Der Klinikarzt 2010; 39(3): 116-117
DOI: 10.1055/s-0030-1253152
Medizin & Management

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Weiterhin Lücken in der "Kinderapotheke"

Kinderarzneimittelverordnung soll Abhilfe schaffen
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Petra Spielberg

Fachjournalistin für Gesundheits- und Sozialpolitik

Köln/Brüssel

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Publication Date:
29 March 2010 (online)

 
Table of Contents

Noch immer mangelt es bei vielen Medikamenten an kindgerechten Darreichungsformen und Dosierungsempfehlungen. Denn es genügt nicht, die Erwachsenendosis von Arzneimitteln für Minderjährige herunter zu rechnen. Die Ende Januar 2007 in Kraft getretene EU-Kinderarzneimittelverordnung, die Pharmaunternehmen Vorgaben zur klinischen Erprobung von Arzneiwirkstoffen für die pädiatrische Anwendung macht, soll hier Abhilfe schaffen, damit auch Kinder künftig grundsätzlich optimal behandelt werden können. Die Studien und Zulassungen brauchen jedoch Zeit. Noch sind nicht allzu viele neue Medikamente für Kinder auf dem Markt.

Kinder sollen in gleicher Weise am medizinischen Fortschritt teilhaben, wie Erwachsene. Das ist das Ziel einer europäischen Verordnung, die forschende Pharmaunternehmen seit gut 3 Jahren dazu verpflichtet, innovative Produkte auch auf ihre Wirkungen und Nebenwirkungen hin an Minderjährigen zu testen.

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Tab. 1 Hauptindikationsgebiete für pädiatrische Studien.

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Mehr als die Hälfte aller Arzneimittel nicht für Kinder zugelassen

Damit will die Europäische Union zu einer Verbesserung der Arzneimittelsicherheit in der Pädiatrie beitragen. Über 20 % der EU-Bevölkerung - das entspricht etwa 100 Millionen Bürgern - sind jünger als 16 Jahre. Einer Studie der Europäischen Kommission zufolge sind jedoch mehr als die Hälfte aller Arzneimittel in Europa nicht für Kinder zugelassen; bei Präparaten für die Behandlung neugeborener Intensivpatienten sind es sogar bis zu 90 %.

Ärzte können den kleinen Patienten die Arzneimittel somit nur im Off-label-use verordnen. Grund hierfür ist, dass sich klinische Studien an Kindern für die Industrie oft nicht rechnen. Der Aufwand für die vorgeschriebenen 5 Altersgruppen ist enorm und die Zahl der Probanden zum Teil gering.

"Eine Verabreichung von nicht an Kindern geprüften Medikamenten ist allerdings problematisch, da sich Dosis und Wirkung der Produkte bei Minderjährigen anders verhalten können als bei Erwachsenen", so Prof. Fred Zepp, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Das erhöhe die Gefahr von Über- und Unterdosierungen sowie Nebenwirkungen.

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Off-label-use erhöht Gefahr von Über- und Unterdosierungen

Um Minderjährigen künftig eine optimale Behandlung zu ermöglichen, trat im Januar 2007 die EU-Verordnung zu Kinderarzneimitteln in Kraft. Sie verlangt, dass forschende Pharmahersteller pädiatrische Studien vorlegen müssen, wenn sie einen Wirkstoff neu zulassen oder die Indikation eines patentgeschützten Produktes ändern wollen. Ein um 6 Monate verlängerter Patentschutz für die jeweiligen Präparate soll den finanziellen Mehraufwand für die Entwicklung kompensieren.

Ausgenommen von der Regelung sind Generika, vergleichbare biologische Medikamente, homöopathische und traditionelle pflanzliche Präparate, Arzneimittel mit mindestens zehnjähriger medizinischer Verwendung in der EU sowie Medikamente, deren Anwendung bei Kindern nicht sinnvoll ist, wie Mittel gegen Alzheimer, Brustkrebs, Parkinson oder Wechseljahresbeschwerden.

