Klin Padiatr 2010; 222(5): 282-283
DOI: 10.1055/s-0030-1263151
Gastkommentar
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Können Probiotika bei Frühgeborenen unter 1 500 g schon als Bestandteil der klinischen Routine empfohlen werden?

Should Probiotics Already be Recommended as Standard Clinical Care for Preterm Infants with Birth Weights Below 1 500 g?W. Mihatsch1 , F. Pohlandt2
  • 1Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Diakonie-Klinikum Schwäbisch Hall
  • 2Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin, Ulm
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Publication Date:
30 August 2010 (online)

Wenige andere Interventionen in der Frühgeborenenmedizin sind in den letzten Jahren in so vielen prospektiven, randomisiert kontrollierten Studien überprüft worden wie die prophylaktische Gabe von Probiotika. In dieser Ausgabe der „Klinischen Pädiatrie” gehen F. Guthmann, C. Kluthe und C. Bührer [5] mithilfe einer Metaanalyse der Frage nach, ob Probiotika bei Frühgeborenen unter 1 500 g Bestandteil der klinischen Routine werden sollen. Die Autoren schließen in ihre Analyse 11 Studien mit 2 193 randomisierten Frühgeborenen ein und kommen zu dem Ergebnis, dass Probiotika signifikant die NEC Inzidenz (Bell Stadium ≥2; NNT 25) und die Mortalität (NNT 19) reduzieren. Unter der Annahme, dass eine errechnete NNT sowohl die relative Risikoreduktion als auch das absolute Risiko reflektiert, leiten sie die Empfehlung ab, abhängig von lokaler NEC-Inzidenz und Mortalität Probiotika zu geben.

Die Arbeit wirft viele Fragen auf. Die einfache Bedienbarkeit und freie Verfügbarkeit von Software wie z. B. RevMan der Cochrane Collaboration fordert geradezu auf, Metaanalysen zu erstellen. Wenn es darum geht, Forschungsziele aufzuweisen, erscheint eine Metaanalyse über die unterschiedlichsten Probiotika hinweg gerechtfertigt. Sobald aber Therapieempfehlungen abgeleitet werden, muss kritisch hinterfragt werden, ob die einzelnen untersuchten 9 unterschiedlichen probiotischen Interventionen dieser 11 Arbeiten als gleichwertig erachtet und in einer Metaanalyse zusammengefasst werden können. Unser bisheriges Wissen um die Wirksamkeit und Effekte einzelner probiotischer Präparate spricht dagegen, unterschiedliche Interventionen wie z. B. den Pilz Saccheromyces bulardii [3], LGG [4] [8] oder ein Mischpräparat bestehend aus B. infantis, B. bifidum und S. thermophilus als gleichwertig zu erachten. Fehlende Signifikanz in einem Test auf statistische Heterogenität wie in der vorliegenden Metaanalyse kann grundsätzliche methodische Heterogenität (unterschiedliche Interventionen) nicht beheben.

Ähnliches gilt für den Einsatz von Funnel-Plot-Analysen. Sie sind geeignet, auf Bias hinzuweisen, können aber nicht beweisen, dass kein Bias vorliegt. Der Weg der Autoren, zunächst die Studien zu berücksichtigen, die in alle bisherigen Metaanalysen aufgenommen wurden, ist keine Methode, Bias möglichst zu reduzieren, und führt im Sinne der ursprünglichen Fragestellung nicht weiter. Relevant ist vor allem die methodische Beurteilung jeder einzelnen Arbeit und deren Ergebnis Darstellung. Die Funnel-Plott-Analyse der methodisch hochwertigen Arbeiten folgt nach.

