tatsächliche Prävalenz bei 2 000-8 000 Patienten. Obwohl sich erste Krankheitssymptome zumeist schon in der ersten Lebensdekade manifestieren, gehen oft viele Jahre ins Land, bis überhaupt ein entsprechender Verdacht im Raum steht. So auch bei Adelheid H., bei der nach dem Auftreten der ersten Symptome insgesamt 17 Jahre bis zur richtigen Diagnosestellung verstrichen.

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Rezidivierende Schwellungen an Haut und Schleimhaut

Charakteristisch für die Erkrankung sind rezidivierende, in der Haut oder der Mukosa akut auftretende Schwellungen. Nicht selten ausgelöst durch mechanische - zum Teil auch psychische - Belastungen können praktisch alle Körperareale betroffen sein: Neben Zunge, Rachen und Kehlkopf sind das wesentlich häufiger Gliedmaßen, der Genitalbereich, das Gesicht, Lippen (Abb. [2]) und nicht zuletzt das Gastrointestinalsystem.

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Abb. 2 Klinische Beispiele für HAE-Ödeme an Lippe und Zunge. Fotos: Dr. Murat Bas, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München

Während die allergisch bedingte Urtikaria sich als papulöse, scharf begrenzte und vor allem juckende Schwellung der Kutis manifestiert, hat man es beim hereditären Angioödem mit unscharf begrenzten, blassen, nicht juckenden, dafür jedoch mit Spannungsgefühl und Schmerz einhergehenden subkutanen Schwellungen zu tun.

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Erhebliche differenzialdiagnostische Probleme

Ganz erhebliche differenzialdiagnostische Probleme tun sich im Falle einer gastrointestinalen HAE-Manifestation auf. Diese kommen bei etwa 3 von 4 HAE-Patienten vor. Klinische Leitsymptome können episodisch auftretende, krampfartige Schmerzen im Abdominalbereich sein, die von Übelkeit, Erbrechen und mitunter heftigen Durchfällen begleitet werden. Der Flüssigkeitsverlust kann so erheblich sein, dass die Patienten in einen Volumenmangelschock geraten.

Treten derartige abdominale Symptome isoliert auf, kann es zu chirurgischen Eingriffen - von der explorativen Laparotomie bis zur Appendektomie kommen. Bis zur definitiven Diagnose wurden bisher bei HAE-Patienten nicht selten gesunde Blinddarmfortsätze und intakte Tonsillen entfernt.

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Bradykinin: zentraler Mediator bei HAE-Attacken

Bei der Schwellungs- bzw. Schmerzentstehung im Rahmen einer HAE-Attacke kommt dem Bradykinin eine zentrale Bedeutung zu. Das Gewebshormon erweitert die Blutgefäße und erhöht die Kapillarpermeabilität. In der Folge gelangt Flüssigkeit ins Gewebe und es kommt zu Schwellungen, in manchen Fällen auch zu Schmerzen. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass Antihistaminika, Kortikosteroide und Adrenalin - ganz anders als bei allergisch bedingten Angioödemen - keine oder eine allenfalls geringe Wirksamkeit besitzen. Das Versagen einer derartigen Notfalltherapie kann bei lebensbedrohlichen Larynxödemen deshalb sogar ein Hinweis auf ein zu Grunde liegendes HAE sein.

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FAST-1/FAST-2: Icatibant führt zu einer raschen Symptombesserung

Die Wirksamkeit und Verträglichkeit der subkutanen Icatibant-Injektionen wurde in 2 randomisierten, doppelblinden, kontrollierten multizentrischen Phase-III-Studien untersucht: In FAST-1 wurde der Bradykinin-B2-Rezeptorantagonist mit Placebo und in FAST-2 mit Tranexamsäure verglichen. FAST steht für "For Angioedema Subcutaneous Treatment". Während in FAST-1 56 Patienten aus den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Argentinien eingeschlossen waren, nahmen an FAST-2 74 Patienten aus Europa, der Schweiz und Israel teil. Einschlusskriterien waren mäßige bis schwere Haut- oder Magen-Darm-Attacken bei Patienten mit HAE-Typ-I oder -II. Patienten mit potenziell lebensbedrohlichen Larynxödemen wurden in einem offenen Behandlungsarm direkt mit Icatibant behandelt. Genauso verfuhr man mit Studienteilnehmern ab der 2. Attacke.

Primärer Studienendpunkt war die mediane Zeit nach der Injektion bis zur mindestens 30 %-igen Symptombesserung. Dieser Zeitpunkt wurde als TOR30+ bezeichnet. Hier zeigte sich in FAST-2 eine klinisch signifikante Überlegenheit von Icatibant gegenüber der Vergleichssubstanz Tranexamsäure (p < 0,001). Mit 2 vs. 12 Stunden war die geforderte Symptomverbesserung wesentlich schneller erreicht. In FAST-1 betrug TOR30+ unter Icatibant 2,5 Stunden verglichen mit 4,6 Stunden unter Placebo (p = 0,142). Die FAST-1-Studie hat den primären Endpunkt damit nicht erreicht. Die fehlende statistische Signifikanz wird auf die geringe Patientenzahl in der Studie zurückgeführt und auf eine hohe Placebo-Response-Rate bei Patienten mit Magen-Darm-Attacken.

