ergopraxis 2009; 2(5): 16
DOI: 10.1055/s-0030-1253719
wissenschaft

Wissenschaft erklärt: (Nicht)Experimentelle Studien – Effekte überprüfen durch Gruppenvergleiche

Jan Mehrholz
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Publication Date:
05 May 2010 (online)

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Jan Mehrholz erläutert den Unterschied zwischen experimentellen und nichtexperimentellen Studien, warum sie Gruppen vergleichen und welche Effekte man mit ihrer Hilfe aufzeigen kann.

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Prof. Dr. Jan Mehrholz, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Europäischen Medizinischen Akademie in Kreischa und in Gera Professor für Therapiewissenschaften

Analytische Studien gehören zur Gruppe der nichtexperimentellen und beobachtenden Studien. Sie beziehen im Gegensatz zu deskriptiven Studien (ergopraxis 4/09, „Wissenschaft erklärt: Deskriptive Studien”) immer eine Vergleichs- oder Kontrollgruppe mit ein. Man unterscheidet die Fall-Kontroll- und die Kohortenstudie. Synonyme sind: Follow-Up-, Longitudinal-, Inzidenz- und Längsschnittstudie. Eine Kohortenstudie ist meist prospektiv, also vorausschauend. Forscher beobachten eine oder mehrere größere Gruppen von Nichterkrankten, die einem bestimmten Risiko wie langen Arbeitszeiten oder Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind, über einen längeren Zeitraum. Während der Studienzeit zeichnen sie dann das Auftreten des erwarteten Effekts wie zum Beispiel Krankheit oder Beschwerden auf [1].

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Kohortenstudien sind fehleranfällig und aufwendig

Ein Vorteil von Kohortenstudien besteht darin, dass man durch sie Zeit-Wirkungs-Beziehungen begründen kann [2]. Allerdings sind die Kontrollgruppen oft schwer zu identifizieren. Denn: Störfaktoren wie eine geringe Allgemeinbildung oder das soziale Umfeld können das Ergebnis verzerren (engl.: bias). Besonders für seltene Erkrankungen sind große Gruppen oder lange Nachuntersuchungszeiträume erforderlich. Kohortenstudien sind somit aufwendig, und die Stabilität des Untersucherteams über die Zeit ist oft ein Problem. Manchmal entsteht der Freiwilligkeitsbias durch den Verlust an Probanden und Verweigerern.

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Fall-Kontroll-Studien stehen besser da

Fall-Kontroll-Studien hingegen sind schnell durchführbar und kostengünstig, da man für die Untersuchung weniger Personen benötigt als in Kohortenstudien. Allerdings sind sie sehr anfällig für Verzerrungen wie Selektionsbias, da die Forscher den Studienfaktor – zum Beispiel Rauchen – erst nach dem Auftreten der Krankheit erheben [3]. Eine Fall-Kontroll-Studie ist ein typisches Beispiel für ein retrospektives oder zurückblickendes Studiendesign. Nachdem die Erkrankung aufgetreten ist, teilen die Forscher die Probanden in Fälle (Erkrankte) und Kontrollen (Nichterkrankte) ein. Wissenschaftler erfassten so zum Beispiel bei Patienten mit Lungenkrebs (Fälle) den Anteil, der zuvor über viele Jahre geraucht hatte [3]. Anschließend fanden sie bei den Menschen ohne Lungenkrebserkrankung (Kontrollen) heraus, wie hoch der Raucheranteil (Exposition) unter ihnen war. Der deutliche Unterschied von Fällen und Kontrollen ergab dadurch Hinweise, dass Rauchen eine der Hauptursachen von Lungenkrebs ist.

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Randomisiert kontrollierte Studien experimentieren mit Probanden

Zu den Experimentalstudien zählen randomisiert kontrollierte Studien (RCT) und quasikontrollierte Studien [4]. Bei einer RCT teilen Forscher die Probanden nach dem Zufallsprinzip in Gruppen ein. Eine Experimentalgruppe erhält zum Beispiel eine neue Therapie, die Kontrollgruppe hingegen eine konventionelle [5]. Als historisches Beispiel gilt das RCT unter der Leitung von Sir Austin Bradford Hill von 1950 [6]. Patienten mit Tuberkulose bekamen per Zufallsprinzip entweder Streptomycin und Bettruhe oder nur Bettruhe zugeteilt. Die Auswertung ergab die Wirksamkeit des damals extrem teuren Streptomycins zur Behandlung der Tuberkulose [6].

RCTs benötigen viele Ressourcen in Form von Zeit, Geld und Personal. Darüber hinaus bergen sie den Freiwilligkeitsbias: Manche Patienten würden lieber in der Experimentalgruppe oder gar nicht mitmachen. Um einen verfälschenden Einfluss auszuschalten, kann man die Gruppenzuteilung geheim halten, indem man die Probanden, Prüfer und Datenauswerter verblindet. Notwendigkeit und Einsetzbarkeit von RCTs werden aufgrund ethischer Bedenken gegenüber Experimenten am Menschen immer wieder in Frage gestellt [7]. RCTs sind kein automatisches Gütesiegel. Jeder Anwender muss die Übertragbarkeit von Einzelstudien auf den Praxisalltag und auf individuelle Patienten kritisch reflektieren.

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Studiendesign muss zur Frage passen

Cross-over-RTCs benötigen weniger Patientenzahlen als klassische RCTs. Sie sind für chronische und weniger für akute Krankheitsbilder geeignet. Dieses Design erfordert ein besonderes statistisches Können [7]. Ein Beispiel dazu ist eine Studie zur Wirksamkeit einer Behandlung beim Bettnässen. Als Zielkriterium für die Beurteilung der Wirksamkeit diente hier die Anzahl „trockener” Nächte [8].

Zusammenfassend gibt es kein perfektes Studiendesign, sondern vielmehr für jede Fragestellung und Ausgangssituation ein mehr oder weniger adäquates Design.

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