Die Studie mit der bisher größten Anzahl von Frühgeborenen 4 hatte berücksichtigt, dass es eine Zeit dauern könnte, bis ein probiotischer Effekt bei Frühgeborenen eintreten kann. Sämtliche publizierten Ergebnisse beschränken sich auf den Zeitraum mindestens 8 Tage nach Beginn der Probiotika Therapie, im Mittel etwa nach Lebenstag 11. Dabei wurde der Zeitraum von 8 Tagen willkürlich gewählt. Die Ergebnisdarstellung der aktuellen Metaanalyse ist insofern unvollständig und einem relevanten Publikationsbias unterlegen, der einen erheblichen Effekt auf das Gesamtergebnis haben könnte. Es ist unbekannt, wie viele Todesfälle oder Fälle mit NEC vor Erreichen dieses Zeitpunktes eintraten. Diese Arbeit trägt mehr als 25% aller untersuchten Kinder (n=585) zum Gesamtergebnis bei. Auch bei der Arbeit von Bin-Nun 2005 2 kann ein erheblicher Bias nicht ausgeschlossen werden, worauf in der kürzlich von Alfaleh et al. 1 2009 publizierten Metaanalyse ausdrücklich hingewiesen wurde: Änderung des primären Zielkriteriums während der Studie, multiple, statistisch nicht berücksichtigte Zwischenauswertungen, siehe den Hinweis der Autoren im Tabellenteil der Metaanalyse. Die Verblindung ist wahrscheinlich das wichtigste Designmerkmal einer randomisierten Studie, um Bias zu vermeiden. In den beiden zweitgrößten Arbeiten wurden die methodischen Vorteile einer verblindeten computerunterstützten Randomisierung und Allokation, und damit die Möglichkeit Bias zu verhindern, außer Kraft gesetzt 6 7. Der lokale „principal investigator”, also die Person mit dem größten Interesse an der Studie, ist über die Gruppenzuordnung informiert und gibt diese Information persönlich an die Mitarbeiter der Milchküche weiter, die die Studiennahrungen zubereiten. Ein Plazebo gab es nicht. Die Funnel-Plot-Analyse kann hier nicht weiterhelfen, um potenziellen Bias auszuschließen.

Letztendlich muss die methodische Beurteilung der einzelnen Arbeiten bei der Formulierung der therapeutischen Empfehlung mit berücksichtigt werden.

Der klinisch orientierte Leser dürfte vor allem an der Beweiskraft von Untersuchungsergebnissen interessiert sein, die seine ärztlichen Entscheidungen beeinflussen könnten. Die GNPI benutzt für die Graduierung der Beweiskraft einer wissenschaftlichen Arbeit in ihren Leitlinien die Oxford Centre for Evidence-based Medicine Levels of Evidence [9]. Orientiert man sich an der Beurteilung der Arbeiten durch die Autoren und berücksichtigt die o.g. Anmerkungen, wurde nur eine der 11 Studien gut geplant und durchgeführt (Tabelle 1a [3]). Die übrigen 10 randomisierten, in die Metaanalyse eingegangenen Studien haben Mängel in der Planung und/oder Durchführung, u. a. fehlen häufig elementare Merkmale einer gut geplanten Studie wie die Nennung eines a priori primären Zielkriteriums und/oder die Durchführung einer a priori validen Fallzahlberechnung. Deshalb kommt ihnen nur die Beweiskraft 2b zu. Damit können sie der Hypothesengenerierung dienen. Eine Metaanalyse von 2b-Studien kann bestenfalls zur Beweiskraft 2a führen. Die Ergebnisse der Metaanalyse haben deshalb keine konfirmative (1a), sondern nur eine hypothesengenerierende Beweiskraft (2a).

Inwieweit Ergebnisse dieser Metaanalyse auf die eigene Abteilung des Lesers übertragen werden können, ist unklar. So sind z. B. in einer der Studien [7] mehr Kinder vor der Randomisierung verstorben (98 von 580) als später in allen Studien zusammen in den Kontrollgruppen (85 von 964). Der Leser muss berücksichtigen, dass nur eine selektive Gruppe von Kindern jeweils in die Studien aufgenommenen wurde und er nicht davon ausgehen kann, in der eigenen Abteilung bei möglicherweise anderer Risikolage die gleichen positiven Effekte zu sehen.

