PiD - Psychotherapie im Dialog 2010; 11(4): 352-356
DOI: 10.1055/s-0030-1265917
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„… keine Lust, meinem deutschen Therapeuten zu erklären, dass ich kein Pascha bin …”

Ali  Kemal  Gün und Mehmet  Toker im Gespräch mit Wolfgang  Senf
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Publication Date:
02 December 2010 (online)

PiD: Sie sind beide türkischer Herkunft und arbeiten seit langen Jahren in deutschen Einrichtungen. Hat sich in ihrem Arbeitsumfeld etwas verändert in Richtung einer besseren Versorgung von Migranten, konkret von türkischsprechenden Mitbürgern, die hier bei uns sind? Wie ist das, wenn Sie mal 15 Jahre zurückblicken?

Mehmet Toker: Wenn ich so zurückschaue, dann habe ich die Erfahrung gemacht, dass eine Bereitschaft in den Institutionen besteht, sich mit dem Thema von Patienten mit Migrations- oder Zuwanderungshintergrund zu beschäftigen. In den letzten fünf bis sechs Jahren, denke ich, hat das sehr stark zugenommen. Das bedeutet nicht gleichzeitig, dass es zu einer Verbesserung geführt hat. Aber die Institutionen sind viel offener geworden und bieten mehr an. Das Besondere daran: Oft ist es in den Köpfen auf Leitungsebene und entwickelt sich langsam ebenfalls in der Mitarbeiterschaft.

In den Köpfen ist es drin, aber noch nicht überall angekommen in Westfalen-Lippe. Wie sieht das denn in Köln im Rheinland aus, Herr Gün?

Ali Kemal Gün: Als ich vor 18 Jahren angefangen habe, bin ich sehr oft als Dolmetscher in Anspruch genommen worden, bis mein Chef gesagt hat, Herr Gün, Sie sind als Dolmetscher für mich zu teuer. Ich habe dann den enorm großen Bedarf gesehen. Ich bin als Psychologe eingestellt und auch bezahlt worden, aber wenn die Kollegen Probleme hatten mit den Patienten, besonders türkischer Herkunft, dann haben sie mich bei jeder Angelegenheit angerufen, das waren nicht nur die Ärzte und Psychologen, sondern auch die Sozialarbeiter, das Pflegepersonal usw. Bis ich eingesehen habe, dass ich so nur einzelnen Patienten helfen kann und dass die Struktur verändert werden muss, damit wir besser in der Lage sind, alle Patienten zu versorgen. Und nachdem mir das deutlich geworden ist, habe ich meinen Arbeitsinhalt langsam verändert.

Um auf ihre Frage einzugehen: Es hat zu einer deutlichen Verbesserung geführt, zu einer größeren Offenheit bei den Mitarbeitern, einer höheren Bereitschaft des Leitungspersonals, zu einer Sensibilisierung im Landschaftsverband Rheinland allgemein. Wir sind im Moment in der Lage, vielfältiger zu versorgen. Ich möchte da ein Beispiel nennen: Wenn ein chinesischsprachiger Patient morgens um 3 Uhr zu uns kommt, ist es gut möglich, dass er einen Mitarbeiter antreffen kann, der seine Sprache spricht. Die verbesserte Versorgung betrifft alle Migranten, nicht nur die türkischer oder kurdischer Herkunft. Wir haben die Ressourcen in unserer Klinik sichtbar gemacht, und jetzt haben wir 33 Sprachen, die von über 150 Personen, dem Fachpersonal in der Klinik gesprochen werden. Man muss Strukturen verbessern, damit diese an die Bedürfnisse der Migranten angepasst werden.

Also die vorhandenen Ressourcen besser nutzen?

Ali Kemal Gün: Ja, die vorhandenen Ressourcen besser nutzen, dazu kann ich Ihnen viele Beispiele geben, wie es dadurch besser geworden ist. Wenn wir von interkultureller Öffnung reden, dann ist es wichtig, dass dies zunächst von oben gewollt ist. Dies reicht selbstverständlich nicht aus. Es muss auch von unten angenommen und getragen werden. Das erste ist uns relativ gut gelungen, aber das zweite ist noch nicht zufriedenstellend. Wir sind aber auf einem guten Weg. Also für mich ist das Wichtigste, so ist meine Erfahrung, dass erst mal ein Problembewusstsein vorhanden ist und die grundlegende Bereitschaft da ist, etwas zu verändern. Sind wir in einer optimalen Situation? Nein, wir sind am Anfang, aber mit einem deutlichen Verbesserungsschritt im Vergleich zu vor 18 Jahren.

