Hebamme 2010; 23(1): 16-20
DOI: 10.1055/s-0030-1248874
Geburt
Schmerzlinderung
© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

MH Kinaesthetics: Schmerzlinderung durch gezielte Bewegungen

Andrea Mora1
  • 1Hebamme und MH Kinaesthetics-Trainerin, Stuttgart
Further Information
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Anschrift der Autorin:

Andrea Mora

Klinikum Stuttgart

Frauenklinik

Prießnitzweg 24

70374 Stuttgart

Email: andrea.ehl@googlemail.com

Publication History

Publication Date:
24 March 2010 (online)

Table of Contents

Über ihre eigene Bewegung kann die Gebärende aktiv ihre Spannung und damit auch ihr Schmerzempfinden beeinflussen. MH Kinaesthetics liefert ein neues Verständnis für Bewegungen und gibt Anregungen, wie Hebammen die Frauen durch gezielte Bewegungen unterstützen können.

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Was ist MH Kinaesthetics?

MH Kinaesthetics ist eine Lehre von Bewegung. Sie wird nach den Begründern Dr. Lenny Maietta und Dr. Frank Hatch benannt. Die wissenschaftlichen Grundlagen von Kinaesthetics liegen in der Verhaltenskybernetik und in der Biologie.

Im Hinblick auf den verhaltenskybernetischen Kerngedanken gibt es eine zentrale Aussage: Jeder Mensch ist ein geschlossenes, sich selbst regulierendes System. Er ist stets damit beschäftigt, auf die unterschiedlichsten Reize oder Impulse zu reagieren und seine Körperspannung anzupassen. Diese Hypothese kann man durch eine einfache Bewegung überprüfen:

Übung zum Verständnis:
  • Verlagern Sie Ihr Gewicht beim Sitzen einige Male von einer Seite auf die andere.

  • Beachten Sie dabei den Kontakt des Gesäßes auf dem Stuhl, den der Füße mit dem Boden und den der Arme zu den Beinen oder den Armlehnen.

  • Sie werden dabei eine ständige Veränderung im Druck gegen die Unterstützungsfläche (Stuhl) und eine parallele Anpassung der Spannung im Ganzen Körper feststellen. Der Körper ist ständig damit beschäftigt, das Gewicht gegen die Schwerkraft zu organisieren, indem er kleine Ausgleichsbewegungen macht. Er reagiert auf den Reiz der Schwerkraft und auf die Wirkung der eigenen Bewegung durch ein ständiges Anpassen der Körperspannung.

Alle Veränderungen in dem „System” Mensch können nur von der betreffenden Person selbst ausgeführt werden. Die Impulse können zwar von außen kommen, bedürfen jedoch immer einer adäquaten Verarbeitung im eigenen Körper.

Für den Umgang mit Schmerzen während der Geburt bedeutet dies, dass die Gebärende über ihre eigene Bewegung sowohl die Spannung als auch den Schmerz selbst regulieren muss.

Alle begleitenden Personen können lediglich Ideen liefern, wie die Frau einen für sie passenden Umgang mit jeder Situation finden kann. Die Hebamme kann aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrung auf ein weit vielfältigeres Repertoire von Unterstützungsmöglichkeiten auf physischer und psychischer Ebene zurückgreifen. Sie muss jedoch zusätzlich in der Lage sein, ihr Tun im Hinblick auf die Absicht und die erwünschte und erzeugte Wirkung immer wieder neu zu überprüfen und ggf. anpassen zu können.

In diesem Sinn sollen auch die hier vorgestellten Ideen nicht als „eine Technik zur schmerzärmeren Geburt” gesehen werden, sondern Möglichkeiten aufzeigen, Frauen individuell zu betreuen und die Fähigkeit der einfühlsamen Betreuung zu stärken. Darüber hinaus sind Trost, Motivation und emotionale Begleitung selbstverständlich entscheidend, um eine Geburt zu bewältigen.

Im Folgenden wird das erste Konzept von MH Kinaesthetics beschrieben und als Werkzeug benutzt, um Frauen in den unterschiedlichen Geburtsphasen darin zu unterstützen, über Bewegung den Schmerz zu beherrschen.

