Einleitung
Das menschliche Haarkleid besteht aus dem dichten Kopfhaar und einer feinen Körperbehaarung,
welche die ganze Haut mit Ausnahme der Handflächen und Fußsohlen bedeckt. Dazu kommt
die Geschlechtsbehaarung mit Bart, Achselhaaren und der Genitalbehaarung, die geschlechtsabhängig
unterschiedlich ausgeprägt ist. Während die Körperbehaarung im Laufe des Lebens eher
verstärkt erscheint, muss die Kopfbehaarung im Laufe des Leben im wörtlichen Sinne
„Haare lassen”. Beim Mann als Glatze bis hin zum Kahlkopf, bei der Frau eher als Ausdünnung
im Scheitelbereich.
So unterscheiden wir uns wesentlich von den Säugetieren, die Fell oder Pelz tragen.
Den Kälteschutz müssen wir uns durch Kleidung sichern, wozu wiederum tierische Häute
und Felle sowie Gewebe aus tierischen Haaren (Wolle), tierischen Fäden (Seide), Pflanzen-
und Chemiefasern dienen.
Unser Haarkleid, speziell die Haare am Kopf und im Gesicht, trägt wesentlich zu unserer
Körperform, unserer Erscheinung und damit unserem Selbstwert bei, was durch Farbe,
Formgebung und mittels Zusätze individuell und zudem variabel gestaltet werden kann.
Individuelle Schmückung, persönliche Auszeichnung, aber auch Zugehörigkeit zu einer
Gruppe werden signalisiert.
Umgekehrt können spezielle Gestaltungen des Haarkleides als persönliche Erkennungszeichen
übergeordnete Bedeutung erlangen, oder sie können als Merkmale für besondere Charaktere
oder für Sinninhalte allgemeinen Ausdrucks Bedeutung bekommen. Dies gilt besonders
für auffällige Abweichungen von der gewohnten und vertrauten Norm [1]
[2]
[3].
Die generalisierte Hypertrichose stellt eine sehr seltene Erbkrankheit dar, die ab
Geburt eine fellartige Körperbehaarung mitbringt, die den ganzen Körper betrifft und
sowohl allein als auch mit assoziierten Symptomen vorkommt. Daneben kommen auch erworbene
Formen der Hypertrichose vor, die zumeist aber als paraneoplastische Syndrome bei
fortgeschrittenen Tumorleiden beobachtet werden.
Als besondere, häufige und imponierende Auffälligkeit bei der männlichen Glatzenbildung
gilt die Persistenz einer oft mächtigen Stirnlocke.
Zwei Beispiele aus der christlichen Bildsprache (Ikonografie) sollen dies erläutern:
die generalisierte Hypertrichose der Maria Magdalena und die cholerische Stirnlocke
des Apostels Petrus.
Die Hypertrichosis congenita generalisata
Es handelt sich eine sehr seltene Erbkrankheit der Haut mit verstärktem allgemeinen
Haarwuchs am ganzen Körper seit der Geburt, wobei nur Handflächen, Fußsohlen und die
Schleimhäute ausgespart bleiben. Die Vererbung erfolgt X-chromosomal dominant, sodass
befallene Männer den Defekt ihren Töchtern weitergeben, befallene Frauen aber der
Hälfte der Kinder, Mädchen oder Knaben. In der Literatur sind an die 100 Fälle bekannt
und publiziert worden. Nicht selten wurden sie früher als „Wolfmenschen” oder „Affenmenschen”
bezeichnet und „zur Schau” gestellt sowie als Kuriositäten herumgereicht.
Es gibt noch eine „Lanuginosa-Form”, vorwiegend mit Lanugohaaren und assoziierten
dysmorphen Symptomen, Ambras-Syndrom genannt, die autosomal-dominant vererbt wird.
Der Defekt liegt auf Chromosom 8q [4]. Es sind gut 50 Fälle seit dem 17. Jahrhundert bis jetzt publiziert.