Eine erste Symptomverbesserung nach Icatibant-Injektion setzte jedoch in beiden Studien bereits nach einer medianen Zeit von 48 Minuten ein - unter Tranexamsäure erst nach 7,9 und unter Placebo nach 16,9 Stunden.

Gemäß den in Abb. [3] dargestellten Ergebnissen ergab sich in FAST-2 der größte Unterschied zwischen den beiden Substanzen bezüglich des Rückgangs von Hautschwellungen (2,6 vs. 18,1 Stunden). Mit 10 vs. 51 Stunden wesentlich kürzer war nach Injektion von Icatibant auch die Zeit bis zur vollständigen Symptomrückbildung (TOR90+).

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Abb. 3 Zeit bis zur signifikanten Symptomverbesserung TOR30+: Signifikante Unterschiede zugunsten von Icatibant. Ergebnisse der FAST-2-Studie (dargestellt nach Aberer).

Im offenen Behandlungsarm konnte der Bradykinin-Antagonist auch bei Patienten mit Larynxödemen seine rasche Wirksamkeit unter Beweis stellen. Erste Symptomverbesserungen wurden nach Angaben der Patienten in FAST-1 nach 36 Minuten und in FAST-2 nach 1 Stunde erreicht. Bei 90 % der Patienten reichte eine einzige Icatibant-Spritze aus, um die HAE-Attacke zu beenden. Die Wirksamkeit von Icatibant wird auch bei wiederholter Behandlung aufrecht erhalten.

Basierend auf den Ergebnissen klinischer Studien lässt sich das Wirksamkeitsprofil von Icatibant wie folgt zusammenfassen:

Der Wirkstoff ...

  • ist bei allen Arten der geprüften HAE-Attacken wirksam.

  • führt zu einer raschen Symptombesserung.

  • verkürzt die Dauer von Attacken.

  • ist wirksam bei Larynxattacken.

  • ist zuverlässig wirksam bei der Behandlung nachfolgender Attacken.

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Diagnostik bei HAE-Verdacht

Das hereditäre Angioödem ist eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung:

  • Typ I ist gekennzeichnet durch eine herabgesetzte Synthese des C1-Esterase-Inhibitors (C1-INH) - ein Molekül, welches im Organismus in die Regulation der Bradykinin-Synthese eingreift. Der Typ I ist die häufigste Form des HAE und betrifft 80-85 % der Patienten.

  • Etwa 15-20 % der Patienten leiden am Typ II, welcher durch eine verminderte Aktivität von C1-INH gekennzeichnet ist. In diesen Fällen ist die C1-INH-Konzentration normal oder gar erhöht.

  • Mittlerweile wurden weitere Mutationen nachgewiesen, die zu HAE führen - etwa ein Defekt im Gen für den Gerinnungsfaktor XII. Dieser wird in der Literatur dem Typ III zugerechnet. Hier sind sowohl die Menge als auch die Aktivität des C1-INH unauffällig. Hauptsächlich sind Frauen betroffen.

Besteht bei entsprechender klinischer Symptomatik und nach sorgfältiger (Familien)-Anamnese ein HAE-Verdacht, so lässt er sich durch die Bestimmung der C1-INH-Plasmakonzentration bzw. eine entsprechende Funktionsdiagnostik abklären. Eine Bestimmung der Komplementspiegel von C1q und C4 sowie eine Genanalyse sind weitere Bausteine im Rahmen der HAE-Diagnostik.

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Günstiges Sicherheitsprofil

Gleichzeitig bescheinigen die Ergebnisse der klinischen Studien dem kompetitiven Bradykinin-B2-Rezeptorantagonisten ein gutes Sicherheitsprofil. Schwerwiegende systemische Nebenwirkungen wie anaphylaktische Reaktionen wurden genauso wenig beobachtet wie eine Antikörperbildung nach wiederholten Injektionen. Häufigste Nebenwirkungen waren lokale Reaktionen an der Einstichstelle, etwa Rötung, Juckreiz und gelegentliches Brennen. Diese waren in aller Regel geringgradig und spontan reversibel.

Nebenwirkungsbedingte Studienabbrü­che kamen im Rahmen des FAST-Studienprogramms nicht vor.

Dr. Ludger Riem, Rösrath

Dieser Artikel ist entstanden mit freundlicher Unterstützung der Jerini AG, Berlin

Der Autor ist freier Journalist

 
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Abb. 1 Laryngoskopische Aufnahmen einer HAE-Kehlkopfattacke vor und nach Gabe von Icatibant (30 mg s.c.). Fotos: Dr. Murat Bas, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München

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Abb. 2 Klinische Beispiele für HAE-Ödeme an Lippe und Zunge. Fotos: Dr. Murat Bas, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München

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Abb. 3 Zeit bis zur signifikanten Symptomverbesserung TOR30+: Signifikante Unterschiede zugunsten von Icatibant. Ergebnisse der FAST-2-Studie (dargestellt nach Aberer).