Psychiatr Prax 2009; 36(7): 351-352
DOI: 10.1055/s-0029-1242052
Serie ˙ Szene ˙ Media Screen
Media Screen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Das Nachleuchten der Dinge

Further Information

Publication History

Publication Date:
01 October 2009 (online)

 
Table of Contents

    An einem sommerlichen Samstagmittag habe ich gemeinsam mit einer Freundin nach verschiedenen Besorgungen die Altstadt von Lübeck umrundet. Gegen zwei Uhr, wir waren bereits drei Stunden unterwegs, hatten uns Fußweg und Sonne müde und hungrig gemacht. Die Tische vor den Restaurants Trave abwärts vom Holstentor waren alle besetzt, auch die bei den zwei Italienern, auf die wir gehofft hatten. Der dritte an der Untertrave war geschlossen. Wir kehrten um, lasen lustlos eine der Speisekarten und überlegten, ob wir in die Innenstadt abbiegen sollten, als ein großes Schild auf dem Trottoir uns ansprach: heute Flohmarkt. Der Pfeil wies in einen der kleinen Gänge. Zögerlich bogen wir ab und fanden jenseits des tiefen Durchgangs rechts und links drei Häuser mit einem höheren Parterre- und einem tiefen Obergeschoss, je ein schmales Zimmer breit. Auf Tischen und Bänken waren Bücher, Kleidung, gehäkelte Decken, Kuscheltiere, Geschirr, Vasen und Schalen, Spielzeug und Kerzenständer aufgebaut. Sie verkörperten gleichsam winzige Vorgärten, zwischen denen ein Gang von vielleicht 80 Zentimetern verblieb. Die Sonne hatte die Fenster der Obergeschosse erreicht. Die Tische standen im Schatten. Es war angenehm kühl. Unsere Augen durchquerten die Ausstellung und erspähten eine Kaffeemaschine, Rührkuchen und am nächsten Tisch Weißwein mit Zwiebelkuchen. Zwei Plätze wurden uns freigeräumt. Zum Nachtisch gab es Pflaumenkuchen mit Sahne und Kaffee. Wir wurden ins Bild gesetzt: man stecke noch in den Anfängen, habe Pläne, auch für die Winterzeit. Die heitere Atmosphäre, nicht nur der Wein löste die Zungen. Nicht Verdienst, sondern geteilte Zeit schien das gemeinsame Ziel zu bestimmen.

    Die pure Aktivität mache erfahrungsarm, sagt Byung-Chul Han. Man müsse sich angehen lassen von dem, was sich der Aktivität des handelnden Subjekts entziehe. Um dazu bereit zu sein, sind manche Wochenenden zu kurz, und oft müssen viele Urlaubstage verstreichen. Wir seien zum animal laborans heruntergekommen und wüssten nicht mehr, dass Arbeit zwar ein notwendendes Mittel zum Leben, aber nicht Selbstzweck sei, dass zum Leben noch mehr gehöre. Byung-Chul Han zeigt, dass allein die Beschleunigung keine Erklärung für unsere Zeitnot ist. Das schmale Bändchen, das ich hier vorstellen möchte ist nicht noch ein Buch über Zeitmanagement und effizientere Work-Life-Balance, was seiner Aktualität keinen Abbruch tut, ganz im Gegenteil. Der "philosophische Essay zur Kunst des Verweilens" setzt just dort ein, wo wir uns befinden: beim alles beherrschenden Thema Gesundheit und bei den nicht enden wollenden Kleinigkeiten, Aufgaben, Pflichten.

    • Die rigorose Politik der Gesundheit, die das Leben unendlich zu verlängern suche, kippe leicht in ein Verenden zur Unzeit, zitiert Byung-Chul Han Nietzsches letzten Menschen. Der Bezug zur aktiven Beendigung, beispielweise mit Exit, statt zu sterben, ist davon nicht weit entfernt.

    • Zum Wunsch nach mehr Zeit durch die Verlängerung des Lebens passt das Ziel der Effizienzsteigerung: Mit immer ausgeklügelteren Hilfsmitteln wie Smartphones, Organizern und Subnotebooks, die längst nicht mehr der alleinigen telefonischen Erreichbarkeit dienen, sondern der schnelleren Ankunft von Strompost, der Aktualisierung von Terminen und der ständigen Verbundenheit mit dem Internet, können wir unsere Alltagsarbeit noch umgehender erledigen. Nur dass diese Technik die Erreichbarkeit auch unerbittlicher einfordert, sodass wir in der Konsequenz mehr Zeit mit solchen und ähnlichen Aufgaben zubringen. Die Technik als solche verhilft uns nicht zu mehr Freiräumen. Überdies haben sie sich als Begleitgeräusch in unser Leben eingeschlichen. Verstummen sie, kommen wir uns nutzlos vor, weil wir nicht mehr gefragt zu sein scheinen.

