Der Klinikarzt 2010; 39(9): 380-381
DOI: 10.1055/s-0030-1267425
Medizin & Management

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Schlichten statt richten – Fehler in der Medizin

Bundesärztekammer stellt Behandlungsfehler-Statistik 2009 vor
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Publication Date:
04 October 2010 (online)

 
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Die bei den Landesärztekammern eingerichteten Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen für Arzthaftungsstreitigkeiten haben im vergangenen Jahr 7 424 Anträge zu mutmaßlichen Behandlungsfehlern bearbeitet; davon wurde in 1 771 Fällen von den Gutachtern ein Behandlungsfehler bejaht. In Berlin hat die Bundesärztekammer (BÄK) jetzt zum dritten Mal in Folge die bundesweite Behandlungsfehler-Statistik der Öffentlichkeit vorgestellt. Dabei beschränkt sich die Bundesstatistik nicht auf nackte Zahlen wie geltend gemachte Ansprüche und Entscheidungen, sondern nennt auch Art und Häufigkeit sowie die Verteilung der Behandlungsfehler auf die einzelnen Fachgebiete und Behandlungseinrichtungen.

2009 wurden insgesamt 10 972 Begutachtungsanträge zu mutmaßlichen Behandlungsfehlern bei den Schiedsstellen eingereicht. Das sind 0,05 % mehr als im Jahr 2008; womit die Gesamtzahl der Anträge nahezu konstant geblieben ist. Die Zahl der erledigten, unter einem Aktenzeichen geprüften Anträge hat allerdings um 5,22 % zugenommen und die der Sachentscheidungen, d. h. der gutachterlichen Bescheide nach medizinischer Überprüfung, ist um gut 4 % gestiegen (Tab. [1]).

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Tab. 1 Eingereichte Begutachtungsanträge zu mutmaßlichen Behandlungsfehlern von 2008–2009.

Rund einem Drittel der Anträge wurde schon im Vorfeld aus formalen Gründen (verstrichene Antragsfrist, Nichtzuständigkeit der Schiedsstelle oder Antragsrücknahme) abgeschlossen. Übrig blieben 7 424 Fälle, in denen es zu einer Sachentscheidung kam. Während bei 5 240 Entscheidungen keine ärztliche Fehlbehandlung erkannt werden konnte, lag in 2 184 Fällen tatsächlich ein Behandlungsfehler oder ein Risikoaufklärungsmangel vor. 413 Fälle davon waren Fehler ohne kausale Auswirkungen. Aber in 1 771 Fällen kamen die Gutachter zu dem Schluss, dass ursächlich für den Schaden eine fehlerhafte ärztliche Behandlung war und der Patient einen Anspruch auf Entschädigung hat. Dies waren zwar überwiegend Bagatellschäden (55) oder passagere leichte/mittlere Schäden (691); aber es kam auch zu Todesfällen (91) und schweren Dauerschäden (173).

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Häufigkeiten und Ursachen der Behandlungsfehler

Am häufigsten (über 70 %) wurden Anträge gegen Ärzte im Krankenhausbereich gestellt (Tab. [2]). Von den 6 002 Sachentscheidungen musste in 1 539 Fällen ein Behandlungsfehler oder Risikoaufklärungsmangel bejaht werden (Tab. [3]). Als häufigste Fachgruppe waren - sowohl in der Praxis als auch im Krankenhausbereich - die Fachgebiete Unfallchirurgie/Orthopädie betroffen. An zweiter Stelle standen im Praxisbereich die hausärztlich tätigen Ärzte und im Klinikbereich die Allgemeinchirurgen.

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Tab. 2 Antragsgegner bei Sachentscheidungen.

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Tab. 3 Behandlungsfehler nach Behandlungsort.

Wie in den Vorjahren waren unter den 10 häufigsten Diagnosen, die zu Behandlungsfehlervorwürfen führten, Hüft- und Kniegelenkarthrosen sowie Unterarm-, Unterschenkel- und Sprunggelenkfrakturen (Tab. [4]).

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Tab. 4 Die häufigsten Einzeldiagnosen, bei denen Behandlungsfehler festgestellt wurden.

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Schlichten besser als richten

Sukzessive haben die Landesärztekammern seit 1975 begonnen, Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen als unabhängige Gremien an den Kammern zu errichten. Die sind inzwischen als anerkannte außergerichtliche Institutionen zur Streitschlichtung etabliert; in 90 % der Fälle, das haben interne Qualitätskontrollen gezeigt, wurden die Entscheidungen von beiden Parteien angenommen. Konnte der Streit nicht durch die Kommission beigelegt werden und es wurde doch noch der Rechtsweg beschritten, bestätigten die Gerichte die Gutachtenergebnisse der Kommissionen in überwiegender Zahl. Heute werden gut ein Viertel aller Arzthaftungsfälle durch diese Gremien außergerichtlich bewertet und die Arbeit der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen stößt bei Patienten und Ärzten auf eine hohe Akzeptanz. Zunehmend bedienen sich auch die Rechtsanwälte dieser Möglichkeit des ersten, für ihren Mandanten kostenfreien und relativ unbürokratischen Schrittes zur Untersuchung eines eventuellen Behandlungsfehlers.

