Zusammenfassung
Fragestellung: Der geburtshilfliche Alltag ist in vielen Kliniken von hohen Interventionsraten geprägt.
Geburtshilfliche Expertinnen müssen Entscheidungen treffen und diese verantworten.
Beeinflusst wird dieser Prozess durch unterschiedliche Faktoren. Diese Arbeit geht
der Frage nach, welche Entscheidungskriterien Ärztinnen[1] nutzen, um sich für oder gegen die Durchführung geburtshilflicher Interventionen
(Sectio caesarea, Episiotomie, Geburtseinleitung, CTG-Überwachung) zu entscheiden.
Zudem wird untersucht, ob sich diese Kriterien im zeitlichen Verlauf verändern. Material und Methodik: Längsschnittliches qualitatives Design mit 2 Erhebungszeitpunkten. In 2 Kliniken
wurden geburtshilflich tätige Ärztinnen (Assistenz-, Ober- und Chefärztinnen) befragt.
Zu T1 wurden insgesamt n = 26 und zu T2 n = 23 leitfadengestützte problemzentrierte
Interviews nach Witzel unter Berücksichtigung der Experteninterviews nach Meuser und
Nagel durchgeführt. Ergebnisse: Es konnten 20 Kategorien zur Entscheidung für oder gegen die Durchführung geburtshilflicher
Interventionen identifiziert werden. Die Ergebnisse deuten auf eine Dominanz der medizinischen
Indikationen im Entscheidungsprozess hin, wobei häufig eine enge Anlehnung an abteilungsinterne
Leitlinien erfolgt. Zudem werden neben mehreren strukturellen und subjektiven Faktoren
insbesondere die Berufserfahrung der Expertinnen und die Berücksichtigung maternaler
Wünsche als ausschlaggebende Entscheidungskriterien angeführt. Im zeitlichen Verlauf
scheinen die meisten Entscheidungskriterien stabil zu sein. Veränderungen lassen sich
jedoch mit wachsender Berufserfahrung erkennen. Schlussfolgerung: Geburtshilfliche Entscheidungen sind multifaktoriell und unterliegen medizinischen
und nicht medizinischen Einflüssen mit einer gewissen zeitlichen Stabilität. Um den
individuellen Bedingungen geburtshilflicher Situationen gerecht zu werden, müssen
die getroffenen Entscheidungen stets evaluiert werden. Eine hohe Reflexionsfähigkeit
der Expertinnen ist damit unabdingbar, auch für den eigenen Lernprozess und die hohen
Anforderungen des Berufs.
Abstract
Purpose: Hospital birth is strongly medically controlled and has high intervention rates.
The purpose of this project was to explore the decision criteria applied by obstetricians
when carrying out obstetrical interventions such as Caesarean sections, episiotomies,
induction of labour and cardiotocography. Furthermore, the study investigated changes
in decision-making processes. Material and Methods: The study had a longitudinal qualitative design. Semi-structured problem-centred
interviews according to Witzel, which additionally took the approach of Meuser and
Nagel for expert interviews into account, were conducted with obstetricians (T1: n = 26;
T2: n = 23) at two hospitals. Results: Following Mayring, the evaluation of the interviews demonstrated a variety of categories
which contributed to decision-making in obstetrical interventions. A total of twenty
categories were identified. Analysis showed that medical indications predominated
in the decision-making process and, additionally, that there was a strong tendency
to rely on intra-departmental guidelines. Professional experience and maternal requests
did affect decision-making in addition to other subjective and structural components.
Most criteria did not change over time. Only growing professional experience led to
changes in decision-making. Conclusion: Decision-making in obstetrics is a multifactorial process. Medical and non-medical
criteria are used. The results indicate that decisions for or against interventions
are always closely related to the professional experience of the obstetricians. Experts
need to evaluate how decisions on individual obstetric situations occurring during
birth are taken. An ability to reflect on their decision-making processes is therefore
indispensable for obstetricians.
Schlüsselwörter
Interventionen - ärztliches Handeln - Entscheidungskriterien - Leitlinien - maternale
Wünsche
Key words
obstetrical interventions - decision‐making criteria - guidelines - maternal request
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1 Zur Erleichterung des Leseflusses wird im Text die weibliche Form verwendet. Gleichwohl
gelten beide Geschlechter als eingeschlossen.
2 Die hier dargestellte Studie ist Teil des Verbundprojekts „Frauen- und familienorientierte
geburtshilfliche Versorgungskonzepte: Gesundheitsförderung im Geburtsprozess – Implementierung
eines Modellprojektes Hebammenkreißsaal“, im Rahmen dessen die Implementierung eines
Hebammenkreißsaals wissenschaftlich begleitet wurde. Bei der Referenzklinik handelte
es sich somit um eine geburtshilfliche Abteilung mit implementiertem Hebammenkreißsaal.
In der Kontrollklinik gab es diesen nicht.
Prof. Dr. Claudia Hellmers
Fachhochschule Osnabrück
Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
Postfach 1940
49009 Osnabrück
Email: c.hellmers@fh-osnabrueck.de