In der christlichen Ikonografie erscheint die Hypertrichosis congenitalis generalisata
ohne assoziierte Symptome aber schon früher, seit dem 15. Jahrhundert. Sie geht zurück
auf das Neue Testament der Bibel, wo Maria Magdalena als Jüngerin Jesu dargestellt
wird und ihn bei der Kreuzigung und Grablegung begleitet sowie diesem bei der Auferstehung
als Erste begegnet („Noli me tangere”, Joh. 20,11). Und sie wird ergänzt und vermengt
mit der Schilderung der Maria Magdalena Ägyptiaca in der „Legenda aurea” des Jakobus
de Voragine, Erzbischof von Genua am Ende des 13. Jahrhunderts. Es mag uns verwirren.
Die ägyptische Maria aus Magdala wird geschildert als eine gefallsüchtige, lebenslustige
Frau mit ausschweifendem Lebenswandel, die sich nach einer Wallfahrt nach Jerusalem
als Büßerin in der Wüste läuterte. Es wuchs ihr neben langen wallenden Haupthaaren
ein Haarkleid am ganzen Körper, welches die Schönheit ihres Körpers verhüllte. So
fand sie Abt Zosimas, der sie mit dem Abendmahl sühnte und nach Jahresfrist christlich
begrub.
Diese Szene der Legende mit der geläuterten und haarverhüllten Magdalena stellte im
15. Jahrhundert ein beliebtes und mehrfach dargestelltes Motiv dar. Eine der ersten
Darstellungen erfolgte im Magdalenenaltar des Lucas Moser (1390 – 1434) im rechten
Seitenschiff der gotischen Basilika in Tiefenbronn [5]. Der Mittelteil des geöffneten Retabels zeigt Magdalena in der Verzückung als geschnitzte
und farbig bemalte Zentralfigur mit dem langen Kopfhaar und dem dichten Köperhaar
(generalisierte Hypertrichose), wobei nur Gesicht, Brüste und die Knie ausgespart
blieben ([Abb. 1]). Bei geschlossenem Altar ist rechts nochmals Magdalena mit der Hypertrichose bei
der letzten Kommunion dargestellt. Der Altar wurde 1432 fertig gestellt und 1938/39
umfassend restauriert.
Abb. 1 Magdalenenalter des Lucas Moser in Tiefenbronn, Mittelteil bei Öffnung: Magdalena
mit langem Haupthaar und Ganzkörperbehaarung, Aussparung von Gesicht, Brüsten, Händen,
Füßen und Knien (Foto: H. & W. Sundermeyer).
In der Skulpturengalerie der Berliner Museen Preußischer Kulturbesitz findet sich
eine ähnliche Schreinskulptur mit langem Haupthaar und Ganzkörperbehaarung. Allerdings
sind die Knie nicht ausgespart. Sie stammt aus der Multscher-Schule um 1425. Wenig
später (um 1440) entstand die Skulptur „Maria Magdalena als reuige Sünderin” von Donatello
(1386 – 1466), mit langem Kopfhaar und einem Haarkleid am Körper.
Die wohl berühmteste Darstellung der behaarten Maria Magdalena stammt aus den Jahren
1490 – 92 von Tilman Riemenschneider (1460 – 1531) im Münnerstädter Altar ([Abb. 2]). Auch in der Nürnberger Chronik des Hartmann Schedel (1440 – 1514) finden sich
zwei, teils kolorierte Zeichnungen der am ganzen Körper dicht behaarten Maria Magdalena.
Abb. 2 Münnerstädter Alter von Tilman Riemenschneider, rechter Flügel: Die am ganzen Körper
dicht behaarte Magdalena empfängt vom Bischof die letzte Kommunion und Grablegung
(Foto privat).
Es war und ist ein beliebtes und reizvolles Motiv für die Künstler im 15. Jahrhundert.
Das lange Haupthaar und die volle Körperbehaarung, ohne assoziierte Symptome, zeigt,
dass der sündige Reiz ihres Köpers nach der Läuterung verhüllt ist und so die Maria
Magdalena, eben die ägyptische, zurück in die christliche Gnade begleitet.