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Der Geburtsbeginn

Unabhängig vom realen Betreuungsbedarf sind die Aufnahmesituation und die erste Zeit der Geburt wichtig, um eine Vertrauensbasis zwischen der Hebamme und den werdenden Eltern aufzubauen.

Das erste Konzept von Kinaesthetics widmet sich der Interaktion und damit der Frage, wie man miteinander in Kontakt kommt. Neben den klassischen fünf Sinnen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) beschäftigt sich Kinaesthetics mit dem kinästhetischen Sinnessystem, mit dem alle Bewegungen wahrgenommen werden. Über dieses System ist der Mensch ständig über sich informiert und verfügt über eine Art innere Orientierung. Über eine immense Anzahl von Propriorezeptoren registriert er die genaue Position und den Spannungszustand aller Muskeln, Sehnen und Gelenke.

Neben den Sinnen widmet sich das Konzept der Interaktion den so genannten Bewegungselementen Zeit, Raum und Anstrengung. Diese drei Elemente sind es, die jede Aktivität ausmacht. Jede Bewegung braucht

  • eine Zeit,

  • einen Raum, in dem sie stattfindet und

  • eine bestimmte (Kraft-)Anstrengung.

Dabei ist es wichtig, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen zu verstehen. Wenn man eine beliebige Aktivität (z. B. Übergang vom Liegen ins Sitzen) in 3 unterschiedlichen Formen ausführt, merkt man, dass eine Veränderung jedes einzelnen Elementes die Ausprägung der anderen Elemente bedingt ([Tab. 1]). Möchte man die Anstrengung reduzieren, muss man mehr Zeit und Bewegungsspielraum zur Verfügung stellen etc.

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Tab.  1 Zusammenhänge zwischen den Bewegungselementen Zeit, Raum und Anstrengung.

Erfahrung zum Verständnis:
  • Setzen Sie sich mit wenig Zeit (schnell) auf, brauchen Sie dafür mehr Anstrengung und weniger Raum.

  • Versuchen Sie mit wenig Anstrengung aufzustehen, benutzen Sie einen größeren Raum und bewegen sich langsamer.

  • Wenn Sie wenig Platz zum Aufsetzen haben, benötigen Sie mehr Zeit und Anstrengung.

Neben den Sinnen und den Bewegungselementen beschäftigt sich das Kinaesthetics-Konzept Interaktion mit den Interaktionsformen:

  • gleichzeitig-gemeinsam,

  • schrittweise und

  • einseitig.

Je nachdem, wie in einer Interaktion zwischen zwei oder mehr Personen Zeit, Raum und Anstrengung gestaltet sind, verändert sich die Interaktionsform. Dies kann als Modell der Analyse genutzt werden.

Stimmen Zeit, Raum und Anstrengung zwischen den Teilnehmern während einer Handlung überein, spricht man von einer gleichzeitig-gemeinsamen Interaktion. Im gleichzeitig-gemeinsamen Tun können neue Bewegungen einfach erlernt werden, da der kinästhetische Sinn der Bewegung unmittelbar folgen kann.

Gibt es eine Zeitverzögerung bei den Handlungen zwischen den Teilnehmern, handelt es sich um eine schrittweise Interaktion. Diese dialogartige Form betont die wechselseitigen Impulse einer Bewegung.

Bei der einseitigen Interaktion gibt es keine direkte Beziehung in der Handlung, keine direkte Rückmeldung zwischen den Teilnehmern. Dies setzt allerdings voraus, dass einer der Teilnehmer die durchzuführende Aktivität selbständig ausführen kann. Der Lerneffekt ist aus der Bewegungsperspektive betrachtet hierbei für alle Teilnehmer am geringsten.

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Was bedeutet dies für die Geburt?

Während Frauen die Anfangsphase der Geburt sehr selbständig bewältigen (einseitige Interaktionsform), brauchen sie in der Regel im Verlauf des Geburtsprozesses immer häufiger Begleitung, Motivation und neue Ideen. Die Interaktionsform entspricht dann einer schrittweisen Interaktion, da es oft genügt, erst einmal neue Impulse zu geben und zum Ausprobieren zu ermutigen.