    • Die Zeiten zwischen Arbeit und Freizeit, Berufs- und Privatleben verschwimmen. Der Fortschritt der Arbeitsgesellschaft, Dienstleistungen einkaufen zu können und dadurch Zeit zu gewinnen gerät ins Schlingern. Weder Leibeigenschaft noch unvorstellbare Arbeitszeiten der frühen Industrialisierung kehren zurück. Vielmehr haben sie mit dem emotionalen Kapitalismus eine neue Gestalt angenommen. Über körperliche und kognitive Leistungen hinaus werden wir psychisch beansprucht, während Dienstzeiten in Form von Gefühlsarbeit, nach Dienstschluss begleiten uns Sorgen um Patienten, Ärger mit Kollegen und Vorgesetzten und die Nachwehen vielfältiger Begegnungen. In Sonntagmorgende mogeln sich Emotionen, die sich aus den schnell nebenbei gelesenen Mails entfalten und episodisch die Ferienstimmung färben. Wenn wir nicht gleich antworten, sind wir überzeugt, sind wir weiter mit ihnen befasst. Wir können die Gefühle der anderen nicht auf uns sitzen lassen, mit denen sie uns ihrer Gefühlsarbeit delegiert haben.

    • Die Grenzen unseres Lebens sind eng verwoben mit unserer Ordnung der Zeit. Die Götter der mythischen Zeit kann man als "unvergängliche Bedeutungsträger" verstehen, die "erzählen, wie Dinge und Ereignisse zusammenhängen". Sie sorgen für eine unveränderliche Ordnung, in der alles seinen Platz hat. Wurde ein Ding falsch eingeordnet, wird es mit der Zeit - von der Zeit - wieder zurechtgerückt. In der geschichtlichen Zeit sind die Dinge auf einer fortlaufenden Linie angeordnet. Die Bedeutung der Dinge wird durch ihre Verkettung freigesetzt.

      Jetzt geht es nicht mehr um die ewige Wiederkehr desselben, sondern um die mögliche Veränderung. Bereits in der geschichtlichen Zeit wird diese nicht mehr als dauernde Gegenwart, sondern als Fortführung empfunden. Vergangenheit und Gegenwart driften auseinander. Mit der Aufklärung bestimmt die Freiheit das Verhältnis des Menschen zur Zeit. Mythische wie geschichtliche Zeit bilden eine narrative Kontinuität. Geht der Zeit die narrative oder teleologische Spannung verloren, zerfällt sie zu Punkten, die "richtungslos schwirren". Ohne narrative Spannung aber kann die Zeit die Aufmerksamkeit nicht mehr dauerhaft binden. Intervalle zwischen Ereignissen werden als leer empfunden. Man versucht sie zu beseitigen oder zu verkürzen. Sensationen müssen schneller aufeinander folgen, damit keine Langeweile aufkommt. "Die Zeit stürzt fort, ja überstürzt sich, um einen wesentlichen Mangel an Sein auszugleichen, was jedoch nicht gelingt, denn die Beschleunigung allein erzeugt keinen Halt." Dabei kann man die Schönheit einer Sache erst im Nachhinein, im Licht einer anderen erkennen, in der Erinnerung an sie. "Schön ist nicht der augenblickliche Glanz oder Reiz, sondern ein Nachleuchten, eine Phosphoreszenz der Dinge." Es gibt noch eine weitere Zeitordnung, eine alterslose, die auch in der Postmoderne ihre Gültigkeit nicht verloren hat, und auf sie zielt Byung-Chul Han ab - auf die kontemplative.

    • Mit der kontemplativen Zeitordnung löst sich das Schwirren auf und macht dem Schweben Platz. Mit Heidegger verweist Byung-Chul Han auf das Selbst als Essenz der eigentlichen Geschichtlichkeit, die Dauer, die nicht verfließt. "Der eigentlich Existierende hat gleichsam immer Zeit... Er verliert keine Zeit, weil er sich nicht verliert... Die knappe Zeit dagegen ist ein Symptom uneigentlicher Existenz. Das Dasein in seiner uneigentlichen Existenz verliert seine Zeit, weil es sich verliert an die Welt..." Proust findet das kleine "Quantum reiner Zeit", und im alten China gab es eine Duftuhr, durch die der Weihrauchduft den Raum erfüllte. "...er verräumlicht die Zeit, gibt dieser dadurch den Schein einer Dauer... Diese Düfte der Zeit sind nicht narrativ sondern kontemplativ."