Folgende Schlussfolgerungen erscheinen uns angesichts der vorgetragenen methodischen Bedenken und damit der Beweiskraft der Arbeiten gerechtfertigt:

Für kein einziges probiotisches Präparat liegen ausreichend Daten für Frühgeborene vor, um es für die klinische Routine mit ausreichender Evidenz (1a) empfehlen zu können. Fast alle Präparate wurden nur in einer Studie untersucht. Zudem haben diese Studien wegen methodischer Mängel nur eine Hypothesen generierende Beweiskraft (2b). Im Falle einer hohen lokalen NEK Inzidenz erscheint eine Gabe von einem der Probiotika (“off label“), die in mindestens einer der publizierten Arbeiten untersucht wurden, ärztlich gerechtfertigt zu sein. Die publizierten Arbeiten gestatten es nicht, ein optimales Präparat mit optimaler Dosis und idealem Therapieschema zu nennen. Die Arbeiten lassen keine auf Evidenz (1a) basierte Entscheidung zu, ob Kombinationspräparate Monopräparaten überlegen sind. Ergebnisse, die mit einem bestimmten Probiotikum generiert wurden, können nicht auf andere Stämme oder Präparate übertragen werden. Die Sicherheit und Wirksamkeit eines jeden Stammes muss separat geprüft werden. Für jedes Präparat gilt, dass die bisherigen Studienergebnisse in wenigstens einer weiteren, ausreichend dimensionierten, randomisiert kontrollierten Studie möglichst mit NEK (Bell Stadium ≥2) oder Mortalität als primärem Zielkriterium bestätigt werden müssen. Vorher kann nicht empfohlen werden, einzelne Probiotika routinemäßig bei Frühgeborenen unter 1 500 g zu geben.

Literatur

  • 1 Alfaleh K, Bassler D. Probiotics for prevention of necrotizing enterocolitis in preterm infants.  Cochrane Database Syst Rev. 2008;  CD005496
  • 2 Bin-Nun A, Bromiker R, Wilschanski M. et al . Oral probiotics prevent necrotizing enterocolitis in very low birth weight neonates.  J Pediatr. 2005;  147 192-196
  • 3 Costalos C, Skouteri V, Gounaris A. et al . Enteral feeding of premature infants with Saccharomyces boulardii.  Early Hum Dev. 2003;  74 89-96
  • 4 Dani C, Biadaioli R, Bertini G. et al . Probiotics feeding in prevention of urinary tract infection, bacterial sepsis and necrotizing enterocolitis in preterm infants. A prospective double-blind study.  Biol Neonate. 2002;  82 103-108
  • 5 Guthmann F, Kluthe C, Bührer C. Probiotika zur Prävention der nekrotisierenden Enterokolitis – eine aktuelle Metaanalyse.  Klin Padiatr. 2010;  222 284-290
  • 6 Lin HC, Su BH, Chen AC. et al . Oral probiotics reduce the incidence and severity of necrotizing enterocolitis in very low birth weight infants.  Pediatrics. 2005;  115 1-4
  • 7 Lin HC, Hsu CH, Chen HL. et al . Oral probiotics prevent necrotizing enterocolitis in very low birth weight preterm infants: a multicenter, randomized, controlled trial.  Pediatrics. 2008;  122 693-700
  • 8 Manzoni P, Mostert M, Leonessa ML. et al . Oral supplementation with Lactobacillus casei subspecies rhamnosus prevents enteric colonization by Candida species in preterm neonates: a randomized study.  Clin Infect Dis. 2006;  42 1735-1742
  • 9 http://www.cebm.net/levels_of_evidence.asp.

Korrespondenzadressen

PD Dr. Walter Mihatsch

Klinik für Kinder- und Jugendmedizin

Diakonie-Klinikum Schwäbisch

Hall gGmbH

Diakoniestraße 10

74523 Schwäbisch Hall

Email: Walter.Mihatsch@diaksha.de

Prof. Dr. Frank Pohlandt

Universitätsklinik für

Kinder- und Jugendmedizin

Eythstraße 24

89075 Ulm

Email: frank.pohlandt@uni-ulm.de

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