In der zweiten Hälfte der Eröffnungsphase werden die Frauen häufig müde und ihre Bewegungen werden langsamer. Jede Hebamme, die die Gebärende begleitet, sollte diese Veränderungen wahrnehmen und der Frau möglichst lange so viel wie möglich zutrauen.

Die Begleitenden müssen sich an das Tempo der Frau anpassen, nicht die Gebärende an das Tempo der Geburtshelfer.

Nur so kann die Frau die Kontrolle über die Situation behalten, was ihre Schmerz wahrnehmung positiv begünstigt.

Eine andere Bezeichnung für die Interaktionsformen ist Führen und Folgen. Bezogen auf den Betreuungsbeginn bei der Geburt sollte die Hebamme abwägen, in welchem Bereich die Frau eine gezielte Anleitung braucht (die Hebamme also kurzzeitig die Führung übernimmt), um die Frau dann zum selbständigen Tun anzuleiten. Sie sollte aber genauso beachten, in welchem Bereich sie der Frau folgen kann. Dies kann sie, indem sie die Gebärende in allem bestärkt, was diese intuitiv sehr gut macht. Auch das „Folgen” ist ein wichtiger Bestandteil zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses.

Im Folgenden werden Bewegungsmöglichkeiten in häufig vorkommenden Situationen vor dem Hintergrund der Interaktionsformen aufgezeigt. Das Ziel ist immer, der Gebärenden den Umgang mit den Schmerzen zu erleichtern, in dem sie Möglichkeiten erfährt, ihre Körperspannung selbst zu regulieren.

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Protrahierter Geburtsverlauf

Bei einem protrahierten Verlauf gilt es zunächst, die Ursache zu eruieren. Mögliche Ursachen sind:

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Abwehrhaltung

Manche Frauen gehen bei den Wehen in eine eher nach hinten drückende und meist bewegungsarme oder starre Position. In diesen Fällen kann die Hebamme die Frau zunächst eine Wehe lang gezielt auf ihre Bewegung achten lassen, denn es ist wichtig, dass die Frau selbst bemerkt, dass sie sich kaum bewegt. Einem Großteil der Frauen sind die Bewegungen, die das Kind bei der Geburt macht, theoretisch bekannt. Ihnen aufzuzeigen, dass das Kind die notwendigen Bewegungen nur machen kann, wenn es nicht festgehalten wird, kann eine effektive Motivation zur Bewegung sein. Motto: „Was man festhält, kann sich nicht bewegen.”

Bewegung kann auch dadurch unterstützt werden, dass die Gebärende ihr Gewicht mehr auf ihre funktionalen Vorderseiten bringt.

Die funktionalen Vorder- und Rückseiten werden im zweiten kinästhetischen Konzept, der funktionalen Anatomie, beschrieben. Kinaesthetics unterscheidet zwischen einer Orientierung im Raum und einer Orientierung im Körper. Diese Einteilung beruht auf der Funktion der so genannten Vorder- und Rückseiten.

Rückseiten sind die härteren Körperseiten, da sich hier die Knochen näher an der Oberfläche befinden. Das Gewicht kann besser über diese knöchernen Seiten abgegeben werden. Sie sind unempfindlicher. An den Rückseiten befinden sich vorwiegend Streckmuskeln, die ausdauernder arbeiten können als die dünneren Beugemuskeln der Vorderseiten.

Vorderseiten sind die weicheren Körperseiten, an denen sich vor allem Beugemuskulatur befindet. Die empfindlichen und meistens intimeren Vorderseiten eines Körperteils ermöglichen die erforderlichen Anpassungsbewegungen. Sie können effektiv eingesetzt werden, wenn sie kein Gewicht halten müssen. Hier befindet sich eine Vielzahl von Propriorezeptoren, die jeder Mensch zur permanenten Gewichtsverlagerung nutzt.