Holt ein Unternehmen die Erprobung an Kindern für ein patentfreies Medikament jedoch freiwillig nach, darf es dieses 10 Jahre lang exklusiv für Minderjährige anbieten. Für einige klinische Studien mit Präparaten, deren Marktexklusivität abgelaufen ist, erhält die Industrie ferner Zuschüsse aus dem Forschungshaushalt der EU.

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PDCO nimmt Einfluss auf Entwicklung von Arzneimitteln

Über die Anträge, so genannte Pädiatric Investigation Plans (PIP), die die Grundlage für die Entwicklung und Zulassung der Medikamente für Minderjährige bilden, entscheidet ein Ausschuss (Paediatric Committee, PDCO) bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA in London. Ihm gehören neben Mitarbeitern der EMA und der EU-Mitgliedsländer auch Fachärzte und Vertreter von Patientenorganisationen an.

Der PDCO prüft die Anträge jedoch nicht nur, sondern teilt den Unternehmen auch mit, welche Altersgruppen zu berücksichtigen sind und welche zusätzlichen Darreichungsformen entwickelt werden müssen. Es sei das erste Mal in der europäischen Arzneimittelgesetzgebung, dass eine Behörde derart Einfluss auf die Entwicklung von Arzneimitteln nehmen kann, sagt Dr. Birka Lehmann, Leiterin der pädiatrischen Abteilung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

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Bislang kein Paradigmenwechsel in der Pädiatrie

Die Verordnung hat bislang allerdings zu keinem Paradigmenwechsel in der Pädiatrie geführt. So ist nach Aussage von Dr. Thomas Sudhop, Leiter der Abteilung Wissenschaftlicher Service beim BfArM, die Zahl der klinischen Studien mit Kindern und Jugendlichen in Deutschland zwischen 2006 und 2009 weitgehend konstant geblieben.

Auch die DGKJ teilt mit, dass pro Jahr weiterhin nur etwa 25 Medikamente für Kinderindikationen zugelassen werden. Zepp rechnet frühestens ab 2013 damit, dass Kinder und Jugendliche von der EU-Verordnung profitieren werden und der Off-label-use bei der Behandlung von Minderjährigen nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme sein wird.

Bei der EMA sind gleichwohl in den letzten 3 Jahren knapp 700 PIP von Herstellern aus allen EU-Staaten nach den neuen EU-Vorschriften eingegangen. "Bei 350 ist der Prüfplan für klinische Studien genehmigt worden", so Lehmann.

In einem Drittel der Fälle hat der EMA-Ausschuss die Hersteller von der Pflicht freigestellt, pädiatrische Studien durchzuführen, sei es weil das Arzneimittel gegenüber bestehenden pädiatrischen Behandlungen keinen signifikanten therapeutischen Nutzen hat, weil seine Anwendung bei Minderjährigen bedenklich sein könnte oder die zu behandelnde Krankheit nur bei Erwachsenen auftritt. In den übrigen 221 Fällen sind Studien erforderlich, wenngleich sich die meisten noch in der Planungsphase befinden.

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VFA rechnet mit Verdreifachung der Zulassungen

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) begründet dies damit, dass die Studien an Minderjährigen in der Regel erst beginnen, wenn für die betreffenden Medikamente die Zulassungsstudien mit Erwachsenen abgeschlossen sind. Diese dauerten aber noch an. Der VFA geht allerdings davon aus, dass sich die Zahl der jährlichen pädiatrischen Zulassungen für neue Präparate aufgrund der EU-Verordnung in einigen Jahren verdreifachen wird.

Zwei Drittel der bei der EMA eingereichten Anträge betreffen patentgeschützte Arzneimittel, für die bislang keinerlei Zulassung erfolgt ist - also auch nicht für Erwachsene. Weitere 31 % gelten verschreibungspflichtigen Medikamenten, die bereits auf dem Markt sind, die nun aber für neue Anwendungsgebiete oder in neuen Darreichungsformen in der Pädiatrie erprobt werden sollen. Der Rest (etwa 3 %) entfällt auf patentfreie Arzneimittel. Hauptindikationsgebiete sind die Onkologie, Allergologie, Endokrinologie sowie Infektionskrankheiten und Herzkreislauferkrankungen.