Die mit Abstand größte Instanz für Arzthaftungsstreitigkeiten ist die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern. Die in Hannover ansässige Einrichtung ist für die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen zuständig. Seit 1976 haben sich mehr als 81 000 Patienten an diese außergerichtliche Plattform zur Klärung von Arzthaftungsstreitigkeiten gewandt. 2008 wurde die Norddeutsche Schlichtungsstelle von der TÜV NORD CERT GmbH mit dem Zertifikat für das Managementsystem nach DIN EN ISO 9001:2000 ausgezeichnet. Für den Geschäftsführer Rechtsanwalt Johann Neu ist die "Qualität für unsere Schlichtungsstelle oberstes Gebot". Die Maxime sei eine objektive, kompetente, am aktuellen ärztlichen Standard und der jeweils neuesten Arzthaftungsrechtsprechung orientierte Arbeit.

Ein solches Qualitätsmerkmal ist auch der Zeitraum, in dem ein Verfahren abgewickelt wird. Die Kommissionen sind bemüht, die Verfahren in einem überschaubaren Zeitraum von z. B. einem Jahr zu Ende zu bringen. Das hängt aber von der zügigen und disziplinierten Mitwirkung aller Beteiligten ab. Der Gutachterkommission von Westfalen-Lippe - eine der großen Schlichtungsstellen in Deutschland - ist das 2009 bei fast zwei Drittel der Fälle gelungen. Dauern die Verfahren länger, liegt das in erster Linie an einer unzureichenden Vorbereitung der Antragsteller, aber auch an der stärker werdenden beruflichen Inanspruchnahme der Gutachter.

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Einzigartige Datensammlung

Seit 1979 werden die Daten der Schiedsstellen systematisch bundesweit erfasst und zusammengeführt. Lange beschränkte man sich bei der statistischen Erhebung lediglich auf die Anzahl der geltend gemachten Ansprüche und Entscheidungen, die allerdings keine konkreten Aussagen zum Inhalt der erhobenen Anträge erlaubte. Deshalb entschied die Ständige Konferenz der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen, die genauen Daten zu Art und Häufigkeit ärztlicher Behandlungsfehler nach bundeseinheitlichen Parametern mittels eines elektronischen Statistikbogens zu erfassen.

Mithilfe des Medical Error Reporting Systems (MERS) werden die Daten nun seit 2006 EDV-gestützt erfasst, zusammengeführt und wurden in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge veröffentlicht. Damit sind die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern die einzigen Einrichtungen im Gesundheitswesen, die genaue Daten zu Art und Häufigkeit ärztlicher Behandlungsfehler erfassen. Als Anfang des Jahres der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller, ein einheitliches Behandlungsfehlermelderegister forderte, konnte die Ärzteschaft mit dem Medical Error Reporting System - MERS - kontern.

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Bild: Thieme Verlagsgruppe, Fotograf/Grafiker: Alexander Fischer

Die Bundesstatistik informiert nicht nur über die wesentlichen Zahlen wie Antrags- und Erledigungszahlen oder Zahl der festgestellten Behandlungsfehler, sondern klärt auch über qualitative Aspekte wie Art, Häufigkeit und Verteilung der Behandlungsfehler auf die medizinischen Fachgebiete und Behandlungseinrichtungen auf. Neben dem Hauptziel der Kommissionen, eine möglichst hohe Befriedungsfunktion zu erreichen, ist es Ziel der Statistik, Fehlerhäufigkeiten zu erkennen und Fehlerursachen auszuwerten. Dank der durch die Begutachtungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse lassen sich gezielt Strategien zur Fehlervermeidung entwickeln.

So wurde bei der diesjährigen Präsentation von Prof. Dr. Walter Schaffartzik, Ärztlicher Leiter des Unfallkrankenhauses Berlin, der Fokus auf die Pharmakotherapie gelegt. 27 Todesfälle seien in den vergangenen 9 Jahren im Bereich der norddeutschen Schlichtungsstellen auf Fehler bei der Anwendung zum Teil hochwirksamer Medikamente zurückzuführen. In den Jahren 2000-2009 ist es bei dem Vorwurf eines Medikationsfehlers zu 26 473 Sachentscheidungen gekommen: in 2610 Fällen wurde ein Schaden festgestellt, in 311 Fällen ein kausaler Fehler. Mit der Differenzierung solcher Daten lassen sich Strategien zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit entwickeln. Beispielsweise auf der Intensivstation mit einem Farbkodierungssystem, das Verwechselungen bei der Pharmakotherapie weitgehend vermeidet.

Anne Marie Feldkamp, Bochum

 
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Tab. 1 Eingereichte Begutachtungsanträge zu mutmaßlichen Behandlungsfehlern von 2008–2009.

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Tab. 2 Antragsgegner bei Sachentscheidungen.

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Tab. 3 Behandlungsfehler nach Behandlungsort.

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Tab. 4 Die häufigsten Einzeldiagnosen, bei denen Behandlungsfehler festgestellt wurden.

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Bild: Thieme Verlagsgruppe, Fotograf/Grafiker: Alexander Fischer