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Praktische Tipps:

  • Bewegung kann man entweder dadurch unterstützen, dass man instabilere Hilfsmittel benutzt (z. B. ein Tuch oder den Pezziball).

  • Eine begleitende Person kann auch angeleitet werden, zunächst Bewegungsimpulse zu geben (dies können wiegende Bewegungen sein, die jeder Mensch mit Beruhigung und Spannungsreduktion verbindet). Wichtig ist, dass die Gebärenden die Bewegung Schritt für Schritt selbständiger übernimmt.

Generell gibt es immer eine Balance zwischen Stabilität und Bewegung. Die Beachtung der Vorder- und Rückseiten kann hilfreich sein, um diese Balance in den einzelnen Positionen zu unterstützen. Je mehr die Frau ihr Gewicht über ihre funktionalen Rückseiten abgibt, desto unbeweglicher ist die jeweilige Position. Dies kann bei Frauen hilfreich sein, die nicht zur Ruhe kommen, und immer „weglaufen” wollen.

Kleine Unterschiede, die zu der Balance zwischen Beweglichkeit und Stabilität beitragen, zeigen manchmal eine große Wirkung im Hinblick auf die Gewichts- und Spannungsorganisation im Körper. Sie können meiner Erfahrung nach eindrücklich zu einer geringeren Schmerzwahrnehmung beitragen.

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Straffer Muttermund

Bei einer Muttermundsdystokie ist es hilfreich, die Frau in einer Position zu unterstützen, in der sie ihr Gewicht gut abgeben kann.

In den Wehenpausen sollte sie dann die Beine ausschütteln (nach rechts und links bewegen).

Jeder Muskel kann nur eine Funktion auf einmal übernehmen. Deshalb ist die Absicht hier, die benachbarte Muskulatur gezielt für Bewegung zu nutzen, damit der haltende Muttermund lockerer wird.

Erfahrung zum Verständnis:
  • Ballen Sie eine Hand zu einer Faust und konzentrieren Sie sich darauf, diese Spannung konstant zu halten.

  • Bewegen Sie dann das Handgelenk in viele Richtungen (so als würden Sie es ausschütteln).

  • Sie werden bemerken, dass die stabile Bewegung (Faust ballen) bei einer gleichzeitigen instabilen Bewegung (Handgelenk drehen) weniger effektiv möglich ist.

  • Bei der drehenden Bewegung können Sie jetzt mit den oben beschriebenen Bewegungselementen spielen und Rhythmus (Zeit), Bewegungsradius (Raum) und Kraft für die Bewegung variieren um herauszufinden, bei welcher Bewegung sich die Faust am schnellsten lockert.

  • Wenn Sie zusätzlich auch Ellenbogen oder Schultergelenk ( = die nächsten Bewegungsebenen) mit nutzen, wird es immer schwieriger, die Faust fest geschlossen zu halten.

Frauen, die insgesamt angespannt wirken, können diese ausschüttelnden Bewegungen effizienter in der Badewanne ausführen, da sie dort ihr Gewicht nicht selbst halten müssen. Erfahrungsgemäß beanspruchen sie im Wasser oft noch weitere Bewegungsebenen mit (z. B. Becken oder Fußgelenke).

Unabhängig davon, welche Ebenen die Frau bewegt, findet der gewünschte Effekt nur statt, wenn die Frau die Bewegungen (in der Kinästhetik spricht man von Transportbewegungen) selbst ausführt. Nur sie selbst kann ihre Spannung über Bewegung kontrollieren. Bei Frauen, denen dies sehr schwer fällt, kann die Hebamme den Impuls zunächst übernehmen (in einer gleichzeitig-gemeinsamen Interaktion beginnen). Sie muss sich dann aber immer mehr zurücknehmen (evtl. über eine Schritt-nach-Schritt-Interaktion) und langsam dazu übergehen, dass die Frau die Bewegung immer einseitiger macht.

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Einstellungsanomalie

Wann immer eine ungünstige kindliche Position der Grund für einen protrahierten Verlauf ist, ist es wichtig, das Kind gezielt zu der notwendigen Bewegung anzuleiten.