Mehmet Toker: Ja, genau so würde ich das auch sehen. Die Bereitschaft ist eindeutig da. Es sind aber auch personelle Grenzen gesetzt, auch finanzielle. Es ist schwer, jedes Mal die Verwaltung davon zu überzeugen, wenn man die Sprache nicht beherrscht, dass es Sinn macht, einen Dolmetscher einzustellen oder herbeizurufen oder zu therapeutischen Gesprächen hinzuzuziehen. Und dann den Krankenkassen dies noch mal verständlich zu machen, dass man mit Dolmetschern arbeiten muss. Das alles bringt Kosten mit sich. Doch wie sooft, darf alles möglichst nichts kosten, wenn eine institutionelle Öffnung erfolgt. Dennoch: Die prinzipielle Bereitschaft ist erst mal da.

Es gibt schon ein Kostenlimit?

Mehmet Toker: Der Kostenfaktor spielt immer eine Rolle. Da kommen wir an einen wichtigen Punkt. Es wird oft von den Mitarbeitern mit Migrationshintergrund verlangt, selber tätig zu werden aus einem Eigenengagement heraus. Dass sie etwas leisten, weil sie es eben wichtig finden. Doch dieses Engagement muss auch honoriert werden, sei es nun finanziell oder sei es nur im Rahmen von Freistellungen oder besonderen Förderungsmaßnahmen.

Seitens der Institution ist offenbar ein Bewusstsein dafür da, dass interkulturelle Arbeit Sinn macht?

Mehmet Toker: Die Bereitschaft ist da, aber wenn man von wirklicher interkultureller Kompetenz der Mitarbeiter sprechen möchte, dann sind wir vom Ziel noch weit entfernt.

Was ist das eigentlich, interkulturelle Kompetenz?

Ali Kemal Gün: Ich sage jetzt ein paar Worte, und wenn man die mit Inhalt füllt, dann hat man interkulturelle Kompetenz definiert. Also, interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit zu Offenheit, Kulturwissen, Neugier, also die Fähigkeit, eine Grundhaltung zu entwickeln, die sich durch Offenheit, durch Neugierde, kultursensible Kommunikation, Vermeidung von Stereotypen, Selbstreflexion, Achtung, Wertschätzung, Flexibilität, Konfliktfähigkeit, Anerkennung von Vielfalt auszeichnet. Das heißt, weg von Ethnozentrismus hin dazu, tragfähige Beziehung und Kommunikation aufbauen zu können, nicht zuletzt also Ambiguitätstoleranz. Dadurch definiert sich für mich interkulturelle Kompetenz. Alle therapeutischen Ansätze bauen eigentlich darauf auf. Das scheint aber im Laufe der Jahre irgendwie abhanden gekommen zu sein. Solche grundlegenden Ansätze werden in der Arbeit mit den Migranten außer acht gelassen oder kommen nicht zum Zuge. Und so gesehen ist interkulturelle Kompetenz noch ein Mangel bei vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Da müssen wir investieren, sehr viel investieren. Es besteht ein enormer Nachholbedarf.

Mehmet Toker: Interkulturelle Kompetenz ist nicht angeboren und wird auch nicht gelehrt. Diese Kompetenz wird hauptsächlich im Kontakt mit Kollegen in ähnlichen Situationen erworben. Für Psychotherapeuten ist es ja eigentlich selbstverständlich, dass sie versuchen, Eingang in das Bezugssystem ihres Patienten zu finden, und da werden natürlich z. B. auch sozioökonomische Faktoren berücksichtigt. Warum dann aber nicht ebenso auch ethnische, religiöse und kulturelle? Wichtig ist die Gratwanderung zwischen Verallgemeinerung und Besonderheit. Sind denn alle Menschen gleich und ist Ödipus gleich Ödipus, egal in welcher Kultur? In einer gleichmacherischen Haltung gehen die ethnisch-kulturellen Besonderheiten unter.