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Probleme bei praktischer Umsetzung der EU-Vorgaben

Bei der praktischen Umsetzung der EU-Vorgaben scheint es allerdings ab und an noch Probleme zu geben. Dr. Peter-Andreas Löschmann, Medical Director der Wyeth Pharma GmbH, bemängelt beispielsweise, dass die Prüfverfahren durch den pädiatrischen Ausschuss nicht alle nach denselben Grundsätzen erfolgten. Auch sei es aufgrund der geringen Inzidenz mancher Erkrankungen mitunter schwierig, der jeweils erforderlichen Studiengröße gerecht zu werden. Aus Sicht zahlreicher Unternehmen sei es zudem notwendig, die Anforderungen der Ethik-Kommissionen zu vereinheitlichen und Leitlinien für die Belastungsgrenzen von Kindern und Jugendlichen in klinischen Studien zu definieren.

Deutsche Kinder- und Jugendmediziner wiederum kritisieren, dass der pädiatrische Sachverstand bisweilen nicht ausreichend berücksichtigt werde. Prof. Burkhard Tönshoff vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin in Heidelberg etwa fordert, Pädiater bereits bei der Planung und Erstellung der Prüfpläne stärker zu beteiligen. Dabei gelte es, Daten von Erwachsenen zur Wirksamkeit und Sicherheit aus Phase-III-Studien sowie präklinischen Studien an juvenilen Tieren wann immer möglich zu berücksichtigen, um unnötige Untersuchungen an Kindern zu vermeiden.

Die unzureichende Einbindung deutscher Kinderkliniken und Abteilungen an den Studien bemängelt auch Zepp. Nach einer Umfrage der DGKJ vom vergangenen Jahr waren lediglich 19 von 380 pädiatrischen Kliniken an der Erstellung von PIPs beziehungsweise an klinischen Studien mit Minderjährigen beteiligt.

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Verlässlich getragenes, nationales Studien-Netzwerk gefordert

Zepp fordert ein von der Politik, der Industrie und den Krankenkassen verlässlich getragenes, nationales Studien-Netzwerk, um die Arzneimittelsicherheit für Kinder und Jugendliche in Deutschland und Europa dauerhaft und langfristig zu verbessern. "Ein solches Netzwerk sollte 18 bis 24 klinische Studienzentren umfassen, da sonst für viele Fragestellungen die Fallzahl in Studien nicht erreicht werden kann, um für Kinder repräsentative Daten zu erheben", so Zepp. Den finanziellen Aufwand für ein solches Netzwerk beziffert der DGKJ-Präsident auf 4 Millionen Euro pro Jahr. "Das entspricht einem Betrag von 30 Cent pro Jahr und Kind."

Andere europäische Länder, wie Frankreich, Großbritannien oder die Niederlande seien hier bereits besser aufgestellt. In Großbritannien beispielsweise werde eine vergleichbare Infrastruktur mit 5 Millionen Euro jährlich gefördert.

"Deutschland sollte besser vorbereitet sein, damit qualitativ hochwertige Arzneimittelstudien an Kindern und Jugendlichen auch hierzulande durchgeführt werden können und der Standort Deutschland für Investoren attraktiv bleibt", mahnt Zepp.

Vorbild für das Studiennetzwerk könnte das 2002 gegründete und 6 Universitätsstandorte umfassende PAED-Net sein, das nach Aussage von Zepp seit 2008 allerdings keine Fördergelder vom Bundesforschungsministerium mehr erhält.

Von einer professionellen Infrastruktur aus Forschung, Kinderkliniken und niedergelassenen Pädiatern erhoffen sich die Kinder- und Jugendmediziner auch, Arzneimittelprüfungen für Kinder aller Altersklassen flächendeckend umsetzen zu können. Denn Säuglinge und Kleinkinder werden aus Sicht der DGKJ derzeit noch nicht ausreichend bei der Arzneimittelentwicklung berücksichtigt.

Prof. Wolfgang Rascher von der DGKJ appelliert in diesem Zusammenhang an die Eltern, ihre Kinder auch an einer Studie teilnehmen zu lassen, um ausreichend Daten für die Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln zu erhalten.

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