Auch hier ist die Berücksichtigung der Bewegungselemente und der Interaktionsform sehr wichtig. Kinder haben intrauterin eine sehr große Bewegungserfahrung. Man sollte versuchen, in eine gleichzeitig- gemeinsame Interaktionsform zu kommen.

Um ein Kind intrauterin zu einer bestimmten Bewegung zu motivieren ist es hilfreich,

  • das Raumangebot an die einzelnen notwendigen Bewegungsschritte anzupassen. Über eine seitliche Kippbewegung des Beckens verkleinert sich der Raum auf einer Seite, während er sich auf der anderen vergrößert.

  • die Zeit, die das Kind für die Bewegung benötigt, zu berücksichtigen. Auch für intrauterine Bewegungen brauchen Kinder einen Impuls über eine längere Zeit.

  • auszuprobieren, mit wie wenig Kraft das Kind der Bewegung folgen kann. Kinder haben intrauterin eine große Erfahrung mit ganz vorsichtigen Berührungen ihrer Eltern gesammelt. Sie reagieren z. B. meist prompt auf die sanft aufgelegte Hand ihres werdenden Vaters.

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Angst der Gebärenden

Aus dem von Read beschriebenen Angst-Spannungs-Schmerz-Kreislauf geht hervor, dass Angst das Schmerzempfinden erhöht.

Angst ist eine Folge von mangelndem Vertrauen. Deshalb besteht eine effektive Maßnahme gegen Angst darin, das Selbstvertrauen der Frau zu fördern.

In dem Zusammenhang ist die Erkenntnis wichtig, dass 80 % jeder Kommunikation nonverbal stattfindet. Sowohl über die verbale Anleitung als auch in dem nonverbalen Handeln müssen alle Anwesenden der Gebärenden vermitteln, dass sie aus eigener Kraft gebären kann. Eventuell braucht sie in dieser Phase Unterstützung. Meistens sind klare Impulse oder Anleitungen mit einer konkreten Absicht hilfreicher als das so häufige Versprechen: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen mal schnell.”

Fallbeispiel:

Eine Gebärende äußert in der Übergangsphase immer wieder die panisch klingende Sorge, es nicht zu schaffen und keine Kraft mehr zu haben. Eine – grundlegend falsche – Antwort der Hebamme wäre: „Sie schaffen das sicher, kommen Sie, ich helfe Ihnen jetzt erst mal im Bett nach oben zu rutschen und drehe Sie dann auf die andere Seite.” Während sie das sagt, übernimmt sie die Bewegungen, die die Frau gerade tun soll…

Nonverbal und verbal vermittelt die Hebamme der Frau, dass sie nicht in der Lage zu sein scheint, kleine Bewegungen im Bett selbst auszuführen. Wahrscheinlich braucht die Frau nur sehr viel mehr Zeit und eine kleinere Schritt-nach-Schritt-Anleitung (z. B. „Nach der nächsten Wehe rutschen Sie erstmal nach oben und dann später drehen Sie sich bitte auf die Seite.”)

Mit der Erkenntnis, dass Menschen über Alltagsbewegungen effektiv ihre Spannung regulieren können, könnte die Hebamme der Frau Zeit lassen, dass sie sich selbst in eine andere Position bewegt. Sie würde damit zusätzlich auch nonverbal vermitteln, dass sie der Frau zutraut, alles zu schaffen, was diese Geburt braucht. Und alle einfachen Alltagsbewegungen („low effort-activities”) helfen der Frau, ihre Körperspannung direkt zu reduzieren und damit den Schmerz zu lindern.

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Geburt des Kindes

In der Austreibungsphase ist es besonders wichtig, dass die Gebärende ihre Kraft optimal einsetzt. Hier kann folgende Kernaussage aus einem anderen Kinästhetik-Konzept, dem Konzept Anstrengung, hilfreich sein:

Je genauer die Richtung einer Bewegung, desto niedriger ist die erforderliche Anstrengung.