Die besonderen Biografien von Zuwanderern mit ihrer oft mehrgenerationalen Migrationsgeschichte finden eben nicht genügend Berücksichtigung, und das wird dann unter den Tisch gekehrt. Das andere Extrem ist die Überbetonung dieser kulturellen Merkmale, dass man z. B. anfängt, viele Dinge zu umschönen, so in der Art, ja bei denen ist das halt so in deren Kultur, also dann dürfen die das. Und das wird dann nicht weiter hinterfragt. Gerade für jemanden, der aus derselben Kultur stammt, ist es immer eine Gratwanderung, genau zu entscheiden, wo gehen wir denn jetzt hin, in welche Richtung. Gehen wir in eine zu große Entschuldigung oder gehen wir in eine zu große Ignoranz bestimmten Besonderheiten gegenüber. Und diese Kompetenz kann nur durch gute supervisorische Arbeit erworben werden.

Fühlen Sie sich als Psychotherapeuten mit türkischem Hintergrund unterstützt von den deutschen Psychotherapeuten? Oder fühlen Sie sich da auch alleinegelassen? Denn es ist ja offenbar nicht nur eine Frage der Integration der Patienten mit ihren Belangen, sondern auch eine Frage der Integration der Kolleginnen und Kollegen?

Ali Kemal Gün: Ich versorge meine regulären Stationen und da habe ich deutsche wie Migrantenpatienten, in der Regel viele Migrantenpatienten aus dem Kulturbereich, aus dem ich komme. Die Kolleginnen und Kollegen unterstützen mich natürlich sehr. Aber ich fühle mich oft allein gelassen, nicht bewusst, weil man mich allein lassen möchte, sondern in der Art und Weise, wie die Kolleginnen und Kollegen mit den Fällen umgehen. Ich möchte ein Beispiel geben: Ich habe eine Patientin, die aus einer traditionell religiösen Familie kommt. Nach einer suizidalen Krise ist sie zu uns gekommen. Die Familie ist absolut dagegen und spricht ganz klare Drohungen aus, weil diese Patientin einen deutschen Mann heiraten möchte. Sie ist seit über fünf Wochen bei uns und ich brauche noch Zeit. Was habe ich gemacht? Ich habe mit den Eltern gesprochen, ich habe mit den Geschwistern gesprochen, ich habe versucht, Splitting zu betreiben und ich habe versucht und versuche es mit Splitting bei den Bekannten bzw. Verwandten in der Türkei. Warum? Um bei der Familie eine Dynamik zu erwirken, dass sie doch einlenken. Was sagt dann meine Kollegin? Sie sagt, so traditionell ist sie doch gar nicht. Warum, frage ich, woher weißt du, dass sie nicht so traditionell ist? Sie hat ja kein Kopftuch! Also wenn sie kein Kopftuch hat und sich gut schminkt und relativ offen ist, dann ist sie nicht so traditionell – damit reduziert meine Kollegin die traditionelle Geprägtheit auf das Kopftuchtragen. Man drängt mich jetzt, die Patientin zu entlassen, obwohl ich auf einem guten Weg, aber noch nicht am Ziel bin. Ich fühle mich bei solchen Problemen nicht verstanden, und das von vielen.

Es gehört also auch dazu, dass wir uns im interkollegialen Austausch über die kulturellen Besonderheiten informieren müssen?

Ali Kemal Gün: Genau darauf will ich hinaus. Ich erlebe in der Tat tagtäglich, dass sie entweder die kulturellen Besonderheiten, die sie wahrnehmen müssten, nicht wahrnehmen, oder sie sagen dann, es gebe überhaupt keine Unterschiede. Oder wo Unterschiede, also Besonderheiten sind, werden diese verleugnet. Zwischen Übertreibung und Heruntersetzung, zwischen Überbetonung oder Verleugnung, zwischen diesen beiden Polen bewegt man sich und beide sind meines Erachtens nicht richtig.

Es ist also notwendig, in der Arbeit mit den Patienten wie auch im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen die kulturellen Unterschiede zur Kenntnis zu nehmen. Aber gibt es denn so große Unterschiede zwischen türkischen, spanischen, chinesischen und deutschen Patienten?

Ali Kemal Gün: Herr Senf, ich habe in meiner wissenschaftlichen Arbeit diese Gleichheitsmaxime herausgearbeitet und mich gegen die Maxime gestellt, wir müssten alle Patienten gleich behandeln. Wenn man Ungleich mit Gleich behandelt, dann hat man ungleich behandelt. Man muss die Ungleichheit wahrnehmen und individuell behandeln.

