ergopraxis 2009; 02(7/08): 14
DOI: 10.1055/s-0030-1253257
wissenschaft

Wissenschaft erklärt: Fallberichte und Fallserien – Jeder fängt mal klein an

Jan Mehrholz
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Publication Date:
26 April 2010 (online)

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Sie besetzen zwar die niedrigste Stufe der wissenschaftlichen Hierarchie, sind aber für die Forschung dennoch wichtig. Die Rede ist von Fallberichten und Fallserien. Sie regen oftmals große Studien an und ermöglichen es einer Berufsgruppe, sich nach außen darzustellen.

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Prof. Dr. Jan Mehrholz, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Europäischen Medizinischen Akademie in Kreischa und in Gera Professor für Therapiewissenschaften

Fallberichte und Fallserien gehören zur Gruppe der deskriptiven, also beschreibenden Untersuchungen [1]. Obwohl sie aufgrund ihrer limitierten Beweiskraft die niedrigste Stufe der wissenschaftlichen Hierarchie ausmachen, sind sie oftmals ein erster Streifzug, um die „erste Zehe ins kalte wissenschaftliche Wasser zu tauchen”. Getreu dem Motto „Die Wahrheit ist irgendwo da draußen” aus der Fernsehserie Akte X besteht der Sinn von Fallberichten und Fallserien im Erkenntnisprozess einer neuen Krankheit oder einer innovativen Therapie.

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Der erste Schritt in der Wissenschaft

In der Epidemiologie sind Fallberichte oft der Ausgangspunkt, um ungewöhnliche Befunde an einem Patienten zu beobachten. Sie bilden damit den ersten Schritt, um unbekannte Krankheiten zu identifizieren und zu erforschen [2, 3]. Ein Beispiel aus dem Jahr 1980 ist die Beobachtung des Kleinpilzes „Pneumocystis carinii” unter jungen homosexuellen Männern in den USA. Diese Fallserien führten zum späteren Beschreiben und zur Aufklärung der bis dahin unbekannten Viruskrankheit HIV und dem Aquired Immunodeficiency Syndrome (AIDS). Vor wenigen Wochen wurde ein weltweit erstes Fallbeispiel publiziert, in dem es um ein Kind geht, das nach einer Stammzelltherapie an schweren Nebenwirkungen litt.

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Fallberichte sind für die Ergotherapie wichtig

Fallbeispiele werden im Englischen „case reports” genannt und spielen auch in der Ergotherapie eine große Rolle. Erste Beschreibungen von Alltagstherapie mit einzelnen Patienten nach einem Schlaganfall führten zu großen klinischen Wirksamkeitsstudien [4]. Durch den hohen Bekanntheits- und Evidenzgrad weiß man nun, dass Ergotherapie die Alltagskompetenz nach einem Schlaganfall effektiv verbessern kann.

Fallberichte sind aber auch für das inhaltliche Darstellen einer Berufsgruppe notwendig. Ergotherapeuten können mithilfe von Fallserien explizit beschreiben, was Ergotherapie ist und was sie ausmacht.

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Der Transfer ist schwierig

Der gravierende Nachteil beim Beobachten einzelner Patienten ist, dass Erkenntnisse über Zusammenhänge keinesfalls gegeben sind [1]. Das heißt: Man kann die Ergebnisse nicht problemlos auf die Population beziehen und somit verallgemeinern. Man kann lediglich Hypothesen aufstellen, welche man später rigoroser erforscht, zum Beispiel in analytischen oder experimentellen Studien.

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Fallserien verbinden die klinische und die praktische Forschung

Zusammengefasst besteht der größte Vorteil von Fallberichten darin, dass sie Erkenntnisse für das Auftreten von neuen Krankheiten liefern und innovative Therapiemaßnahmen beschreiben. Außerdem können Fallbeispiele dazu beitragen, das professionelle Handeln der Ergotherapie darzustellen und nachzuvollziehen. Trotz der geringen Evidenz sind Fallberichte und Fallserien letztlich eine Brücke zwischen der klinischen und der theoretischen Forschung. Denn: Beschreiben Ergotherapeuten ihr tägliches Handeln nicht bis ins Detail, ist das Forschen und Weiterentwickeln sowie die Akzeptanz und Anerkennung durch andere Professionen letztlich nicht denkbar.

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