    • Menschen bestehen nicht nur aus Arbeit, erinnert uns Byung-Chul Han. Neben der vita activa ist es an der Zeit die vita contemplativa für sich zu entdecken. Das wird uns nicht leicht gemacht. Ein Zugang zu ihr führt durch die Zeiten des Übergangs, durch jene Minuten, Stunden, Tage, die wir getrimmt sind noch effizienter auszufüllen. Das sind Warte- und Reisezeiten oder Phasen zwischen gesetzten Ereignissen, seien es Sitzungen, Vorträge, Kongresse oder Feste. "Die Totalisierung von Hier und Jetzt entkleidet die Zwischenräume jeder Semantik... Die Schwellenlosigkeit geht auf den Zwang einer totalen Sicht- und Verfügbarmachung zurück Schwellen verursachen zwar Leiden und Passion, aber sie beglücken auch... Ohne Intervall gibt es nur ein ungegliedertes, richtungsloses Nebeneinander oder Durcheinander von Ereignissen. Die Intervalle gliedern nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch das Leben. Übergänge und Abschnitte verleihen ihm eine bestimmte Richtung, d.h. einen Sinn...

    • Der Wegfall der Intervalle erzeugt einen ungerichteten Raum... Wo Ereignisse einander schnell ablösen, entsteht auch keine Entschlossenheit zum Abschluss. In einem ungerichteten Raum ist es möglich, die bisherige Aktion jederzeit abzubrechen und neu zu beginnen. Bei einer Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten macht der Abschluss wenig Sinn. Wer abschließt, kann womöglich den Anschluss verpassen. Der Raum aus Anschlussmöglichkeiten kennt keine Kontinuität. Hier wird immer wieder neu entschieden und ständig werden neue Möglichkeiten ergriffen, was eine diskontinuierliche Zeit zur Folge hat. Keine Entscheidung ist endgültig... Aufgehoben wird die linear verlaufende irreversible Zeit, nämlich die Zeit des Schicksals..." Das Leben aber ist eine "Schlussform".

    • Deshalb fordert Byung-Chul Han zum Aufschlagen von Atemräumen auf: "...Auch das kontemplative Verweilen ist eine Praxis der Freundlichkeit. Es lässt geschehen, sich ereignen und willigt ein, statt einzugreifen. Das tätige Leben, dem jede kontemplative Dimension fehlt, ist nicht fähig zur Freundlichkeit des Schonens. Es äußert sich als beschleunigte Herstellung und Zerstörung. Es verbraucht die Zeit. Auch in der Freizeit, die weiterhin dem Arbeitszwang unterliegt, hat man kein anderes Verhältnis zur Zeit. Die Dinge werden zerstört und die Zeit wird totgeschlagen. Das kontemplative Verweilen gibt Zeit. Es weitet das Sein, das mehr ist als Tätig-Sein... Wird aus dem Leben jedes beschauliche Element ausgetrieben, so endet es in einer tödlichen Hyperaktivität. Der Mensch erstickt dann im eigenen Tun. Notwendig ist eine Revitalisierung der vita contemplativa, denn diese schlägt Atemräume auf. Vielleicht verdankt der Geist selbst seine Entstehung einem Überschuss an Zeit, einem otium, ja einer Langsamkeit des Atems... Wer außer Atem gerät, ist ohne Geist..."

    Der Essay ist auch für Nichtphilosophen gut verständlich, die Sprache eingängig, und hat man sich einmal auf sie eingelassen, fällt es schwer, das Buch wieder wegzulegen. Dabei kann man auf einmal kaum mehr als wenige Seiten in sich aufnehmen. Der erste Atemraum ist aufgeschlagen. Ich habe das Buch ein erstes, ein zweites Mal gelesen und wieder von vorn begonnen. Die Zeit an der Supermarktkasse, der Weg zum Bahnhof, die Stunden nach einem Vortrag sind mir kostbar geworden. Die passende Textform für die vita contemplativa sind Koans. Von ihnen sind etliche im schmalen Band von gut 100 Seiten zu finden. Einer davon ist dieser:

    "Duft der Pinien -

    Eine Eidechse huscht

    Über den heißen Stein."

    Ulrike Hoffmann-Richter, Luzern

    Email: Ulrike.hoffmannrichter@suva.ch

    Zoom Image

    Byung-Chul Han. Duft der Zeit. Ein philososphischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld: transcript Verlag 2009, 111 S., 15,80 €

     
    Zoom Image

    Byung-Chul Han. Duft der Zeit. Ein philososphischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld: transcript Verlag 2009, 111 S., 15,80 €