Herr Toker, wie ist das in der Arbeit mit Kindern, mit Jugendlichen und mit Familien? Gilt das auch für die Kleinen? Denn ich stelle mir doch noch einen Unterschied vor, ob ich im interkulturellen Kontext mit Erwachsenen oder ob ich mit Kindern arbeite?

Mehmet Toker: Ja, natürlich. Also ich erlebe das mit Kindern und Jugendlichen immer wieder sehr deutlich, dass sie einen ganz diffusen Bezug auf ihre Herkunftskulturen nehmen, vor allem dann, wenn es im Leben nicht so gut läuft und sie sich dadurch eine Stabilisierung erhoffen, z. B. im schulischen Bereich. Also einen sicheren Ort zu finden, obwohl sie keinen richtigen Begriff dafür haben. Es ist ein Spezifikum gerade für Migrantenkinder, dass sie einen Ort für sich suchen, aber diesen Ort nicht so recht finden können.

Wir kennen das auch aus den gesellschaftlichen Diskussionen um Bildungspolitik, Bildungsbenachteiligung usw. Kinder erfahren ja schon im Kindergarten, spätestens dann in der Grundschule, dass sie eher nicht auf höhere weiterbildende Schulen gehen werden, dass stattdessen die Tendenz besteht, sie auf Förderschulen zu schicken. Es wird dann begründet mit mangelnden Sprachkenntnissen, was häufig auch der Fall ist, aber nichts über das Förderpotenzial eines Kindes aussagt. Dann passiert oft ein Rückzug auf die Herkunftskultur und dadurch wird das halbsprachige Analphabetentum in beiden Sprachen gefördert. Wenn sehr viel auf die Herkunftskultur bezogen wird, dann findet psychologisch eine Abgrenzung statt. Ich erfahre immer wieder, auch von den deutschen Jugendlichen oder Kindern, wenn sie mir vom schulischen Alltag berichten, wie sehr die türkischen Kinder und die deutschen Kinder in jeweils eigenen ethnisch definierten Gruppen sind. Dass da kaum Überschneidungen mit den anderen (ethnischen) Gruppen stattfinden.

Es hört nicht einfach damit auf, dass die, die hier geboren sind, kein Sprachproblem hätten oder dass sie in der Masse schon automatisch mitschwimmen und dann aufgesogen würden. Nein, sie behalten ihre Besonderheiten. Eine dieser Besonderheiten ist auch das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern, sei es nun hinsichtlich des Beziehungsstils der Eltern, sei es hinsichtlich der Rollenbeziehung in den Familien. Das ist ausgesprochen kulturspezifisch. Jetzt muss man aber nicht denken, dass das Herkunftsland und die Herkunftskultur etwas wäre, wohin ich gerne noch einmal zurückgehen möchte. Und was Herr Gün gesagt hat: Man darf auch nicht denken, dass dadurch, dass ich z. B. türkischsprachig bin und mich schon seit Jahren mit Familien aus der Türkei beschäftige, auch wissenschaftlich beschäftige, dass ich auf jede Frage eine Antwort hätte, was in türkischen Familien los ist. Diese Antworten werden von mir verlangt, von den Kollegen, wenn sie selber mit solchen Familien zu tun haben. Es wird ein erhöhtes Expertenwissen dann auch abgefordert, wo es einfach unheimlich schwer ist, weil eben auch der Türke halt nicht „der Türke” ist. Es gibt den Westtürken, den Südtürken, den Osttürken, es gibt da so viele verschiedene Kulturen, die als solche schon schwer zu verstehen sind. Auch ich muss mir da jedes Mal das Verständnis neu erarbeiten.

Der Gleichheitsmythos wird da nochmals gebrochen.

Ali Kemal Gün: Ja, das ist so, wie Herr Toker das sagt. Ein Kollege von uns hat gesagt: Migranten-Fragen, Ali fragen! Aber ich kann natürlich nicht alle Fragen beantworten. Man erwartet, wenn man Fachpersonal mit Migrationshintergrund einstellt, dass das dann in allen Fragen kompetent ist. Diese interkulturelle Kompetenz müssen auch wir uns erst erwerben. Nicht jeder aus der Türkei Kommende kennt sich mit allen strukturellen Begebenheiten dieser Gesellschaft aus. Die Bedeutung der Familienkohäsion ist zwar eine spezifische Ressource, verlangt aber auch mehr Aufwand. Bringe ich diesen Aufwand auf, baue ich ihn in mein Setting ein, stoße ich auf Gegenwind seitens der KollegInnen bzw. Vorgesetzten. Man sagt dann, du verwendest viel Zeit mit der Familie bzw. Angehörigen. Der Patient ist doch für uns wichtig, nicht die Familie bzw. die Angehörigen.

