Bis heute gilt es in der Medizin als Zeichen von Bildung und wissenschaftlicher Autorität,
wenn man lateinische Sprüche in den Text eines Fachartikels einstreut. „Primum non nocere” („zuerst einmal nicht schaden”) ist z. B. solch ein Spruch, der sich in letzter Zeit
zunehmender Beliebtheit erfreut (Abb. [1]). Über seinen Sinn scheint sich indes kaum jemand im Klaren zu sein.
Abb. 1 Anzahl der Veröffentlichungen mit Nennung von „primum non nocere” im Laufe der letzten 10 Jahre (Daten: PubMed).
Schon die hippokratischen Schriften enthalten Empfehlungen es zu vermeiden, seinen
Patienten Schaden zuzufügen. Nirgendwo findet sich dort aber die Aussage, dass dies
die erste Pflicht („primum”) des Arztes sei [1]. In der Tat wäre die ärztliche Berufsausübung unmöglich, würde man „primum non nocere” zur Maxime des ärztlichen Handelns machen. Keine Operation, keine Medikamentengabe
und kaum irgendeine andere ärztliche Maßnahme ist frei von potenziell schädigenden
Nebenwirkungen; dies gilt selbst für die bloße Anwesenheit eines Arztes [2] und für die Verabreichung von Placebos [3]. Aus ethischer Sicht ist es von Bedeutung, dass der Nutzen einer ärztlichen Maßnahme
ihren Schaden überwiegt oder dass die Wahrscheinlichkeit größer ist, dem Patienten
mit einer bestimmten Maßnahme zu nützen als ihm damit zu schaden [1]
[4]
[5]. Nicht „primum non nocere” darf daher die Maxime des ärztlichen Handelns sein, sondern „primum prodesse” („zuerst einmal nützen”). Unter Berücksichtigung des Schadens kann man auch den Grundsatz
aufstellen „primum prodesse, secundum non nocere” („zuerst einmal nützen, an zweiter Stelle nicht schaden”).
Wenn nun der Grundsatz „primum non nocere” für die klinische Medizin unbrauchbar ist, gilt er dann nicht wenigstens für die
Präventivmedizin, namentlich für die Infektionsprävention und Hygiene? Dies ist nicht
der Fall. Bei der Schutzimpfung setzen wir gesunde Personen dem Risiko schädigender
Nebenwirkungen aus im Vertrauen, dass statistisch der Nutzen das Risiko überwiegt.
Im Vertrauen auf solch positive Nutzen-Risiko-Bilanzen verabreichen wir eine perioperative
Antibiotikaprophylaxe, entziehen wir beatmeten Patienten die Stressulcus-Prophylaxe
und desinfizieren wir Oberflächen lacrimae quoad profluunt. Auch hier gilt also das Gebot „primum prodesse, secundum non nocere”. Wie verhält es sich aber mit der Aufbereitung chirurgischer Instrumente oder dem
Tragen steriler Schutzkleidung beim Operieren? Gilt hier nicht ausschließlich der
Aspekt des Nicht-Schadens, gilt hier nicht uneingeschränkt „primum non nocere”? Nein, denn auch solche Maßnahmen haben sowohl einen Nutzen- als auch einen Schadensaspekt
und auch hier sind – wie in der klinischen Medizin – Nutzen und Schaden gegeneinander
abzuwägen. Der Nutzen dieser Maßnahmen liegt in der Abwendung von Schäden, z. B. dem
Risiko postoperativer Wundinfektionen. Ihr Schaden liegt dagegen im Verbrauch von
Ressourcen, die in der Krankenversorgung stets limitiert sind und nach Verbrauch nicht
mehr für andere Präventionsmaßnahmen zur Verfügung stehen [6].
Die Relation von Kosten (= Schaden) und Nutzen von Präventionsmaßnahmen wird als „Kosteneffektivität”
bezeichnet. Während sich die Kosten durch einen monetären Betrag charakterisieren
lassen, werden zur Darstellung der Nutzeffekte nicht-monetäre, mit Hilfe klinischer
Studien ermittelte Indexmaße wie qualitätskorrigierte Lebensjahre (Quality-adjusted life years) herangezogen. Aus gesundheitsökonomischer und gesellschaftlicher Sicht sind präventive
Handlungsalternativen mit günstigerer Kosteneffektivität zu bevorzugen [6].
Infektionspräventive Maßnahmen können also nicht nur ineffektiv, sie können sogar
schädlich sein. Da sie aufgrund des Verbrauchs limitierter Ressourcen miteinander
konkurrieren, richtet derjenige einen Schaden für Patienten (ggf. auch für medizinisches
Personal) an, der ineffektive Maßnahmen oder Maßnahmen mit ungünstiger Kosteneffektivität
bevorzugt und dadurch Maßnahmen mit günstigerer Kosteneffektivität verhindert. Dies
soll anhand folgender Beispiele verdeutlicht werden:
-
Hygienepersonal schädigt seine Patienten, wenn es seine Arbeitszeit überwiegend mit
Umgebungsuntersuchungen oder Fragen der Kleiderordnung zubringt und darüber kosteneffektive
Maßnahmen wie die Surveillance nosokomialer Infektionen oder Personalschulungen über
evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen vernachlässigt.
-
Einen Schaden für Mitarbeiter und Patienten bewirkt das Tragen von FFP2-Atemschutzmasken
bei der normalen medizinischen Versorgung von Influenza-Fällen, denn solche Masken
bieten hier keinen effektiveren Schutz als OP-Masken [7], sind aber erheblich teurer.
-
Als patientenschädigend ist zurzeit auch die generelle räumliche Isolierung von MRSA-Patienten
einzustufen, die für den betroffenen Patienten keinen Nutzen, wohl aber Schäden mit
sich bringt [8]. Wirtschaftliche Schäden entstehen daneben durch die Isolierungskosten, während
ein Nutzen selbst für die Mitpatienten nicht ausreichend belegt ist [9].
-
Schäden für die Patienten entstehen durch die Installation kostspieliger OP-Lüftungsanlagen
mit turbulenzarmer Verdrängungsströmung, deren infektionspräventiver Effekt als widerlegt
gilt [10].
In der krankenhaushygienischen Realität ist vieles nicht so klar zu beurteilen wie
in den oben genannten Beispielen und für viele Präventionsmaßnahmen existieren (noch)
keine Kosteneffektivitätsanalysen. Ein reales Problem stellen aber auch Personen und
Institutionen dar, die Maßnahmen entsprechend dem 4. Beispiel fordern (hohe Kosten
bei widerlegter Wirksamkeit). Wer wider besseres Wissen solche Forderungen aufstellt,
muss sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht nur gegen den Grundsatz „primum prodesse” zu verstoßen sondern sogar nach dem Grundsatz „primum nocere” zu verfahren.