Eine generalisierte Hypertrichose wird auch beim Heiligen Onophrius beschrieben und
in einigen, nicht in allen, Abbildungen dargestellt, wobei die Hände und Füße ausgespart
sind. Eindrücklich ist das Gemälde „Die Kommunion des Heiligen Onophrius” des unbekannten
Meisters der Darmstädter Passion um 1440, welches sich im Kunsthaus Zürich befindet.
Die Legende beschreibt Onophrius als einen äthiopischen Fürstensohn des 4. Jahrhunderts,
der dem weltlichen Leben entsagte und als büßender Eremit in der Ägyptischen Wüste
lebte, den Leib mit einem Haarkleid gänzlich bedeckt, bis er durch die heilige Kommunion
kurz vor dem Tod wieder in die christliche Gemeinschaft zurückkehrt [6].
Die Legende gleicht in verblüffender Weise derjenigen der ägyptischen Magdalena und
unterstreicht die Symbolkraft der generalisierten „fellartigen” Hypertrichose als
Verschleierung und damit „Außer-Kraft-Setzung” der anmutigen und zu ausschweifendem
Lebenswandel verführenden Körperlichkeit. Das tierhafte Haarkleid gliedert den Träger
Onophrius sowie die Trägerin Magdalena aus jeder menschlichen Beziehung aus und zwingt
sie zur asketischen Einsiedelei. Das ist einer der Wege zur christlichen Innerlichkeit,
der heilige Weg.
Die spät im Leben manifeste generalisierte Hypertrichose, deren Auftreten nach nur
einem Jahr zum Tod in Verklärung führt, ließe auch an eine paraneoplastische Hypertrichose
denken, doch ist die Legende frei von Krankheitsbeschreibungen und nur erfüllt vom
ausschweifenden Leben, gefolgt von Buße und Martyrium. So kann man es bewenden lassen.
Es lassen sich auch keine direkten Beziehungen knüpfen zur Figur der Cundrie, die
im Parzival-Roman des Wolfram von Eschenbach als eine kluge, hoch gebildete aber ungewöhnliche
Dame auftritt, die mit ihrer angeborenen, autosomal-rezessiven Hypertrichose mit akromegaloidem
Gesicht [7] als Vermittlerin zwischen der höfischen Realwelt und der virtuellen Welt der Gralsgeschichte
wirkt. Auch sie ist eine Außenseiterin und charakterisiert durch die generalisierte
Hypertrichose.
Man kann sich fragen, ob die Verfasser der Legenden, deren Tradierer und die Gestalter
der Ikonografien sich Gedanken machten, ob die Missbildung zum besonderen Weg der
Träger führte oder ob die Kausalität umgekehrt wirksam wird. Ob der heilige Weg durch
Isolierung erst vollendet werden kann. Auf alle Fälle steht der Symbolwert der Hypertrichose
im Vordergrund, die kraftvolle Aussage, dass Verunstaltung den inneren Wert des Menschen
nicht beeinträchtigt und dem christlichen Heilszugang nicht im Wege steht. Dies wurde
bevorzugt im 15. Jahrhundert vielfältig in Bildprogrammen vermittelt und ist bis heute
uneingeschränkt gültig.
Die cholerische Stirnlocke des Apostels Petrus
Petrus war der erste Jünger Jesu und der Apostel zur Bekehrung der Judenchristen.
Später fungiert er auch als Nachfolger Christi auf dem Papststuhl in Rom. Er wird
regelmäßig mit dem Schlüssel, Bart nach oben, als charakterisierendem Attribut dargestellt.