Wenn man sich in seiner kulturellen Besonderheit missverstanden fühlt, dann ziehen sich die Betroffenen auf ihre ursprüngliche Kultur zurück?

Ali Kemal Gün: Wenn man sich nicht akzeptiert, angenommen und verstanden fühlt, dann zieht man sich auf die Herkunftskultur – auch als haltgebenden Faktor – zurück und bezieht sich mehr und mehr darauf. Das gilt natürlich besonders für psychisch Kranke. Dafür gibt es viele Beispiele. Viele psychisch Kranke oder z. B. Drogenabhängige lassen sich in den Herkunftsländern behandeln. Wenn wir die Kollegen in der Türkei fragen, was sagen denn die Patienten, warum kommen sie zu Euch? Die sagen also fast einheitlich, ich fühle mich in Deutschland nicht verstanden.

Obwohl hier geboren und hier aufgewachsen?

Ali Kemal Gün: Ja, auch das ist ein Ergebnis meiner Arbeit und der Untersuchung, die ich gemacht habe: Wenn es in der Therapie so weit kommt, dass der deutsche Therapeut den Finger auf die Wunde legt, also den Kern des Problems anstößt, dann wird es unangenehm, und der Patient wechselt den Therapeuten, geht woanders hin. Er sagt dann, der Therapeut versteht mich halt nicht. Aber das Interessante dabei ist, dass der deutsche Therapeut auch sagt, ich verstehe den Patienten nicht. Also die einigen sich darauf, dass sie sich nicht verstehen können. Die Patienten gehen dann in die Türkei und sagen, die deutschen Therapeuten verstehen mich nicht. Der deutsche Therapeut fragt sich aber nicht, was mache ich falsch, was sehe ich nicht, was übersehe ich.

Was man beim deutschen Patienten vielleicht machen würde!

Ali Kemal Gün: Ja, genau. Teilweise haben wir wirklich Leute, die sehr gut deutsch sprechen, auch intellektuell weitsichtig sind, akademischen Hintergrund haben, die dennoch sagen, ich möchte lieber einen Therapeuten aus meinem Herkunftsland haben. Ein Patient hat mir in einem Interview gesagt: Ich habe keine Lust mehr, meinem deutschen Therapeuten zu erklären, dass ich kein Pascha bin, nur weil ich aus der Türkei komme.

Es geht dann um Vorurteile? Spielt doch ein interkulturelles Vorurteil eine große Rolle?

Ali Kemal Gün: Ja, aber wir haben halt unsere Vorurteile, das ist normal. Die Frage ist, wie gehen wir damit um. Wie revidiert man das?

Es ist besser, das explizit zu machen?

Ali Kemal Gün: Ganz genau, das explizit zu machen. Die interkulturelle Überschneidungssituation bietet ja gerade die Möglichkeit, das explizit zu machen und aufzuarbeiten, indem ich sage, die Deutschen sind blöd, die Deutschen sind ausländerfeindlich. Ich komme damit zu Ihnen, Herr Senf, weil sie mein Therapeut sind, also projiziere ich auch das auf Sie. Sie sind dann meine Projektionsfigur für die typisch Deutschen und ich thematisiere das. Sie haben dann als Therapeut die Möglichkeiten, meine Projektion bzw. Projektionen in dem therapeutischen Prozess mit mir aufzuarbeiten. Der interkulturelle Überschneidungskontext bietet also eine gute Gelegenheit, meine – u. a. migrationsbedingten – Probleme aufzuarbeiten. Dafür ist selbstverständlich eine auf einer Vertrauensbasis basierende, tragfähige therapeutische Bindung notwendig. Darin liegt die therapeutische Kunst.

Das ist schon eine sehr hohe Anforderung, dass wir uns in der Therapie unseren Vorurteilen stellen und diese miteinander klären?

