Der Klinikarzt 2009; 38(12): 532
DOI: 10.1055/s-0029-1245052
Medizin & Management

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EU-Vertrag von Lissabon - Eingeschränkte Kompetenzen

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Publication Date:
07 January 2010 (online)

 
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Auch mit dem am 1. Dezember in Kraft getretenen Lissabon-Vertrag wird die Gesundheitspolitik vorrangig eine Aufgabe der EU-Staaten sein. Die Europäische Union erhält weiterhin nur eingeschränkte Kompetenzen. Oberstes Ziel ist es, die Gesundheit der 450 Millionen EU-Bürger zu schützen. Dies gilt es, bei allen politischen Maßnahmen der EU zu berücksichtigen. Die nationalen Parlamente erhalten durch den neuen EU-Vertrag zugleich ein Einspruchsrecht, um allzu weitreichenden Ambitionen der EU in der Gesundheitspolitik rechtzeitig einen Riegel vorschieben zu können.

Seit dem 1. Dezember hat die Europäische Union (EU) eine neue Rechtsgrundlage. Das kurz Lissabon-Vertrag genannte Vertragswerk regelt die Zusammenarbeit der derzeit 27 Mitgliedsländer innerhalb des Staatenverbundes. Einige Regelungen des EU-Vertrags betreffen auch die medizinische Versorgung der EU-Bevölkerung.

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EU regelt, was auf nationaler Ebene nicht geklärt werden kann

Der vielleicht wichtigste Passus besagt: Die Gesundheitspolitik bleibt weiterhin eine Kernkompetenz der Nationalstaaten. Das heißt: Die Europäische Union darf im Interesse der 450 Millionen EU-Bürger auch künftig nur das regeln, was auf nationaler Ebene nicht ausreichend geregelt werden kann. Aktuellstes Beispiel hierfür sind die derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindlichen EU-Vorschriften zur grenzüberschreitenden ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung.

Die EU ist somit nicht völlig ohne rechtliche Handhabe in der Gesundheitspolitik. Der Vertrag ermächtigt sie vielmehr ausdrücklich dazu, im Bereich der öffentlichen Gesundheit gemeinsam mit den Mitgliedsländern gesetzgeberisch tätig zu werden und verbindliche Rechtsakte zu erlassen. Neben der Regelung der Rechte der Patienten bei Auslandsbehandlungen betrifft dies zum Beispiel auch die Festlegung von Mindeststandards für die Sicherheit und Qualität im Umgang mit Blut, Blutprodukten, Zellen und Geweben sowie Organen.

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Bei grenzüberschreitenden Gesundheitsfragen ist EU gefordert

Ferner darf die EU Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung der Politik der EU-Staaten ergreifen, wenn es um den "Schutz und die Verbesserung der menschlichen Gesundheit geht" (Artikel 6). Oberstes Ziel dabei ist es, die körperliche und geistige Gesundheit der EU-Bevölkerung zu fördern und zu wahren. Hierunter fallen zum Beispiel die "Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren", wie die Vogel- oder Schweinegrippe.

Aber auch bei Maßnahmen in der Umwelt- und Beschäftigungspolitik, in der Industriepolitik, der Binnenmarkt-, Wettbewerbs- oder Forschungspolitik, kurzum bei allen politischen Initiativen, ist die EU verpflichtet, deren Auswirkungen auf die Gesundheit der EU-Bürger zu berücksichtigen (Artikel 9).

Weiterhin gestattet der Lissabon-Vertrag der EU-Kommission, Leitlinien zu ersinnen, um die Angleichung der Gesundheitssysteme voranzutreiben und deren Umsetzung anhand von Indikatoren zu überprüfen. Damit sollen vor allem die gesundheitlichen Ungleichheiten beispielsweise in Bezug auf die Säuglingssterblichkeit, die allgemeine Lebenserwartung oder die Unterschiede im Versorgungsangebot bekämpft werden.

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Kontrollrecht durch die nationalen Parlamente als Notbremse

Eine eingebaute Notbremse soll dafür sorgen, dass die EU ihre gesundheitspolitischen Kompetenzen nicht überschreitet. Diese besteht im Wesentlichen in einem verbesserten Kontrollrecht durch die nationalen Parlamente. Die Volksvertretungen erhalten nämlich das Recht, Gesetzgebungsverfahren zu verzögern oder gar zu stoppen.

Damit sie von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen können, muss die Europäische Kommission, die als einzige Institution auf EU-Ebene eine Gesetzgebungskompetenz besitzt, den nationalen Parlamenten sämtliche Richtlinien- und Verordnungsvorschläge unmittelbar zuleiten. Die Volksvertretungen haben dann 8 Wochen Zeit, die Vorschriften zu prüfen und gegebenenfalls Einspruch zu erheben.

Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus in seinem Urteil zum Begleitgesetz des Lissabon-Vertrags gestärkt, indem es Bundestag und Bundesrat dazu aufgefordert hat, sich ausreichende Beteiligungsrechte an europäischen Gesetzgebungsverfahren einzuräumen.

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Einspruchsrecht schärft Sensibilität bei EU-Gesetzgebung

Ein erster Lakmustest hierfür könnte die wegen Unstimmigkeiten im Ministerrat zur Zeit auf Eis liegende Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung werden. Erhebliche Bedenken gibt es auch gegen die geplanten EU-Vorschriften zu Organspenden und -transplantationen.

Denn die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung sieht unter anderem die Errichtung europaweiter Referenzzentren zur Diagnose und Therapie seltener Erkrankungen vor. Damit könnte die EU in die Organisations- und Finanzierungshoheit der Bundesländer im stationären Gesundheitswesen eingreifen. Ähnlich verhält es sich mit den Vorschriften im Bereich Organe, die die Kompetenz der Bundesländer ebenfalls teilweise aushebeln könnten.

Renate Völpel, stellvertretende Leiterin im Büro des Landes Berlin bei der EU ist davon überzeugt, dass das Einspruchsrecht die Sensibilität der EU-Beamten bei gesundheitspolitischen Gesetzgebungsvorschlägen schärfen wird. "Das wirkt wie eine Schere im Kopf."

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