Wenn Frauen sich an einem Tuch festhalten, das über dem Kreißbett befestigt ist, geht die Richtung ihrer Anstrengung deckenwärts. Um in Richtung Beckenboden mitschieben zu können, ist es hilfreicher, wenn die Frau die Möglichkeit hat, sich mit ihren Armen in Richtung ihrer Füße zu ziehen.

Das Konzept Anstrengung beschäftigt sich mit Ziehen und Drücken als den beiden Formen von Anstrengung, die der Mensch für jede Bewegung nutzt.

Ein Aspekt des Ziehens im Hinblick auf die Gebärpositionen ist: Bei Zug läuft die Bewegung zweier Gewichte weg von ihrem Kontaktpunkt. Arme und Brustkorb eignen sich am besten zum Ziehen.

Bei einer halbsitzenden Gebärposition bedeutet dies z. B., dass die Frau ihr Gewicht weg von der Hebamme zieht (ähnlich wie beim Tauziehen). Dadurch bringt sie ihr Gewicht auf ihre Rückseite (also die Wirbelsäule, über die Gewicht gut abgegeben werden kann), so dass die Bauchmuskeln zum Mitschieben frei sind.

Beim Drücken läuft die Bewegung zweier Gewichte hin zu einem Kontaktpunkt. Hier sind Becken und Beine besonders gut geeignet. Eine Unterstützung der Füße (auf ≥ 45° in Bezug auf das Bett) hilft, das nötige Spannungsnetz aufzubauen, um die Richtung des Drucks in Richtung Steißbein bzw. nach unten zu leiten (Abb. [1]). Auch hier geht die Anstrengung von der Gebärenden aus, die Hebamme reagiert lediglich proportional.

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Sobald die Gebärende spürt, dass es ihr gelingt, das Köpfchen tiefertreten zu lassen, wird sie ihre Geburtsarbeit als effizient erleben. Diese Motivation überdeckt häufig die Angst, das Gefühl der Kraftlosigkeit und den Schmerz.

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Fazit

Die Art und Weise, wie Frauen mit dem Schmerz während der Geburt umgehen können, gehört zu den zentralen Faktoren, wie sie die Geburt erleben. Die weitreichenden Auswirkungen des Geburtserlebnisses auf die neue Familie und auf die Biografie der Mutter und des Kindes erleben Hebammen täglich im fachlichen und häufig auch im persönlichen Alltag.

Jede Geburt stellt uns vor die Herausforderung, die Gebärende darin zu unterstützen, den Schmerz zu meistern. Dabei spielt die eigene Bewegung eine zentrale Rolle.

Je klarer das Verständnis von Bewegung im eigenen Körper ist, desto individueller kann die Hebamme bei Bedarf gezielte Bewegungsimpulse geben. So gehört es zur Geburtsbegleitung, den Frauen Werkzeuge anzubieten, wie sie den Geburtsschmerz annehmen und beherrschen können. Ein Motto könnte sein: „Was du beherrschst, kann dich nicht beherrschen!”

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Literatur

  • 1 Hatch F, Maietta L. Kinaesthetics. München: Urban & Fischer; 2003
  • 2 DHV (Hrsg.).. Geburtsarbeit – Hebammenwissen zur Unterstützung der physiologischen Geburt. Hippokrates Verlag; 2010
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Anschrift der Autorin:

Andrea Mora

Klinikum Stuttgart

Frauenklinik

Prießnitzweg 24

70374 Stuttgart

Email: andrea.ehl@googlemail.com

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Literatur

  • 1 Hatch F, Maietta L. Kinaesthetics. München: Urban & Fischer; 2003
  • 2 DHV (Hrsg.).. Geburtsarbeit – Hebammenwissen zur Unterstützung der physiologischen Geburt. Hippokrates Verlag; 2010
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Anschrift der Autorin:

Andrea Mora

Klinikum Stuttgart

Frauenklinik

Prießnitzweg 24

70374 Stuttgart

Email: andrea.ehl@googlemail.com

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Tab.  1 Zusammenhänge zwischen den Bewegungselementen Zeit, Raum und Anstrengung.

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