Ali Kemal Gün: Das ist das, was der Therapeut machen muss. Ich habe eben von interkultureller Kompetenz gesprochen. Der Therapeut muss immer in den Spiegel gucken können. Also Reflexionsfähigkeit haben, sich fragen, was hat das mit mir zu tun, warum projiziert der Patient jetzt auf mich und wo habe ich mein inneres Ausland, meine innere Fremde sozusagen. Und womit hat das eigentlich zu tun. Er muss sich damit beschäftigen. Das ist eine Möglichkeit auch für den Therapeuten, sich mit sich selber zu beschäftigen und sich weiterzuentwickeln. Und das bietet die interkulturelle Überzeugungsarbeit.

Sie haben sich vorhin gegen den Gleichheitsmythos gewendet. Woher kommen die Unterschiede? Hat es auch damit zu tun, dass die innere Beziehungswelt zu den Eltern unterschiedlich ist bei türkischen, deutschen oder chinesischen Kindern in deren Entwicklung? Gibt es da einfach unterschiedliche Objektrepräsentanzen?

Mehmet Toker: Ich weiß gar nicht, ob man das so sagen darf, denn Objektrepräsentanzen haben ja auch mit realen Figuren zu tun, die uns begegnen. Die Familien unterscheiden sich eben in den Strukturen, und auch die Vater- und Mutterpersönlichkeiten unterscheiden sich.

Wirkt sich das nicht doch aus, wenn man in einem mehr kollektivistischen kulturellen Kontext aufwächst entgegen dem mehr individualistischen der deutschen Gesellschaft?

Mehmet Toker: Ich lebe zurzeit in einem Dorf in der Nähe von Münster, und ich erlebe dort eine ganze Menge Kollektivismus. Das heißt, wenn ich mir die dörflichen Strukturen anschaue, so wie die Menschen miteinander umgehen, wie die auch ihre Eltern unterstützen, wie auch die Positionen untereinander sind, dann stimmt das schon wieder nur zum Teil mit der individualistischen Gesellschaft in Deutschland. Es stimmt wohl, wir Türken haben natürlich ausgeprägtere kollektivistische Strukturen, also der Bezug zu und die Bedeutung der Familie sind ganz andere. Und die Position des Einzelnen ist auch eine ganz andere. Es kommt noch ein zweiter Umstand hinzu, dass nicht nur die Position der Familie, sondern gerade durch die Migration auch die Position des Einzelnen zu seiner Ethnie eine ganz besondere ist. Wenn etwa ein arabisches Mädchen von zu Hause weg möchte mit 16 oder 17 Jahren, den Kontakt zu den Eltern kappen möchte, dann muss ich wissen: Wenn ich das unterstützen würde, würde ich auch gleichzeitig unterstützen, dass sie wahrscheinlich nie wieder in der arabischen Ethnie ankommen wird, obwohl sie es irgendwann einmal vielleicht möchte. Wenn sie einmal einen arabischen Mann heiraten möchte, der wird sie fragen: Was ist mit deiner Familie? Der wird die Familie mit einbeziehen wollen, weil seine Familie das will. Die Familien heiraten. Und in dem Kontext stimmt das schon, die Migration zwingt uns auch manche Fessel oder zusätzliche Überlegung auf.

Gilt das auch für die jungen Männer? Ich meine zu wissen, dass der älteste Sohn in der türkischen Familie traditionell für die Mutter eine besondere Bedeutung hat, vor allem dann, wenn der Vater stirbt.

Ali Kemal Gün: Der ältere verheiratete Sohn ist in der Familienhierarchie an zweiter Stelle. Wenn ich über traditionell türkische Familie spreche und verallgemeinere, dann kann ich von klar festgelegten innerfamiliären Beziehungsmustern sprechen. Der Vater ist an oberster Stelle, an zweiter Stelle kommt der älteste verheiratete Sohn und wenn er nicht da ist, dann kommt die Mutter und dann kommen die unverheirateten Töchter usw. Und die neuverheiratete Frau, die Gelin heißt, die wird sich ihre Stellung erst mit Kindern erarbeiten, indem sie vor allem Söhne auf die Welt bringt. Wovon reden wir? Von den aus der Agrargesellschaft stammenden Strukturen, von aus Dorfstrukturen stammenden Menschen. Sie haben das schon zu Recht gesagt, in der Türkei gilt das auch so. Die Türkei zählt zu kollektivistischen Gesellschaften und darauf sollte man Rücksicht nehmen, wenn wir mit diesen Menschen arbeiten. Die zwischenmenschliche Beziehungsstruktur bei der traditionell orientierten Familie ist eigentlich klar festgelegt: hierarchisch und patriarchalisch, geschlechts- und generationsspezifisch. Wenn wir uns dieser Strukturen nicht bewusst sind, dann tappen wir im Dunkeln.