Ab dem 4. Jahrhundert wird er zusätzlich als Rundkopf mit Glatze, Lockenkranz und
Backenbart abgebildet, sowie mit einer mächtigen Stirnlocke, die freistehend am oberen
Stirnrand oft wie aufgesetzt imponiert. Diese wird als cholerische Stirnlocke bezeichnet,
als Anspielung an sein cholerisches Temperament (nach Hippokrates), also Bezug nehmend
auf seine stürmische Reaktion bei der Gefangennahme Jesu auf dem Ölberg, als er dem
Schächer Malchus ein Ohr abschlug (Joh. 18,11). Ab dem 13. Jahrhundert wird Petrus
dann in pontifikaler Kleidung mit Tiara dargestellt. Buchrolle, Kreuzstab und gelegentlich
ein Hahn ergänzen seine Attribute. Die cholerische Stirnlocke ist besonders bei frühen
und einfachen Darstellung sein einziges und somit sein charakterisierendes Attribut,
wie es in vielen Kirchen und Klöstern noch immer und eindrücklich zu finden ist. Als
Beispiele unter vielen imponieren die Werke in der Martini-Kirche, Stadtkirche zu
Stollberg im Harz ([Abb. 3]) und in der gotischen Basilika zu Tiefenbronn in Württemberg ([Abb. 4]). Die cholerische Stirnlocke erlaubt einfach und unzweideutig die Abgrenzung des
Petrus von seinem Mitjünger Paulus, dem Heidenapostel, der Buch oder Schriftrolle
als charakteristisches Attribut trägt und mit ovalem Kopf und Spitzbart dargestellt
wird.
Abb. 3 Martini-Stadtkirche zu Stolberg im Harz. Muttergottes mit Petrus und anderen Bewunderern.
Er ist einzig durch die cholerische Stirnlocke charakterisiert. Ausschnitt aus dem
Bildteil des ehemaligen Hochalters, jetzt über dem Chorgestühl (Foto: H. & W. Sundermeyer).
Abb. 4 Gotische Basilika Tiefenbronn, Petrus mit cholerischer Stirnlocke und Schlüssel betrachtet
die Muttergottes mit Kind (Foto: H. & W. Sundermeyer).
Gute 1500 Jahre lang war die Stirnlocke ein feststehendes Attribut des Apostels Petrus
[8]. Dies galt für die gesamte Christenheit weltweit und war unabhängig von Sprache
und von schriftlicher Tradierung. Erst im letzten Jahrhundert erfolgte im Zuge der
Säkularisierung eine Umdeutung, welche auch die Symbole und deren Werte mit einbezieht.
Die Stirnlocke war ein Charakteristikum des deutschen Politikers Willi Brandt (1913 – 1992,
Deutscher Bundeskanzler 1969 – 1974, Friedensnobelpreis 1971), der so bekannt war,
dass die Stirnlocke sowohl in der Presse wie in Lehrbüchern als Willi-Brandt-Stirnlocke
benannt wird. Der SPD-Politiker Willi Brandt hat also den Apostel Petrus in der Charakterisierung
durch die Stirnlocke gleichsam abgelöst, allerdings nur in dieser einen Beziehung
und wahrscheinlich auch nicht für immer.
Rituale und ihre Symbole entfalten Kraft und vermitteln Werte. Sie sind unglaublich
beständig, zuweilen jedoch auch veränderlich. Sie bleiben stets wirksam, wenn auch
gelegentlich mit gewandelter Bedeutung und Gewichtung. Dies ist an unseren Beispielen
mit aller Deutlichkeit zu erfahren. Die generalisierte Hypertrichose wirkt als Symbol
des durch äußere Verunstaltung und inneren Wandel überwundenen, lasterhaften Lebensweges.
Dies erfuhr im 15. Jahrhundert einen Höhepunkt der Darstellung und wirkt, wesentlich
diskreter, wohl auch noch weiter. Die Haartracht in vielfältiger Form und Aufmachung
hat aber neuerdings an Bedeutung und Symbolwert enorm zugewonnen und treibt mitunter
echte Blüten.
Etwas anders ist der Symbolcharakter der cholerischen Stirnlocke als Attribut des
heiligen Petrus zu sehen, welche 1500 Jahre lang unangefochten Gültigkeit hatte. Neuerdings
hat Petrus die Singularität dieses Attributs eingebüßt, ohne allerdings dieses abzutreten.
Symbole haben langes Leben!