Man muss das wissen? Interkulturelle Kompetenz heißt dann auch, die Besonderheiten wahrzunehmen und zu respektieren, was nicht heißen muss, dass man sie wie ein Gesetz festschreibt. Aus meiner Sicht ist es doch eine enorme Anforderung an den Migranten, sich mit seinen kulturellen Besonderheiten so zu arrangieren, dass er nicht seinen Heimatboden verliert und zugleich in der Gesellschaft ankommt.

Mehmet Toker: Ich darf mal kurz unterbrechen. Da ist diese Positionierung in der Gruppe, was wir Segregation nennen, d. h. ethnisch gesehen ein Selbstbezug. Da gibt es viele, die kleine Familienbetriebe haben. Das ist so lange o. k., bis sich dann Widersprüche mit dem gesellschaftlichen Vorankommen ergeben, für den Einzelnen oder für seine Familie. Wir haben inzwischen sehr viele Eltern, die bewusst in Stadtviertel ziehen, wo kaum Türken sind, damit ihre Kinder auf eine Schule kommen, wo viele Deutsche sind und sie dort wenigstens Deutsch lernen können. Also ein Versuch, aus dieser Segregation herauszukommen, weil sie nicht mehr als Ressource erlebt wird, sondern als ein Hemmschuh. Aber diese Familien gehen dann ganz bestimmte Risiken ein, gehen einen ganz bestimmten Stress ein, der dann natürlich zur Depression und anderen Sachen führen kann, weil sie sich dann plötzlich so alleingelassen fühlen in diesem neuen Wohnumfeld, wo sie dann komisch angeguckt werden. Aber auch das muss im Grund genommen sehr offen angeschaut werden, da muss man sich wirklich heranarbeiten, was macht ihr da, in welche Richtung geht ihr, in welche Richtung wollt ihr gehen. Aus der Segregation heraus, Beginn einer mehr integrativen Position, dass man sich eben in verschiedenen Gesellschaften auskennt?

Wenn man zu sehr in der Segregation verharrt, dann kann es passieren, dass nachfolgende Generationen Probleme bekommen, wo eben Werte usw. sehr brüchig werden, nicht mehr richtig gelebt werden können, weil sie nicht mehr funktional, ja nicht einmal mehr verständlich sind, weil sie einfach nur noch da sind. Aber wofür eigentlich? Sie werden nicht mehr mit Inhalt gefüllt, und die Jugendlichen suchen sich dann andere Werte.

Segregation wie Integration hat Risiken für den Migranten. Ist interkulturelle Kompetenz sozusagen die Kunst zu akzeptieren, dass wir zwar alle gleich, aber doch wieder sehr verschieden sind? Und dass wir wechselseitig Respekt entwickeln müssen?

Ali Kemal Gün: Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit zu Neugierde, Wertschätzung und Infragestellen der eigenen Werte und Normen. Wir sind uns aber unserer eigenen Gegenübertragungen oft nicht bewusst. Als Therapeuten haben wir auch unsere Projektionsmechanismen, wir projizieren auch auf unser Gegenüber. Wir versuchen auch – bewusst oder unbewusst – unsere Normen und Werte den Patienten aufzuerlegen. Für mich ist nicht so sehr wichtig, ob ich den kulturellen Zusammenhang des Phänomens, das mir berichtet wird, verstehe oder nicht. Ich muss nur neugierig sein und fragen, fragen, fragen, nachfragen, was bedeutet das für mein Gegenüber, was bedeutet das für meinen Patienten. Das ist wichtig. Ich komme aus Köln, dort leben 150 Nationalitäten. Es ist unmöglich, über 150 Nationalitäten Wissen zu erwerben, obwohl es auch wichtig ist. Ich muss nicht alle Kulturen verstehen, aber ich muss offen sein, ich muss wertschätzend sein. Wenn ich in der Therapie diese Grundhaltung nicht habe, dann kann ich meinen Patienten auch nicht verstehen. Es ist mir nicht wichtig zu wissen, was dieses Phänomen z. B. in einer afrikanischen Kultur bedeutet. Wenn ich aber frage, was bedeutet das für Sie, also meinen Patienten, welche Bedeutung messen Sie diesem Phänomen bei, dann kann ich das entsprechend verarbeiten.

Herr Gün und Herr Toker, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.

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